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[ox-de] Forschungsprogramm Keimform (was: Re: Keimform - Einzahl oder Mehrzahl ?)



[cc. ox-de und wak]

Hallo Franz und Keimform-Interessierte,

mir scheint, dass über den Begriff Keimform vs. Keimform_en_ andere 
Fragen ausgetragen werden als eben jene nach der theoretischen 
Fundierung eines Begriffs. Nach der Art: Wer in der Einzahl redet, für 
den gibt's nur die Freie Software, wer in Mehrzahl redet, der will 
neben Freier Software andere Erscheinungen zur Geltung bringen.
Kann das sein?

Diese (thematische) Stellvertreter-Auseinandersetzung über persönliche 
Lieblingsprojekte halte ich für unproduktiv. Mir scheint noch immer ein 
Missverständnis beim Keimform-Begriff vorzuliegen, zu dem ich (in dem 
Bestreben, eine Vereinfachung zu versuchen) vermutlich auch beigetragen 
habe. Ich weiss nicht, ob es mir gelingt, das zu entwirren. Ich bitte 
Annette um Hilfe und ggf. um Korrektur, die hier die entscheidenden 
erkenntnistheoretischen Grundlagen auf ihren Webseiten bereitstellt 
(vgl. die Links unten).

Der Begriff "Keimform" ist eine Kategorie, ein analytischer Begriff, das 
Konkret-Allgemeine. Im Unterschied zu Beschreibungsbegriffen, die 
einzelne Sachverhalte bezeichnen, sind Kategorien analytische 
Denkmittel, um solche einzelnen Sachverhalte in ihrer Bestimmtheit und  
ihren Beziehungen zu anderen einzelnen Sachverhalten erkennen zu 
können. Kategorien bezeichnen _keine_ dinglichen Instanzen, sondern sie 
bezeichnen Denkformen, nein, mehr noch, sie _sind_ Denkformen.

Nun gibt es Fälle, wo analytischer und beschreibender Begriff durch das 
gleiche Wort repräsentiert werden. Hierbei wird es besonders schwer, 
weil mit einem Wort sowohl Phänomen (durchaus als "Realabstration") wie 
auch analytische Denkform bezeichnet werden. Ein gutes Beispiel ist der 
Begriff "Wert". Mit fast allen Menschen kann man sich über "Wert" 
unterhalten, aber kaum einer versteht, was "Wert" ist, weil es schwer 
ist, den analytischen Gehalt des Begriffs "Wert" zu erschließen, der es 
einem überhaupt erst ermöglicht, das gesellschaftliche Verhältnis, das 
damit eigentlich gemeint ist, zu erkennen. Blenden wir diesen 
komplizierten Fall aus.

Und blenden wir noch eine extrem wichtige Unterscheidung aus, nämlich 
die von Abstrakt-Allgemeinem und Konkret-Allgemeinem. Zu den 
unterschiedlichen Formen der Abstraktion:
http://www.thur.de/philo/abstrakt.htm
Und das hier, besonders die schöne Grafik unten:
http://www.thur.de/philo/as124.htm
Wenn ich hier "Kategorie" im Sinne des Konkret-Allgemeinen verwende, 
dann ist damit die Einheit der widersprüchlichen Momente des Begriffs 
gemeint, womit der Begriff die Bewegung umfasst. Das ist wichtig. Mehr 
dazu auch hier:
http://www.thur.de/philo/as123.htm

So, nun zur Kategorie Keimform. Der Begriff Keimform ist in seiner 
inneren Widersprüchlichkeit und Bewegung nur verstehbar, wenn man den 
entwicklungslogischen Fünf-Schritt zu Grunde legt. Aus diesem Kontext 
kann der Begriff nicht herausgelöst werden. Zum Fünf-Schritt vgl. z.B.:
http://de.wiki.oekonux.org/Huetten06/Protokolle/ArbeitUndHandlung/Holzkamp
Gleichwohl ist die Diskussion um die genaue Bestimmung des 
Fünf-Schrittes nicht abgeschlossen. Annette hat auf Defizite bzw. 
Verkürzungen in der Darstellung hingewiesen:
http://de.wiki.oekonux.org/Huetten06/Protokolle/ArbeitUndHandlung/Holzkamp/Talk

Klar geworden sein sollte nun, dass es eine Keimform als solcher 
nicht "gibt". Klar geworden sein sollte damit auch, dass streng 
genommen - und das will ich an dieser Stelle zu Abgrenzung einmal tun - 
die Rede von der Freien Software _als_ Keimform falsch ist: Freie 
Software _ist_ nicht eine Keimform, sondern weisst Merkmale auf, die 
eine qualitativ neue Form der Vergesellschaftung hindeuten - nur 
insofern "ist" Freie Software eine Keimform. Sie "ist" es gleichzeitig 
nicht, als dass unmittelbar aus der Freien Software die neue 
Gesellschaft erwachsen wird. Das wird nicht der Fall sein (das wäre die 
Rede vom "Keim", s.u. nochmal unten das Zitat). Gleichwohl finden wir 
die Formen einer qualitativ neuen Form der Vergesellschaftung nirgendwo 
so deutlich in allerfrühesten Ansätzen vor wie bei der Freien Software 
(das ist meine persönliche Auffassung, um die IMHO im Kern gestritten 
wird und werden sollte).

Das meinte ich mit diesem Absatz:

Am Wednesday 19 July 2006 22:34 schrieb Stefan Meretz:
"Form" meint erstmal den Unterschied von "Inhalt" und "Form". Mit der
Betonung auf "Form" will ich (ich verwende es so) ausdrücken, dass es
nicht um den konkreten Inhalt geht, also zum Beispiel um die (Freie)
Software, sondern um die Form der Vergesellschaftung, wie sie eben
keimförmig bei Freier Software zu beobachten ist und wie sie
gesellschaftlich verallgemeinerbar wären, also auch mit anderen
"Inhalten" funktionieren könnten. Daher ist auch die Diskussion um
die Keimform-Kriterien so wichtig, weil sie bestimmen, was wir sehen.

Im Unterschied dazu ist mit "Keim" verbunden, dass dieser bereits
alle Bestandteile in embryonaler Form enthält, dass der Inhalt also
eigentlich schon "da" ist, dass alles schon angelegt ist, und nun
"nur noch" wachsen muss. Das ist eine Assoziation, die IMHO in die
Irre führt oder zu wenig fruchtbaren Diskussionen. Denn dann wäre
Freie Software als "Keim" nur eine rabiate Techno-Utopie - und das
greift wohl "etwas" zu kurz.

Weil Keimform keine Bezeichnung eines real-konkreten einzelnen 
Sachverhalts ist, sondern analytischer Begriff (eine Kategorie), folgt 
daraus, dass es nicht mehrere Keimformen geben _kann_. Mit Hilfe dieser 
Kategorie können wir durchaus unterschiedliche realhistorische früheste 
Formen einer qualitativ anderen Form der Vergesellschaftung erkennen - 
genau das ist ja der Sinn der Kategorie. Diese unterschiedlichen 
einzelnen Erscheinungsformen sind - so sie mit dem analytischen Begriff 
der "Keimform" erfasst werden können - wesensmäßig identisch, wenn auch 
in ihrer konkreten Erscheinung verschieden: Sie gehören zum _gleichen_ 
Konkret-Allgemeinen, sie verweisen in ihrer Entwicklunglogik auf die 
_gleiche_ neue Form der Vergesellschaftung. Anderenfalls ist der 
Begriff Keimform verfehlt bzw. unterbestimmt.

Das bedeutet, dass der Begriff Keimform bestimmten Voraussetzungen 
entsprechen muss. Es kann nicht so sein, dass wir die Kriterien (vgl. 
http://en.wiki.oekonux.org/GermForm/Criteria/Talk ) uns beliebig so 
zuschnitzen, dass wir alle erwünschten Projekte darunter subsummieren 
können - sozusagen um des lieben Friedens willen. Es kann nur so sein, 
dass der Keimformbegriff im Gesamt des Fünf-Schrittes durch ein 
eigenständiges wissenschaftliches Verfahren fundiert wird, der im Kern 
klären muss, welcher Gestalt diese "neue Form der Vergesellschaftung" 
ist, was die wesentlichen Bestimmungen sind, wie reale 
gesellschaftliche Errungenschaften in einer anderen Weise abgebildet 
werden können etc. Als Beispiel mag die Anforderung von El Casi (auf 
der Oekonux-Liste) dienen, die er durch "Geld" repräsentiert sieht:

Am Wednesday 09 August 2006 22:17 schrieb El Casi:
  Aber die Möglichkeit, Geld als unverselles Maß im Tausch zu
  betrachten, als universelles Zahlungsmittel und so weiter, senkt
  die Transaktionskosten der Koordination und macht damit
  Kooperation in einem Ausmaß, in einer Form und in einer
  Komplexität möglich, wie es vorher nicht vorstellbar war.
  Denn es vereinfacht den Zugang zu solchen Entscheidungen...

Das alles macht es nicht einfacher. Deswegen sprach ich in Hütten von 
einem "Forschungsprogramm", das wir damit vor uns haben. Es wird darauf 
keine schnellen Antworten geben - das muss uns klar sein. Wir können 
auch nicht erwarten, dass es ein "Ende" des Forschungsprogrammes in dem 
Sinne geben kann, dass irgendwann "klar" ist, was denn nun eine 
Keimform "ist" bzw. wie denn nun die "neue Form der Vergesellschaftung" 
konkret aussieht, denn - wie mehrfach betont - "klar" ist der 
Entwicklungsprozess und darin die "Keimform" erst, wenn der Prozess 
gelaufen ist. Abschluss des Forschungsprogramms und "Erreichen" der 
Freien Gesellschaft fallen also zusammen.

Wir sollten uns hüten, in Utopismus zu verfallen, also wünsch-dir-was zu 
spielen. Mitten in der gesellschaftlichen Umbruchsphase stehend, wissen 
wir weder, "wohin" die Vergesellschaftungsform umbricht - selbstredend 
sind weitaus barbarische Formen als die des "normalen" Kapitalismus 
denkbar - noch wissen wir, ob wir mit unseren Beobachtungen richtig 
liegen. Ob wir richtig liegen _könnten_, dabei kann uns ein fundierter 
Begriff der "Keimform" (und der Freien Gesellschaft) helfen. So ein 
Forschungsprogramm kann damit zunächst nur eine Art vergleichender 
Kategorialanalyse sein, also eine denkende Bewegung auf der Ebene des 
Begriffes selbst unter Zuhilfenahme seiner widersprüchlichen 
Bestimmungen, die eben jene Bewegung bewirken. Um es mal flapsig zu 
sagen: So was ähnliches, was Hegel für die noch werdende bürgerliche 
Gesellschaft gemacht hat - nur auf Basis des philosophischen 
Materialismus.

Ok, alles reichlich "abstrakt", aber vielleicht kann ja der Eine oder 
die Andere etwas damit anfangen.

Auf dieser Grundlage nun noch zu Franz:

Am Sunday 20 August 2006 23:30 schrieb Franz Nahrada:
Hallo Annette,

danke für die schöne Darlegung der Rolle der Form in der
Philosophiegeschichte. Aber gerade daraus gibt es keinen bestimmten
Übergang zur Frage, ob wir von Keimform in der Einzahl oder im Plural
reden.

Doch, denn ich denke, dass im Kern Annette das Gleiche gesagt hat wie 
ich nun in dieser Mail etwas ausführlicher.

Ich würde also das Wort "Keimform" nur in der Einzahl verwenden,
wenn es uns um genau einen bestimmten Übergang von einer
Gesellschaftsform zu einer anderen geht. Diese Keimform zeigt sich
dann in verschiedenen konkreten Erscheinungen, bzw. eben in der
Wechselwirkung ihrer verschiedenen Bestimmungen. Die Form und ihre
Bestimmungen sind zu unterscheiden.

Tja, da ist eben die Frage "wenn".  Wüßten wir also um die
Bestimmungen des "genau einen Übergangs" Bescheid, so könnten wir
natürlich "Wesen" und "Erscheinungen" fein säuberlich trennen.

Ja, du hast den Dreh- und Angelpunkt erfasst. Aber auch schon Annette 
hat begründet, warum aus von der _immanenten Bewegung_ des Gegenstandes 
ausgehend möglich sein kann (wenn auch sicher nicht einfach):

Am Friday 11 August 2006 14:42 schrieb Annette Schlemm:
Es geht um die innere Struktur der neuen Gesellschaft, die ihr
immanente Wechselwirkung der Bestimmungen, wodurch sie sich (in
Wechselwirkungen) auszeichnet.

Weiter Franz:
Ich versuchs mal an einer historischen Analogie. Der venetianische
Kapitalismus (der durch die Mobilisierung eines immensen
Handelskapitals entstand, dem die Seewege abgeschnitten wurden) und
das von ihm angestiftete oberitalienische Manufakturwesen im Rahmen
der "Villagiatura" waren sicher eine "Keimform" des Kapitalismus.
Trotzdem fehlen hier viele Merkmale freier Konkurrenz, es handelt
sich um eine aristokratische Gesellschaft. Ein wenig weiter nördlich
und ein wenig später bilden sich freie schweizerische
Bauernrepubliken mit demokratischer Verfaßtheit. Hier entwickelt sich
auch die Calvinistische Ethik. Auch eine Keimform. Die Keimformen
sind verschieden, sie wirken zusammen, sie stoßen aufeinander. eine
hegemoniefähige gesellschaftliche Entwicklung kann meines Erachtens
das Amalgam verschiedener Formen sein. Wenn Du so willst, entthalten
die frühen Formen "Wesensmomente" des Neuen. Aber die werden erst
voll identifizierbar, wenn wir das neue vor uns haben. Dann Wissen
wir daß die politische Form der bürgerlichen Gesellschaft ihre
Keimform hatte, genauso wie die ökonomische.

Ich glaube, dass du mit der Analogie nicht richtig liegst. Du nimmst 
hier zwei Vorformen (es gibt noch sehr viel mehr), die schließlich in 
die bürgerliche Form eingeflossen sind, und erklärst diese beide zur 
Keimform. Eske Bockelmann begründet in seinem Buch "Im Takt des Geldes" 
sehr genau und anschaulich, dass es _eine_ wesentliche Entwicklung war, 
die schließlich alle gesellschaftlichen Vorformen nach ihrem Bild 
ummodelte und sie gleichzeitig integrierte. Es war eben nicht die 
Herausbildung des "Taktrhythmus", die die neue Form der Taktwahrnehmung 
in der bürgerlichen Gesellschaft schuf (und insofern keine "Keimform"), 
sondern die Taktwahrnehmung änderte sich mit dem Prozess der 
Verallgemeinerung der Wertform.

Das ist für unsere Diskussion immens wichtig. Niemand bestreitet, daß
die Herausbildung der Freien Software interessante Aspekte und
Voraussetzungen für eine nähere Bestimmung einer möglichen neuen
Gesellschaft enthält und ich habe mich jahrelang leidenschaftlich für
die Anerkennung dieser Ansicht eingesetzt. Die Reduktion auf die
Frage: ist hier die Keimform oder nicht, sie bringt uns hingegen in
einen scholastischen Streit.

Diesen scholastischen Streit sollten wir vermeiden. Dazu mache ich mit 
dieser Mail einen Vorschlag: Keimform als Einzahl, weil Kategorie. 
Aber: keine konkrete Erscheinung _ist_ Keimform, sondern hat sich am 
Keimformbegriff zu bewähren, der sich erst in der Entwicklung befindet.

Daher kann ich mich aus Gründen der 
theoretischen Redlichkeit eher nur mit der Mehrzahl anfreunden.

Das wäre keine theoretische Redlichkeit, sondern Beliebigkeit, und ich 
unterstelle dir, dass du das nicht willst.

Das macht die Angelegenheit auch von einem evolutionären Standpunkt
plausibler: Formen entwickeln sich weiter in Interaktion mit der
Umwelt, sie werden komplexer, lebensfähiger. Das gilt meines
Erachtens auch für Gesellschaftsformen.

Dabei vergisst du die qualitativen Übergänge - und genau darum geht es 
bei der "Keimform".

Ciao,
Stefan

-- 
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