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[ox-de] keimform.de: Wie es den Kapitalismus zum Commonismus treibt



URL: http://www.keimform.de/2011/wie-es-den-kapitalismus-zum-commonismus-treibt/

[Dieser Artikel ist in der heutigen Ausgabe des Neuen Deutschlands
<http://www.neues-deutschland.de/> unter dem (vom der Redaktion veränderten)
Titel „Vorwärts zum Commonismus“ erschienen.]

Stellen wir uns eine Welt vor, in der Produktion und Reproduktion
bedürfnisorientiert zum Wohle aller stattfinden, organisiert von Menschen,
die sich niemandem unterordnen müssen und sich freiwillig in die
erforderlichen Tätigkeiten teilen. Ich nenne eine solche Gesellschaft
*Commonismus,* weil ich glaube, dass darin die *Commons,* die Gemeingüter,
eine wichtige Rolle spielen werden.

Man mag einwenden, dass eine solche Gesellschaft unmöglich ist, weil es sie
noch nicht gab und weil sie der Natur des Menschen widerspricht. Doch
daraus, dass es etwas noch nicht gab, kann man nicht schließen, dass es
unmöglich ist; und Argumente zur „Natur des Menschen“ übersehen, dass die
Menschen nicht nur die Gesellschaft machen, sondern umgekehrt auch durch die
Gesellschaft beeinflusst und geprägt werden. Ändern sich die Strukturen,
ändert sich auch das Verhalten der Menschen.

Der Commonismus bliebe allerdings eine abstrakte Idee, wenn er nicht das
Zeug hätte, aus der heutigen Gesellschaft, dem Kapitalismus, heraus zu
entstehen. Karl Marx sagte dazu, dass „die materiellen Existenzbedingungen“
neuer Produktionsverhältnisse „im Schoß der alten Gesellschaft selbst
ausgebrütet“ werden müssen.

Eine commonistische Gesellschaft hat meiner Ansicht nach zwei wesentliche
Voraussetzungen, deren Entwicklung durch die kapitalistische Logik zum Teil
begünstigt wird, während ihre vollständige Umsetzung im Widerspruch zum
Kapitalismus steht: (1) Menschliche Arbeit verschwindet aus dem
Produktionsprozess, sie wird durch Automatisierung und Selbstentfaltung
ersetzt. (2) Der Zugang zu Ressourcen und Produktionsmitteln steht allen
gleichermaßen offen.

Wie diese Voraussetzungen die Produktionsprozesse verändern, wird bislang im
Bereich der digitalen Produktion von Software und anderen Informationsgütern
am deutlichsten sichtbar. Die *Freie-Software-* und *Freie-Kultur-Bewegung*
hat diesen Kernbereich der modernen Produktion so grundsätzlich umgewandelt,
dass bestimmte Märkte deutlich geschrumpft oder gar komplett verschwunden
sind. Dies betrifft etwa Internetsoftware, Software für Programmierer/innen
und Enzyklopädien. In diesen Bereichen haben sich frei verwendbare Programme
wie Apache, Firefox, WordPress, frei nutzbare Programmiersprachen wie
Python, Entwicklungsumgebungen wie Eclipse sowie die freie
Internet-Enzyklopädie Wikipedia durchgesetzt. Konkurrenzangebote, die gemäß
der üblichen kapitalistischen Logik nur käuflich erwerbbar sind, haben
nahezu keine Chance mehr. Indem sie Märkte zum Verschwinden bringt, weist
diese Bewegung über den Kapitalismus hinaus. Zugleich basiert sie aber auf
Voraussetzungen, die im Kapitalismus entstehen und der kapitalistischen
Logik zufolge entstehen *müssen.*

Ein Paradox des Kapitalismus ist, dass die menschliche Arbeit einerseits
seine Grundlage ist, andererseits aber ein Kostenfaktor, den jedes
Unternehmen möglichst stark reduziert. Arbeit ist Quelle des Mehrwerts und
damit des Profits, doch zugleich kann jedes Unternehmen seinen Profit
zumindest temporär dadurch erhöhen, dass es Arbeit einspart und so gegenüber
seinen Konkurrenten einen Kostenvorteil erzielt. Arbeit in Billiglohnländer
auszulagern, ist eine Möglichkeit zur Kostensenkung, doch noch besser ist es
aus unternehmerischer Sicht, sie durch Maschineneinsatz oder durch von den
Kund/innen freiwillig und unentgeltlich übernommene Tätigkeiten zu ersetzen.

Bis vor einigen Jahrzehnten ging der Einsatz von Maschinen und menschlicher
Arbeit meist Hand in Hand, etwa bei der Fließbandarbeit. Doch mit
zunehmender Automatisierung wird die menschliche Arbeit bei
Routinetätigkeiten immer entbehrlicher. Übrig bleiben Arbeiten, die sich
kaum automatisieren lassen, weil sie Kreativität, Intuition oder
Einfühlungsvermögen erfordern. Deshalb ist in Bezug auf den modernen
Kapitalismus oft von „Dienstleistungs-“ oder „Informationsgesellschaft“ die
Rede, weil die meisten nicht automatisierbaren Tätigkeiten in diese Bereiche
fallen.

Zudem werden Aufgaben an die Kund/innen selbst delegiert, was weitere
Arbeitskräfte einspart. Dank Selbstbedienung brauchen Supermärkte weniger
Verkäufer/innen; beim Online-Shopping und Online-Banking werden die
Verkäufer bzw. Schalterangestellten ganz überflüssig; Ikea überlässt den
Kund/innen das Zusammenbauen ihrer Möbel und spart so Personal und
Transportkosten.

Doch diese Entwicklungen verändern zugleich den Charakter des Tuns. Als
Angestellter arbeite ich, um Geld zu verdienen. Wenn ich jedoch meine
eigenen Möbel zusammenbaue oder im Internet nach für mich geeigneten
Produkten suche, dann interessiert mich das *Ergebnis* meines Tuns. Und
durch die zunehmende Automatisierung werden langweilige Routinetätigkeiten,
die man nur gegen (Schmerzens-)Geld erledigt, zunehmend durch kreativere und
daher auch inhaltlich interessantere Tätigkeiten ersetzt.

Für letztere ist eine Bezahlung zwar (sofern man noch Geld braucht) ein
netter Pluspunkt, aber – wie sich in den letzten Jahrzehnten zur
Überraschung vieler Ökonom/innen gezeigt hat – keineswegs eine notwendige
Bedingung. Seit das Internet es immer mehr Menschen ermöglicht, andere mit
ähnlichen Interessen auch über größere Entfernungen hinweg zu finden, sind
viele Projekte entstanden, in denen Menschen gemeinsam an Dingen arbeiten,
die ihnen wichtig sind. Dazu gehören Freie Software, Freie Inhalte wie die
Wikipedia und Open-Hardware-Projekte, in denen die Beteiligten gemeinsam
materielle Dinge entwerfen und die Baupläne mit der ganzen Welt teilen. Beim
Freifunk-Projekt, das freie Funknetzwerke aufbaut, und bei
Gemeinschaftsgärten, wo Menschen gemeinsam städtische Freiflächen in offene
Gärten umgestalten, steht dagegen die Zusammenarbeit vor Ort im Mittelpunkt.
All diese Projekte haben zwei Grundlagen: zum einen die freiwillige,
bedürfnisorientierte Zusammenarbeit der Beteiligten; zum anderen die
Gemeingüter – Software, Wissen, Netzwerke oder Orte –, die sie nutzen,
pflegen oder hervorbringen.

Manchen der Beteiligten geht es dabei ums Geldverdienen oder die
Verbesserung ihrer Berufschancen, aber viele engagieren sich aus anderen
Gründen: weil sie selbst an dem entstehenden Werk Interesse haben; weil sie
dabei Aufgaben übernehmen können, die ihnen Spaß machen; oder weil sie den
anderen etwas zurückgeben möchten (ohne dazu verpflichtet zu sein). Arbeit
zum Zweck des Geldverdienens wird so ersetzt durch Tätigkeiten, die man
gerne um ihrer selbst willen, aufgrund ihres Ergebnisses oder den anderen
Beteiligten zuliebe übernimmt: Selbstentfaltung.

Möglich ist das nur, weil die Beteiligten Zugang zu den benötigten
Produktionsmitteln – wie Computern und Internetzugang – haben. Das mag als
Begrenzung dieser freien, commonistischen Produktionsweise erscheinen, da
die Konzentration der meisten Produktionsmittel in den Händen weniger für
den Kapitalismus charakteristisch ist. Gemeinschaftlich produzieren kann man
Software und Wissen, wo nur kleine, schon weit verbreitete Produktionsmittel
nötig sind, aber wie steht es um Dinge, die riesige Fabriken erfordern?

Glücklicherweise treibt auch hier die Produktivkraftentwicklung den
Kapitalismus in eine Richtung, die seine eigene Überwindung erleichtert.
Ähnlich wie die heutigen Personalcomputer Nachfolger der Millionen kostenden
und Räume füllenden Großrechner des letzten Jahrhunderts sind, werden auch
andere Produktionstechniken immer günstiger und für Einzelne oder kleine
Gruppen erschwinglicher. Kostengünstige, aber flexible computergesteuerte
(CNC) Maschinen ersetzen in der industriellen Produktion zunehmend
schwerfällige Großanlagen. Gleichzeitig hat sich rund um diese Maschinen
eine Bewegung von Hobbyisten gebildet – die sogenannte „Maker“-Szene –, die
sie nicht zum Geldverdienen benutzen, sondern um bedürfnisorientiert zu
produzieren, zu experimentieren und Spaß zu haben.

In diesem Kontext sind auch erste Open-Hardware-Projekte entstanden, die
selbst solche Produktionsmaschinen entwerfen und ihr Wissen als Gemeingut
teilen. Damit werden die Grundlagen für eine bedürfnisorientierte, auf
Gemeingütern basierende Produktionsweise gelegt. Die Rückeroberung der
Produktionsmittel hat begonnen.


Herzliche Grüße
	Christian

-- 
|------- Dr. Christian Siefkes ------- christian siefkes.net -------
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|    Peer Production Everywhere:       http://peerconomy.org/wiki/
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Der Mensch verschwindet aus der Arbeitswelt, wie das Pferd aus der
Landwirtschaft verschwunden ist.
        -- Wassily Leontief, Nobelpreis für Ökonomie 1973



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