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[chox] 100. Geburtstag von Theodor W. Adorno



Zwischen Dialektik und Auschwitz

von Willi Goetschel  


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Gleich mit mehreren Konferenzen und einer Vielzahl von Tagungen, mit
Biographien und Publikationen wird der 100. Geburtstag von Theodor W. Adorno
begangen.  

Seine Bedeutung ist mittlerweile unbestritten. Er gilt als entscheidender
Mitbegründer und bedeutendster Vertreter der Frankfurter Schule. Sein Werk
demonstriert wie kein anderes, was Kritische Theorie zu leisten imstande ist.


Im Exil in New York und Los Angeles schrieb er in den vierziger Jahren ein
kleines, aber bedeutendes Werk. Die in kritischer Absetzung gegen die
Schulphilosophie genannten "Minima Moralia" machten im Untertitel deutlich, worum es
Adorno hier ging, nämlich um "Reflexionen aus dem beschädigten Leben". Dem
durch die Nazis entfesselten Wahnsinn entflohen, meditierte hier ein jüdischer
Emigrant im Exil, ein Soziologe, Philosoph, Sozial- und Kulturkritiker in
unbarmherziger Konsequenz über die mitunter erschreckende Nähe und
Familienähnlichkeit zwischen Faschismus und Kapitalismus. Faschismus sollte in seinen
Wurzeln erkannt und diagnostiziert werden und seiner Gefahr, in welcher Gestalt
dieser auch immer auftreten mochte, entgegengetreten werden. Adorno stellte
hier das kritische Potenzial einer Philosophie "im Angesicht der Verzweiflung"
unter Beweis, während die Berufsphilosophen, und nicht nur in Deutschland,
angesichts des Ungeheuerlichen der Verfolgung und Vernichtung von Millionen
Unschuldiger in opportun profundes Schweigen verfielen. Ein Schweigen, aus dem
aufzuwachen vielen deutschen Philosophen auch noch nach 1945 schwer zu fallen
schien. 

In denselben Jahren der Niederschrift der "Minima Moralia" arbeitete Adorno
auch gemeinsam mit Max Horkheimer an einer bahnbrechenden Studie, die für die
linke Intelligenz im Nachkriegsdeutschland wegweisend werden sollte. Die
1947 zuerst in einem Amsterdamer Exilverlag erschienene "Dialektik der
Aufklärung" fand zunächst nur wenig Beachtung, bis das Buch in den sechziger Jahren
bei einer neuen Generation Studenten zum Grund- und Handbuch kritischen Denkens
wurde. Seine zentrale These stellt noch heute wie damals eine
Herausforderung dar, argumentieren Horkheimer und Adorno doch, dass die neue Barbarei nicht
einem Betriebsunfall der zivilisierten Welt zu verdanken, sondern als
Resultat der konsequenten Logik der "rastlosen Selbstzerstörung der Aufklärung" zu
begreifen sei. 

Der radikale Sinn dieser These geht dahin, dass mit dem Ende der Herrschaft
der Nazis das barbarische Vernichtungspotenzial noch lange nicht beseitigt
sei, sondern solange eine wachsende Gefahr darstelle, als die Herrschaft des
rationalen Denkens und seines Apparats weiterhin ungebrochen den Alltag des
Menschen bis in seine privatesten Sphären hinein tyrannisiere. 

Rationales Kalkül, wo es sich zur Weltherrschaft aufspielte, lief, so
Adornos Kritik, auf den reinen Wahnsinn hinaus, der aber letzten Endes nur die
barbarische Konsequenz der Verselbständigung der instrumentellen Vernunft
darstellte. Ganz so wie Viktor Frankenstein sich ein Monster schuf, das den Schöpfer
mit der eigenen Vernunft in mit Wahnsinn entfesselter Logik zu schlagen
suchte. 

Wendepunkt: 11. September 2001

Als 1997 in New York eine Konferenz zum fünfzigsten Geburtstag der
"Dialektik der Aufklärung" stattfand, fiel es der Mehrzahl der Teilnehmer schwer, die
philosophische Bedeutung dieses Buchs, die anderseits unbefragt im Raum
stand, zu begründen. Es schien ganz so, als hätte mit der Wende von 1989 auch der
Kapitalismus seine hässlicheren Seiten abgelegt und, mit postmodernem Chic
ausgestattet, es nun verstanden, seine attraktiveren Seiten zur Schau zu
tragen. Die in den neunziger Jahren anhaltende Konjunktur schien das zu bestätigen.
Dow Jones und Nasdaq gediehen, und der Sesseltanz der Fusionen versprach
auch denen, die dabei leer ausgingen, dass es allen doch nur noch besser gehen
konnte. Mit den Ereignissen vom 11. September 2001 ist eine Änderung
eingetreten, die die politische Aktualität der "Dialektik der Aufklärung" mit einer
Virulenz bestätigt, die wenige davor für möglich gehalten haben mochten. 

Im Gefolge kaltschnäuziger Restrukturierungen und mit reaktionärer
Dienstfertigkeit in Angriff genommener Redimensionierung scheint auch das repressive
Denken wieder Urständ zu feiern. Und mit ihm wurden genau diejenigen
Interessen wieder hochgespült, welche Horkheimer und Adorno als fatale Folgen des
fortschreitenden Prozesses der Rationalisierung diagnostiziert hatten. So steht
dank des Konjunkturwechsels dieses noch eben als veraltet bemängelte Werk
wieder in vollem Glanz und kontroverser Frische als Herausforderung an die
Gegenwart da.

Kultur als leeres Versprechen

Adornos Bedeutung verdankt sich aber über diese beiden Werke hinaus seiner
hartnäckigen Unnachgiebigkeit im Denken. Mag auch das eine oder andere
Beispiel seiner Kulturkritik Kopfschütteln bewirken - seine Attitüde gegenüber dem
Jazz etwa, oder den Massenmedien, deren Befriedigungsmechanismen er
strengstens verurteilte - so hat anderseits seine Diagnose des allgemeinen
Verblendungszusammenhangs der Kulturindustrie nichts von ihrer Aktualität eingebüsst.
Kultur als das leere Versprechen, letztes Schutzreservat freier menschlicher
Selbstentfaltung zu sein, ist so, wie Adorno deutlich macht, längst zum
Eskapismus gesunken, mit dem die Kulturindustrie ihre Konsumenten noch da schröpft,
wo sie vorspiegelt, echte und authentische Werte feilzubieten. Adornos
Einsichten zur Traummaschine Hollywood, zum Fernsehen und zur soziologischen
Funktion des Horoskops bieten noch immer unüberholt klarsichtige Einsichten in die
Verführungsmacht der Kulturindustrie, die seither nur ungleich effizienter,
diversifizierter und mächtiger, aber allerdings auch unterhaltender geworden
ist als vor einem halben Jahrhundert, als Adorno seine Analysen publizierte.

Das Moment der Freiheit

Seine "Negative Dialektik" vertritt mit Nachdruck den "Primat des
inhaltlichen Denkens", nämlich den Gedanken, dass mehr als auf die Denkformalitäten es
darauf ankommt, was zum Gegenstand dieses Denkens gemacht wird. Dabei geht es
Adorno darum, in kritischer Weise den repressiven Charakter begrifflichen
Denkens zu brechen, um das Moment der Freiheit zu retten, oder, wie er das
Projekt der negativen Dialektik formuliert "über den Begriff durch den Begriff
hinauszugelangen". Der Einsicht folgend, dass das "Bedürfnis, Leiden beredt
werden zu lassen, Bedingung aller Wahrheit" sei, formuliert die "Negative
Dialektik" eindringliche philosophische Meditationen zu Auschwitz, die an ihrer
Bedeutung nichts verloren haben. Lautete der 1949 geschriebene berühmt gewordene
Satz, dass nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben barbarisch sein, so nahm
Adorno zwar den Satz in dieser Form bald wieder zurück, doppelte aber
anderseits in "Negative Dialektik" nach: "Alle Kultur nach Auschwitz, samt der
dringlichen Kritik daran, ist Müll." Ein Satz, den das deutsche Feuilleton ihm
auch da nie verziehen hat, wo es ihn zu wiederholen sich beflissen hat.

Messianisches Judentum

Zu seinem eigenen Judentum hatte Adorno ein kompliziertes Verhältnis. Ist
Adornos philosophisches Projekt als ein beispielhafter Versuch zu verstehen,
die existenzielle Problematik des deutschen Judentums mit philosophischer
Beharrlichkeit zu durchdringen, so hat er sich anderseits gegenüber der jüdischen
Tradition stets fremd empfunden. Dessen ungeachtet stellt aber das
messianische Denken die zentrale Quelle seines Philosophierens dar. In begrifflicher
Präzision und theoretischer Konsistenz unübertroffen - und hier auch seinen
Zeitgenossen Herbert Marcuse und Ernst Bloch philosophisch überlegen - hat
Adorno mit seiner kritischen Theorie der sozialen und politischen Bedeutung des
emanzipatorischen Potenzials konsequent messianischen Denkens eine
unüberhörbare, zukunftweisende Stimme verliehen. In ihrer radikalen Kritik allen
verdinglichenden Denkens und seiner Vergötzung des "Realen" auf Kosten der ideellen
und ethischen Werte reflektiert so Adornos negative Dialektik in
eigenständiger Weise die tiefsten Motive jüdischen Denkens in der Neuzeit.

© 2003 tachles Jüdisches Wochenmagazin 

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