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[chox] Offener Brief von Holger Schatz an Krisis



Für ein neues Spiel

Offener Brief an die Krisis-Redaktion anlässlich des von ihr unterstützten
Textes „Das Spiel ist aus“

von Holger Schatz, 31.03.03 04/03 
  
 Als ich das Editorial der vorletzten Bahamas gelesen hatte, dachte ich, die
typisch deutsche Paranoia, die überall nur Verrat an der eigenen Sache
wittert, wäre nicht mehr zu toppen. Die Redaktion beschrieb zunächst genüsslich,
wie es gelungen sei, mehr und mehr Teile des postautonomen Spektrums auf eine
Israel-Solidarität zu verpflichten um diesen dann umgehend den Kampf
anzusagen. Unter anderem weil die Israel-Solidarität hie und da nicht als
„bedingungslose“ ausgerufen wurde, schloß die Redaktion darauf, dass es sich
nur um potentielle Israel-Feinde handeln könne, die ihr Ressentiment
perfiderweise noch hinter Israel-Fahnen versteckten.  
 

Robert Kurz` Text „Das Spiel ist aus“ - ein Boykottaufruf zur
Münchner Konferenz Spog -scheint mir zumindest vom gleichen stalinistischen und
kraftmeierischen Denunziationswahn Zeugnis abzulegen, der spiegelbildlich zu
den Bahamisten überall den Sumpf unentschlossener und schwächlicher Elemente
identifizieren und bekämpfen will.

Die Themen-, Veranstalter- und ReferentInnenliste der Konferenz belegen
eigentlich schon alleine die Absurdität des Vorwurfes, hier handele es sich um
einen Bellizisten Kongress, der einmal mehr das beliebte Bewegungsbashen als
Selbstzweck betreiben wolle. Gerade die Krisis Gruppe schien bisweilen ein
erfreuliches Beispiel dafür zu sein, dass eine radikale Kritik an linken
Bewegungen nicht den Rückzug von einer auf Praxis drängenden Sozialkritik nach sich
ziehen muss. Die Münchner Konferenz bezieht sich offensichtlich in ihrer
Kritik an der Globalisierungsbewegung grundsätzlich positiv auf die Möglichkeit
und Notwendigkeit deren Weiterentwicklung. 

Natürlich schlägt man immer wieder entsetzt die Hände überm Kopf zusammen,
wenn man beispielsweise GenossInnen der iz3w in einer Debatte über den Krieg
und nicht im Plausch über Wohnortsträume davon reden hört, sie würden lieber
in New York als in Bagdad leben. Natürlich frägt man sich, warum Linke, die es
lange Zeit den Kernen des Antimilitarismus und der 3. Welt-Solibewegung
überlassen haben, deutsche Rüstungsexporte in den Irak zu thematisieren,
ausgerechnet jetzt den Irak entdecken. Natürlich muss es zudem verstören, wenn ein
Milieu, das in den vergangenen Jahrzehnten mit der notwendigen Kritik am alten
romantisierenden Bezug auf die „Verdammten dieser Erde“ auch den
Neochauvinismus gegenüber „rückständigen“ Sozialrevolten im Süden
einführte, auf einmal „die Opposition“, die „Menschen im
Irak“ bemüht und sich damit um eine Position zum Krieg herum stehlt.

Den Bellizismus und seine ideologischen Voraussetzungen, die bei den
Antideutschen in einer verkehrten Wahrnehmung des Verhältnisses der
„Versprechen“ der bürgerlichen Zivilisation und ihrer Wirklichkeit liegen,
bekommt man jedenfalls mit einer solch sektiererischen Denunziation, wie sie jetzt
Kurz vorgelegt hat, nicht weg.

Bezogen auf die Antideutschen wäre es sicherlich notwendig, einmal gründlich
zu untersuchen, warum gerade eine Generation von Linken, die wie keine
andere zuvor und woanders in den „Genuß“ historisch einmaliger
Lebensbedingungen gekommen ist, und in vielen Fällen in der Lage war und ist, ein
relativ hedonistisches Leben - wie falsch und entfremdet auch immer - bei
vergleichsweise wenig Arbeit führen zu können, zu einem solchen Begriff von
bürgerlicher
Zivilisation kommen kann, der ganz offensichtlich die absolut partikulare -
und zwar notwendig partikulare - Erscheinung mit dem Wesen kurz schließt. Wer
weiß, vielleicht käme als Ergebnis einer solchen Untersuchung heraus, dass
mit dem positiven Bezug auf die USA als eine zwar widersprüchliche aber doch
Freiheit, Genuß und Individualität garantierende Gesellschaftsformation nichts
anders gemeint ist als der allerlei Kollateralnutzen ermöglichende
autoritäre Kontrollwohlfahrtsstaat deutscher Provenienz der vergangenen Jahrzehnte. 

Es ist das Dilemma von radikaler Gesellschaftskritik überhaupt, immer wieder
feststellen zu müssen, welch attraktiven ideologischen Anschlüsse die
gesellschaftlichen Verhältnisse bereitstellen, um das Unbehagen am Kapitalismus in
eine Affirmation seiner Voraussetzungen und Schlimmeres zu transformieren.
Aus einer solchen Sicht dürfen die „Verkürzungen“ der
Kapitalismuskritik, ob bei Globalisierungsgegnern, Pop-und Pomolinken oder eben den
bellizistischen oder weniger bellizistischen Zivilisationsfreunden nicht als
Problem fehlender Moral oder Integrität betrachtet werden. Wer ernsthaft eine
radikale Veränderung der Verhältnisse anstrebt muss die Spannung aushalten lernen,
gerade bei Voranschreiten der Vermassung zunehmend mit Menschen zusammen zu
kommen, die weder Zeit noch Bock haben, mal eben ein paar Jahre in
theoretische Klausur zu gehen, um dann mit Marx, Adorno und Marcuse im Gepäck auf die
Barrikaden zurückzukehren. Natürlich müssen klare Grenzen gesetzt werden und
bestimmte Ausdrucksformen dieser Verkürzungen wie Antisemitismus oder
Militarismus offensiv bekämpft werden. Wer allerdings glaubt dies sei schon
notwendig, wenn jemand in Deutschland auf eine Friedensdemo geht oder eben wie
demnächst in München, den Krieg, seine Voraussetzungen und Implikationen nicht nur
bekenntnishaft denunzieren, sondern analysieren will, ist selbst ein Fall für
Klausur.

Da die Krisis-Redaktion explizit den Duktus und die Form des Text von Robert
Kurz unterstützt, tendiert meine Lust, als Referent bei dem demnächst
stattfindenden Krisis-Jahresseminar aufzutreten, gegen Null. Eine Klarstellung und
Entschuldigung seitens der Redaktion aber auch von Robert Kurz wäre ein
Zeichen, den Verfall linker Debattenkultur, den sicherlich nicht Krisis verursacht
hat, nicht mit gestalten zu wollen.

 

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