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Message 00366 [Homepage] [Navigation]
Thread: choxT00366 Message: 1/1 L0 [In date index] [In thread index]
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[chox] Fragerunde



Eine Fragerunde über Krise und Zusammenbruch

Das Folgende präsentiert unsere Auffassung über Krise und Zusammenbruch in
Form eines fiktiven Interviews. Die Fragenden seien in unterschiedlichen
gesellschaftskritischen Zirkeln sozialisierte Menschen, die einiges über die
Zusammenbruchstheorie der "Krisis" gehört und gelesen haben, deren Vorbehalte sich
aber nicht ausräumen ließen. Der Antwortende ist der Krisentheoretiker.



Frage: Ihr tretet mit der steilen These an, dass es immer weniger Arbeit
gibt. Was unterscheidet euch eigentlich vom schnarchnasigen Ex-Wirtschaftsweisen
Horst Siebert, der 1994 die Frage aufwarf: "Geht den Deutschen die Arbeit
aus?"

Siebert findet Arbeit Klasse. Wir finden Arbeit Scheiße. Er macht sich
Sorgen um den Bestand des von ihm gepriesenen Systems und fühlt, dass zu diesem
die Arbeit eine innige Beziehung hat. Da spielen neo-keynesianische Erwägungen
eine Rolle (also das Problem, dass das Geld, mit dem die Leute den
Kapitalreichtum mehren sollen, irgendwo herkommen muss), aber auch die Angst, dass die
unnützen Massen auf dumme Gedanken kommen könnten. Im Übrigen ist der Siebert
so begriffslos wie die Freiburger "Ideologiekritik", denn für ihn ist alles,
was gegen Geld getan wird, wertschaffende Arbeit, was Blödsinn ist. Er ist
begriffslos, weil er weder weiß, was Arbeit überhaupt, noch gar was produktive
Arbeit ist.

Frage: Wer will schon festlegen, was produktiv und unproduktiv ist, der
Kapitalismus schert sich um eure Unterteilung überhaupt nicht! Ganz davon
abgesehen, dass "produktiv" verdammt hässlich nach einem Lob des guten Schaffens
gegen das unproduktive Rumhängen klingt. Solange jemand was herstellt, wofür ein
anderer was bezahlen will und kann, solange läuft diese Wertgesellschaft
weiter. Ich habe das Gefühl, euch dient "produktive Arbeit" als Ausrede dafür,
einen Rückzieher machen zu können, wenn das mit eurer Krise nicht klappt.

Kapitalismus heisst Kapitalgesellschaft und das heisst Bewegung, Kreislauf:
G-W-G´. Das G eines neuen Kreislaufs muss das G´ des vorherigen sein –
sonst stockt der Kreislauf, d. h. die Verwertung. Nur diejenigen Kapitalgüter
und diejenige Arbeitskraft haben das Recht, ersetzt zu werden, die im
vorigen Kreislauf an der G-Produktion teilgenommen haben, Kapitalgüter und
Arbeitskraft können nur insoweit vermehrt eingesetzt werden, wie der Mehrwert des
vorherigen Umlaufes reicht. Eine Ausdehnung darüber hinaus mag erlaubt sein, ist
aber immer prekär und muss zu Krisen führen. Das ist alles, was "produktive
Arbeit" sagen will. – 
Zum zweiten Punkt: Wenn wir uns zwischen "produktiver Arbeit" und
"Rumhängen" entscheiden könnten, sind wir selbstverständlich fürs Rumhängen. 
Zum letzten Punkt: Nein, das ist keine Ausrede, sondern die einfache
Einsicht, dass Kapitalismus nie eine Gesellschaft werden kann, in der alle
Kaufmannsladen spielen, wir uns also gegenseitig Hamburger und Pauschalreisen
verkaufen, ohne zu wissen wo das Zeug herkommt. 
Zusammengefasst: Produktive Arbeit ist die Arbeit, die den Kreislauf G-W-G´
am Leben hält. Ja, diese Definition ist zirkulär, so zirkulär und
widersprüchlich wie die Existenz des Kapitals selbst, d. h. ist diesem und seiner
Gesellschaft also die einzig angemessene.

Frage: Marxisten haben schon vor euch jahrzehntelang aus dem Fall der
Profitrate den ultimativen Untergang diagnostiziert. Na und, ist er gekommen?

Die Profitrate als Verhältnis von Profit (dem Wesen nach: Mehrwert) und
eingesetztem Gesamtkapital ist das Maß der Verwertung, Maß also für die Höhe, in
der eingesetztes Kapital Wert heckt. Dieses Maß setzt voraus, dass es
Wertsubstanz überhaupt gibt. Ob die Profitrate nun 10, 1 oder 0,1% ausmacht, ist
völlig gleichgültig. In der heutigen Zeit geht die Wertmasse selbst verloren,
produktive menschliche Arbeit wird durch die Verwissenschaftlichung der
Produktion im Zuge der mikroelektronischen Revolution absolut eingespart; das Maß
"Profitrate" verliert also seinen Halt dadurch, dass die Wert- und damit auch
die Profitmasse fällt. In jeder Einzelware "steckt" also nur noch eine winzige
Dosis "Wert". Kompensieren ließe sich dies nur durch die komplette
Überschwemmung der Welt mit Waren, die den sofortigen Kollaps des Ökosystems auslösen
würde bzw. durch die Schaffung neuer Produkte, die viel Arbeit benötigen UND
die von produktiven Arbeitern konsumiert werden.
Im Übrigen finden wir, dass eine Position, die nahelegt, dass der
Zusammenbruch nicht kommen könne, weil er noch nicht gekommen ist, das Denken
beleidigt.

Frage: Du hast vorhin gesagt, eine Ausdehnung des Kapitaleinsatzes über G´
hinaus ist zwar erlaubt aber prekär. Ich sage dir: Diese Ausdehnung findet
täglich statt und zwar über den Kredit. Mit ihm ist fiktives Kapital gesetzt,
wusste schon Marx. Ihr aber tut so, als sei das Auftauchen des fiktiven
Kapitals das ultimative Argument für die finale Krise, weil mit ihm angeblich immer
klarer würde, dass die Wertsubstanz abschmilzt.

Stimmt, man darf nicht so tun, als würde Kredit nicht zur
Kapitalgesellschaft gehören. Doch sollte man sich folgenden Unterschied klar machen: Kredit ist
dazu da, Stockungen im Rückfluss auszugleichen oder dazu, einem Betrieb für
dessen Waren Absatzmöglichkeiten vorhanden waren/sind, die Einsatzelemente (c
+ v) vorzufinanzieren. Das heisst: Sein Einsatz ist seinem Wesen nach darauf
gerichtet, Krisenpotenzial, das letztlich auf das Auseinanderfallen von
Produktion und Zirkulation zurückgeht, abzumildern. Die riesigen Dimensionen des
heutigen fiktiven Kapitals (= Papiere, die einen Rechtstitel auf Zins oder
Profit tragen, sofern sie selbständige "Werte" ohne kapitalproduktiven
Hintergrund sind) stehen für eine qualitativ andere Sache: Da kaum noch produktive
Anlagemöglichkeiten existieren, wirft sich Kapital in die Finanzsphäre, in der
es so tun kann, als würde Geld tatsächlich ohne Vermittlung Geld hecken. Noch
stattfindende Produktion wird fast nur noch aus dem G´ der Finanzsphäre
finanziert, hängt also am Tropf des fiktiven Kapitals. (Fast muss man Unternehmen
dankbar sein, dass bei ihrem Geschäft irgendwelche konsumierbaren Waren
rauskommen, also nicht alles über die Finanzabteilung läuft; vgl. den Witz über
"Siemens" als "Bank mit angeschlossenem Elektroladen"). Es ist offensichtlich,
dass dies eine fürchterlich prekäre Angelegenheit ist, denn wenn die riesige
Spekulationsblase platzt und die Kreditketten reißen, stürzen sämtliche
Unternehmen, die nur mit diesem Prekärgeld gegründet wurden, in den Abgrund -
völlig egal, ob sie "handfeste" Dinge herstellten, also scheinbar produktiv
waren.

Frage: Krisen hat's immer gegeben, sie gehören nun mal zum Kapitalismus.
Zugegeben: Was jetzt kommt, wird härter als alles, was es zuvor gab, doch die
letzte Krise ist das nicht.

Gegenfragen: Warum wird denn alles härter, wenn wir's mit kapitalistischem
Normalbetrieb zu tun haben? Dein Gefühl kannst du wohl nicht begründen?! Noch
mal: Das Lebenselixier dieser Gesellschaft ist der Wert. Seine Substanz nimmt
von Tag zu Tag ab, keine Kompensationsmöglichkeiten (s.o.: neue Produkte
usw.) stehen zur Verfügung. Somit zwingt die Logik zur Diagnose: Der
Kapitalismus hat keinen säkularen Aufschwung mehr vor sich, wir leben in seiner Endzeit.
Noch eine Klarstellung: Wenn wir von finaler Krise reden (die nicht
irgendwann kommt, sondern in der wir jetzt leben), meinen wir nicht eine ganz
schlimme zyklische Krise, die automatisch das Kapital abschafft, sondern
postulieren: diese Strukturkrise ist gekennzeichnet durch Auto-Kannibalismus des
Kapitals und nicht durch das Herausnehmen einiger Kapital- und damit Wertteile aus
der gesellschaftlichen Reproduktion.

Frage: Ihr wartet auf die Krise, gefallt euch zynisch in pessimistischem
Fatalismus, statt bspw. die USA in ihrem Abwehrkampf gegen die ärgsten
Krisenerscheinungen im Irak zu unterstützen. Warum lest und schreibt ihr überhaupt
noch?

Die USA versuchten im Irak Ruhe für das letzte bisschen mögliche Verwertung
innerhalb ihres Einflussbereiches zu sichern. Zynisch ist nicht der Kritiker,
der das Eingreifen der USA sachlich als durch Sicherheitsbedürfnisse
motivierten Weltordnungskrieg beschreibt, sondern derjenige, der im sicheren Berlin
sitzend Elogen auf die US-Army schreibt und nicht mal den Mumm hat, sich in
einen Kampfpanzer zu setzen.
Das Kapital verröchelt in Agonie und bäumt sich ein letztes Mal auf, die
unsichtbare Hand schlägt wild um sich. Wenn es schon nicht mehr sein darf, soll
nichts mehr sein dürfen. Seinen letzten großen Abgang, den endgültigen
Türenknall, der die Welt einstürzen ließe, müssen wir ihm vermasseln – das
heisst, wir müssen Kritik üben: indem wir den falschen Zustand analysieren,
beschreiben, seine Menschenfeindlichkeit zeigen und damit seine Abschaffung
betreiben.

Frage: Ihr wartet auf die Krise. Für euch ist alles schon in Butter, weil
die Aufhebungsbewegung alles richtet.

Mit den Worten von Franz Schandl: Die Krise richtet nichts, sie richtet nur
hin. Die freien Assoziationen in Form von Reproduktionsgenossenschaften (s.
Flugblatt) sind eben nicht ein Kommunenidyll, sondern bittere Notwendigkeit.
Das heisst: Die Aufhebungsbewegung wird richtig Stress und kein Spaziergang.

(Bemerkung am Rande für Antideutsche: Die beiden eben angeführten Fragen
schließen in ihrer Intention einander logisch aus. Man wird sich schon
entscheiden müssen, welche man geltend macht.)

Frage: Ihr blickt vom Ende der Geschichte. Der Weltgeist ist im Grunde
"Krisis" plus "Wertkritische Kommunisten". Dabei ist unausgemacht, was genau
passiert...

Wir sind Gegner jedes Geschichtsdeterminismus´. Die Geschichte rollt nicht
nach vorgegebenem Plan ab. Zwar ist ein immer tieferes Versinken in der
Barbarei wahrscheinlicher, als menschliche Emanzipation, doch sicher ist eben gar
nichts.
Nicht für uns, sondern bspw. für den Freiburger ideologiekritischen
Reduktionismus ist immer schon "alles klar", bewegt sich nichts mehr. Kritiker wollen
das bestehende Schlechte, in das wir alle hineingeboren wurden, analysieren,
um Möglichkeiten zu finden, sich aus ihm herauszuwühlen. Doch diejenigen,
die ihre Textproduktion darauf beschränken, zu untersuchen, was die Leute so
schwatzen, sind nicht kritisch. Wer als Freund der Aufklärung denen, die die
Notwendigkeit dieser Reproduktionsgenossenschaften dartun,
Gemeinschaftsterrorismus unterstellt, sollte gefälligst arbeiten gehen und "etwas aus sich
machen" (Bahamas-Autor Justus Wertmüller und alle Eltern dieser Welt). Er bleibt im
Übrigen so sehr Diskurstheoretiker (das exzessive Adorno-Zitieren ist da
ganz gleichgültig) wie die, deren größtes Problem deutsche Großmachtambitionen
sind. Als ob es irgendwie wichtig wäre, was Deutschland will und nicht das,
was es macht (im Theater ist "ambitioniert" ein Schimpfwort für "wollen und
nicht können").

Frage: Das Kapital ist ein rein ideologisches Verhältnis; wer seinen
Widersinn nicht zur Kenntnis nimmt, nähert sich ihm logisch, das heisst mit dem
Willen zu Theorie, die immer schon rationalisiert, in ihren Gegenstand Logik
investiert. Beim Kapital, einem unlogischen, doch realen "Gegenstand" muss
Theorie versagen.

Das klingt ganz fetzig radikal, ist aber nur Resignation, aus der keine
Befreiung folgen kann. Hier ist die Frage angebracht: Warum lest und schreibt ihr
überhaupt noch? Unseres Erachtens ist es bizarr, dass es für theoretisch
reflektierte Linke tagesaktuell zu sein scheint, in wissenschaftlicher Manier
die Geschichte des Subjektbegriffs auseinanderzufaseln, die Untersuchung des
Geschehens in der Weltwirtschaft jedoch als esoterische Spinnerei anzusehen.
Wer dein Statement ernst nimmt, wird gefälligst Agnostiker, der sagt noch
ein einziges Mal "Nein!" zur Gesellschaft und muss dann den Mund halten. Wenn
der Gegenstand undurchschaubar widersinnig ist und bleibt, gibt's nix zu
analysieren, nix zu agitieren und auch Adornos Aufforderung "mit dem Begriff gegen
den Begriff" zu denken, ist abzulehnen, denn: Wo ist der Standpunkt der
Kritik, wie ist Kritik dann überhaupt möglich? Wir glauben, dass die Debatte über
Logik/Unlogik des Kapitals unnötig verkompliziert wird, um sich in schicker
Resignation, in "kritischem Pessimismus" (Brick/Postone) einzurichten. Im
Grunde ist die Sache einfach: "Wie jeder Mensch in seinem persönlichen Leben
virtuell zu sich selbst auf Distanz gehen und sich in seinem Denken und Handeln
selbst beobachten kann, so ist dies auch hinsichtlich der eigenen
Gesellschaftlichkeit möglich. Und dabei handelt es sich ja auch nicht um ein bloßes
intellektuelles Glasperlenspiel, sondern um die unausweichliche Verarbeitung
negativer Erfahrungen von Zumutung, Leid und Unlebbarkeit. Daß diese Verarbeitung
als ideologische (im Sinne eines falschen, nämlich affirmativen Bewußtseins)
mit mörderischen Konsequenzen geschieht, macht die kritische und
emanzipatorische Verarbeitung nicht unmöglich. Das Individuum geht eben nicht in seiner
bürgerlichen Subjektform auf." (Kurz, Fanta auf Lebenszeit)

Frage: Wann ist denn nun Schluss mit Wert, Ware, Geld, Arbeit, Staat?

Die Krisis ist früher mehrfach in die Falle gegangen, Voraussagen zu
treffen. Wir wollen da nicht mitmachen. Nur soviel: Wir reden über Jahrzehnte, nicht
mehr Jahrhunderte.

Mausebär

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