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Re: [ox-de] Re: Nochmal: gesellschaftliche Natur



Hallo Hans-Gert,

Am Montag, 4. September 2006 12:25 schrieb Hans-Gert Gräbe:
Ich weiß nicht, ob ich mich so unklar ausdrücke. Wie wird denn deiner
Meinung nach aus einer befruchteten Eizelle das voll ausgebaute Wesen?
Ist das kein Entfaltungsprozess mit tausend wenn und aber's? Sind da
nicht Transferasen und wie das Zeugs alles heißt beteiligt? Müssen nicht
zu ganz speziellen Zeitpunkten ganz spezielle Bedingungen vorliegen,
damit gewisse Entfaltungsschritte überhaupt stattfinden? Wird nicht in
diesem Entfaltungsprozess das _Zusammenspiel der vielfältigen Faktoren_
reproduziert?

Es ist ein automatischer Entfaltungsprozess, der überraschenderweise bei
allen lebendgebärenden Arten gleich ist. Dieser ist an ganz bestimmte 
Umweltbedingungen im Mutterleib gebunden. Der genetische Satz des Embryos 
antwortet zunächst auf die Bedingungen des Mutterleibes, wenn ein Einfluß der 
Umwelt geltend gemacht wird, bildet daher in seinen Entwicklungsschritten 
nicht die Bedingungen außerhalb des Mutterleibes, sondern das Zusammenspiel
zwischen Genen und Umwelt im Mutterleib ab. Umweltbedingungen seiner
Spezie außerhalb des Mutterleibes spielen in diesem Prozess keine Rolle.

Geschlechtreife, zur Fortpflanzung fähige Spezies produzieren Nachkommen
der gleichen Spezie, deren Gensatz variabel ist durch das Genmaterial z.B. 
von Mutter und Vater. In den automatische Entfaltungsprozess, deren Ziel
die Entwicklung eines der Spezie entsprechenden Exemplares ist, können
sich Fehler einschleichen, die zu Mutationen und zu neuen Arten führen,
sofern die Mutanten in einer bestimmten Umwelt lebens- und fortpflanzungs-
fähig sind. 

Dies zeigt sich erst nach der Geburt, durch die sie in die Umwelt außerhalb 
von Ei, Kokon oder Mutterleib gelangen. Sind Exemplare oder mutierte 
Exemplare außerhalb des Mutterleibes fähig, in einer Umwelt zu überleben 
und Nachkommen zu zeugen, so setzt ab Zeugung wieder der automatische 
Entfaltungsprozess im Mutterleib, Ei oder etwas Entsprechendem ein, ihrer 
Spezie bzw. ihrer mutierten Spezie - inkl. einer bestimmten Genvariation - 
entsprechende Exemplare zu entfalten. Gentechnisch manipulierte Mäuse
mit einem menschlichen Ohr auf dem Rücken erzeugen wieder Mäuse mit
einem menschlichen Ohr auf dem Rücken. Mäuse, welchen dieses dritte
Ohr fehlt, entstehen nur durch "Lese"-Fehler im automatischen Prozess
der Entwicklung eines der Spezie entsprechenden Exemplares.

Das Paradigma der Evolution besteht im automatischen Prozess der 
Entfaltung eines Exemplares im Mutterleib (oder Ei etc.) nicht darin, sich 
äußeren Umweltbedingungen anzupassen, sondern darin, ein der Spezie 
entsprechendes Exemplar zu produzieren. Erst das Versagen, dem
Paradigma zu gehorchen, erzeugt Mutanten, aus welchen neue Arten
hervorgehen können - bei Menschen und allen anderen Arten.

Eine Eizelle wird befruchtet, teilt sich - und ein Teil der Zellen wird zur 
Plazenta, ein anderer Teil zum Embryo und später zum Fötus, ähnlich den 
Vorgängen in einem Vogelei. Einige Genetiker sprechen hier von der ersten 
Geburt und nennen die Geburt aus dem Mutterleib zweite Geburt, deren 
Zeitpunkt vom Fötus ausgelöst wird durch das Freisetzen bestimmter Stoffe, 
die im Körper der Mutter eine klassische Abstoßungreaktion auslösen. 

Weitere neuere Untersuchungen zeigen, daß der Fötus geschlechtsreif
mit voll funktionsfähigen männlichen bzw. weiblichen Sexualorganen zur
Welt kommt, zu welchen in der Pubertät lediglich die Fähigkeit hinzutritt,
zeugungsfähige Spermien oder befruchtbare Eier zu produzieren und z.B. die
Spermien der Samenflüssigkeit (die schon der männliche Fötus produziert!) bei 
Knaben beizumengen. Dies bedeutet, daß jeder mit einer voll entwickelten
männlichen oder weiblichen Sexualität geboren wird - hier eine reduzierte
kindliche Sexualität anzunehmen, muß endgültig ist Reich der Fabeln verwiesen
werden.

Musische Fähigkeiten, die Entfaltung des geometrischen
Vorstellungsvermögens etc. schließlich sind für mich ebenso
evolutionär vermittelte Fähigkeiten wie das Atmen von Luft, das
Erlernen des Gehens auf zwei Beinen oder das Erzeugen von
Lauten, rückgekoppelt mit der Umwelt. Sie sind letztlich durch
die Fähigkeit des menschlichen Körpers als Teil der Evolution
vermittelt, nicht durch die Gesellschaft. Begabung entsteht
nicht durch Reflexion, sondern stellt die Hardware, um eine
bestimmte Reflexion - z.B. in der Musik, Malerei oder in der
geometrischen Mathematik zu ermöglichen.

Das stellen Leute, die sich hier in Leipzig lange damit beschäftigt
haben (H.-G. Mehlhorn, Walter Friedrich), vollkommen anders dar.  Hier
werden viele grundlegende "Verschaltungen" im Gehirn in den ersten 6-8
Lebensjahren angelegt (oder auch nicht). Wofür die erforderlichen
*gesellschaftlichen* Freiräume sehr konstitutiv sind. Mehlhorn nennt
etwa das Ergebnis seiner BIP-Kreativitätsschule, wo in vier Jahren
(Klasse 1 bis 4) der durchschnittliche IQ von etwa 100 auf 117 gestiegen
ist. Belegt durch eine Längsstudie über die (mit IQ 100 eingangs
weitgehend "gewöhnliche") Population. Die "Hardware" selbst wird also in
Vielem durch gesellschaftliche Rahmenbedingungen erst "geformt".

Letztlich lernen Kinder bei Mehlhorn u.a. nur besser zu laufen, bringen
aber das Potential, überhaupt laufen zu lernen - bzw. überhaupt zu denken -
evolutionär vermittelt mit. Sie können kreativer Denken und ihr Potential
besser  *anwenden* - im IQ-Test - , wie der Anstieg des IQ zeigt. Ohne eine
Evolution vom Menschenaffen zum Homo sapiens jedoch könnte auch
Mehlhorn u.a. selbst bei besten *gesellschaftlichen* Freiräumen nicht
konstitutiv die Fähigkeit zum Denken *erzeugen* - was jedoch aus dieser
Ecke verschiedentlich und auch von Dir tendenziell behauptet wird.

Fähigkeit zu etwas sollte nicht mit der Ausübung einer Fähigkeit gleichgesetzt 
werden. Menschen, die in der Schule und Uni immer in Mathematik versagen, 
können trotzdem außerordentlich mathematisch begabt sein. Meine 
Lebensgefährtin z.B. hat einen mathematischen IQ von 144 - und trotzdem 
ihre gesamte Schul- und Studienzeit über in Mathematik eine glatte 5. Die 
Ausübung einer Fähigkeit wird gesellschaftlich geformt - begünstigt oder 
eben frustriert - nicht das Potential selbst. 

So mißt der IQ die Ausübung denkerischer Fähigkeiten, nicht die Fähigkeit 
selbst. Kann jemand in einem solchen Test nicht schnell schreiben oder 
Kästchen ankreuzen - oder ist durch Behinderung in seiner Reaktionszeit 
verlangsamt -, so mißt der Test die mangelnde Fähigkeit des Schreibens 
oder Ankreuzens oder den Grad der Behinderung selbst, nicht jedoch den 
IQ, wenn dieses nicht in der Durchführung des IQ-Testes berücksichtigt 
wird. Behinderte können so leicht als minderbegabt aussortiert werden - 
selbst wenn in Wahrheit eine Hochbegabung vorliegt - schließlich sind
bei einer mangelnden motorischen Fähigkeit oder einer langsameren
Reaktion ganz objektiv nur ein Drittel oder noch weniger Aufgaben
auszuwerten.

Der Beweis, daß ausschließlich durch Umweltbedingungen z.B. eine
musische Begabung entsteht, wäre erst mit dem Nachweis erbracht,
flächendeckend kleine Mozarts durch musische Kreativförderung in
den ersten Lebensjahren zu schaffen. Tatsächlich aber bilden sich nur
die vorhandenen Potentiale ab - und selbst Mehlhorn ist es noch nicht
gelungen, ein musisch völlig unbegabtes Kind durch Kreativförderung
zum musikalischen Genie zu machen. 

Grüsse,
Jacob

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Kontakt: projekt oekonux.de



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