[ox-de] Forschungsprogramm Keimform (was: Re: Keimform - Einzahl oder Mehrzahl ?)
- From: Stefan Meretz <stefan.meretz hbv.org>
- Date: Mon, 28 Aug 2006 17:57:17 +0200
[cc. ox-de und wak]
Hallo Franz und Keimform-Interessierte,
mir scheint, dass über den Begriff Keimform vs. Keimform_en_ andere
Fragen ausgetragen werden als eben jene nach der theoretischen
Fundierung eines Begriffs. Nach der Art: Wer in der Einzahl redet, für
den gibt's nur die Freie Software, wer in Mehrzahl redet, der will
neben Freier Software andere Erscheinungen zur Geltung bringen.
Kann das sein?
Diese (thematische) Stellvertreter-Auseinandersetzung über persönliche
Lieblingsprojekte halte ich für unproduktiv. Mir scheint noch immer ein
Missverständnis beim Keimform-Begriff vorzuliegen, zu dem ich (in dem
Bestreben, eine Vereinfachung zu versuchen) vermutlich auch beigetragen
habe. Ich weiss nicht, ob es mir gelingt, das zu entwirren. Ich bitte
Annette um Hilfe und ggf. um Korrektur, die hier die entscheidenden
erkenntnistheoretischen Grundlagen auf ihren Webseiten bereitstellt
(vgl. die Links unten).
Der Begriff "Keimform" ist eine Kategorie, ein analytischer Begriff, das
Konkret-Allgemeine. Im Unterschied zu Beschreibungsbegriffen, die
einzelne Sachverhalte bezeichnen, sind Kategorien analytische
Denkmittel, um solche einzelnen Sachverhalte in ihrer Bestimmtheit und
ihren Beziehungen zu anderen einzelnen Sachverhalten erkennen zu
können. Kategorien bezeichnen _keine_ dinglichen Instanzen, sondern sie
bezeichnen Denkformen, nein, mehr noch, sie _sind_ Denkformen.
Nun gibt es Fälle, wo analytischer und beschreibender Begriff durch das
gleiche Wort repräsentiert werden. Hierbei wird es besonders schwer,
weil mit einem Wort sowohl Phänomen (durchaus als "Realabstration") wie
auch analytische Denkform bezeichnet werden. Ein gutes Beispiel ist der
Begriff "Wert". Mit fast allen Menschen kann man sich über "Wert"
unterhalten, aber kaum einer versteht, was "Wert" ist, weil es schwer
ist, den analytischen Gehalt des Begriffs "Wert" zu erschließen, der es
einem überhaupt erst ermöglicht, das gesellschaftliche Verhältnis, das
damit eigentlich gemeint ist, zu erkennen. Blenden wir diesen
komplizierten Fall aus.
Und blenden wir noch eine extrem wichtige Unterscheidung aus, nämlich
die von Abstrakt-Allgemeinem und Konkret-Allgemeinem. Zu den
unterschiedlichen Formen der Abstraktion:
http://www.thur.de/philo/abstrakt.htm
Und das hier, besonders die schöne Grafik unten:
http://www.thur.de/philo/as124.htm
Wenn ich hier "Kategorie" im Sinne des Konkret-Allgemeinen verwende,
dann ist damit die Einheit der widersprüchlichen Momente des Begriffs
gemeint, womit der Begriff die Bewegung umfasst. Das ist wichtig. Mehr
dazu auch hier:
http://www.thur.de/philo/as123.htm
So, nun zur Kategorie Keimform. Der Begriff Keimform ist in seiner
inneren Widersprüchlichkeit und Bewegung nur verstehbar, wenn man den
entwicklungslogischen Fünf-Schritt zu Grunde legt. Aus diesem Kontext
kann der Begriff nicht herausgelöst werden. Zum Fünf-Schritt vgl. z.B.:
http://de.wiki.oekonux.org/Huetten06/Protokolle/ArbeitUndHandlung/Holzkamp
Gleichwohl ist die Diskussion um die genaue Bestimmung des
Fünf-Schrittes nicht abgeschlossen. Annette hat auf Defizite bzw.
Verkürzungen in der Darstellung hingewiesen:
http://de.wiki.oekonux.org/Huetten06/Protokolle/ArbeitUndHandlung/Holzkamp/Talk
Klar geworden sein sollte nun, dass es eine Keimform als solcher
nicht "gibt". Klar geworden sein sollte damit auch, dass streng
genommen - und das will ich an dieser Stelle zu Abgrenzung einmal tun -
die Rede von der Freien Software _als_ Keimform falsch ist: Freie
Software _ist_ nicht eine Keimform, sondern weisst Merkmale auf, die
eine qualitativ neue Form der Vergesellschaftung hindeuten - nur
insofern "ist" Freie Software eine Keimform. Sie "ist" es gleichzeitig
nicht, als dass unmittelbar aus der Freien Software die neue
Gesellschaft erwachsen wird. Das wird nicht der Fall sein (das wäre die
Rede vom "Keim", s.u. nochmal unten das Zitat). Gleichwohl finden wir
die Formen einer qualitativ neuen Form der Vergesellschaftung nirgendwo
so deutlich in allerfrühesten Ansätzen vor wie bei der Freien Software
(das ist meine persönliche Auffassung, um die IMHO im Kern gestritten
wird und werden sollte).
Das meinte ich mit diesem Absatz:
Am Wednesday 19 July 2006 22:34 schrieb Stefan Meretz:
"Form" meint erstmal den Unterschied von "Inhalt" und "Form". Mit der
Betonung auf "Form" will ich (ich verwende es so) ausdrücken, dass es
nicht um den konkreten Inhalt geht, also zum Beispiel um die (Freie)
Software, sondern um die Form der Vergesellschaftung, wie sie eben
keimförmig bei Freier Software zu beobachten ist und wie sie
gesellschaftlich verallgemeinerbar wären, also auch mit anderen
"Inhalten" funktionieren könnten. Daher ist auch die Diskussion um
die Keimform-Kriterien so wichtig, weil sie bestimmen, was wir sehen.
Im Unterschied dazu ist mit "Keim" verbunden, dass dieser bereits
alle Bestandteile in embryonaler Form enthält, dass der Inhalt also
eigentlich schon "da" ist, dass alles schon angelegt ist, und nun
"nur noch" wachsen muss. Das ist eine Assoziation, die IMHO in die
Irre führt oder zu wenig fruchtbaren Diskussionen. Denn dann wäre
Freie Software als "Keim" nur eine rabiate Techno-Utopie - und das
greift wohl "etwas" zu kurz.
Weil Keimform keine Bezeichnung eines real-konkreten einzelnen
Sachverhalts ist, sondern analytischer Begriff (eine Kategorie), folgt
daraus, dass es nicht mehrere Keimformen geben _kann_. Mit Hilfe dieser
Kategorie können wir durchaus unterschiedliche realhistorische früheste
Formen einer qualitativ anderen Form der Vergesellschaftung erkennen -
genau das ist ja der Sinn der Kategorie. Diese unterschiedlichen
einzelnen Erscheinungsformen sind - so sie mit dem analytischen Begriff
der "Keimform" erfasst werden können - wesensmäßig identisch, wenn auch
in ihrer konkreten Erscheinung verschieden: Sie gehören zum _gleichen_
Konkret-Allgemeinen, sie verweisen in ihrer Entwicklunglogik auf die
_gleiche_ neue Form der Vergesellschaftung. Anderenfalls ist der
Begriff Keimform verfehlt bzw. unterbestimmt.
Das bedeutet, dass der Begriff Keimform bestimmten Voraussetzungen
entsprechen muss. Es kann nicht so sein, dass wir die Kriterien (vgl.
http://en.wiki.oekonux.org/GermForm/Criteria/Talk ) uns beliebig so
zuschnitzen, dass wir alle erwünschten Projekte darunter subsummieren
können - sozusagen um des lieben Friedens willen. Es kann nur so sein,
dass der Keimformbegriff im Gesamt des Fünf-Schrittes durch ein
eigenständiges wissenschaftliches Verfahren fundiert wird, der im Kern
klären muss, welcher Gestalt diese "neue Form der Vergesellschaftung"
ist, was die wesentlichen Bestimmungen sind, wie reale
gesellschaftliche Errungenschaften in einer anderen Weise abgebildet
werden können etc. Als Beispiel mag die Anforderung von El Casi (auf
der Oekonux-Liste) dienen, die er durch "Geld" repräsentiert sieht:
Am Wednesday 09 August 2006 22:17 schrieb El Casi:
Aber die Möglichkeit, Geld als unverselles Maß im Tausch zu
betrachten, als universelles Zahlungsmittel und so weiter, senkt
die Transaktionskosten der Koordination und macht damit
Kooperation in einem Ausmaß, in einer Form und in einer
Komplexität möglich, wie es vorher nicht vorstellbar war.
Denn es vereinfacht den Zugang zu solchen Entscheidungen...
Das alles macht es nicht einfacher. Deswegen sprach ich in Hütten von
einem "Forschungsprogramm", das wir damit vor uns haben. Es wird darauf
keine schnellen Antworten geben - das muss uns klar sein. Wir können
auch nicht erwarten, dass es ein "Ende" des Forschungsprogrammes in dem
Sinne geben kann, dass irgendwann "klar" ist, was denn nun eine
Keimform "ist" bzw. wie denn nun die "neue Form der Vergesellschaftung"
konkret aussieht, denn - wie mehrfach betont - "klar" ist der
Entwicklungsprozess und darin die "Keimform" erst, wenn der Prozess
gelaufen ist. Abschluss des Forschungsprogramms und "Erreichen" der
Freien Gesellschaft fallen also zusammen.
Wir sollten uns hüten, in Utopismus zu verfallen, also wünsch-dir-was zu
spielen. Mitten in der gesellschaftlichen Umbruchsphase stehend, wissen
wir weder, "wohin" die Vergesellschaftungsform umbricht - selbstredend
sind weitaus barbarische Formen als die des "normalen" Kapitalismus
denkbar - noch wissen wir, ob wir mit unseren Beobachtungen richtig
liegen. Ob wir richtig liegen _könnten_, dabei kann uns ein fundierter
Begriff der "Keimform" (und der Freien Gesellschaft) helfen. So ein
Forschungsprogramm kann damit zunächst nur eine Art vergleichender
Kategorialanalyse sein, also eine denkende Bewegung auf der Ebene des
Begriffes selbst unter Zuhilfenahme seiner widersprüchlichen
Bestimmungen, die eben jene Bewegung bewirken. Um es mal flapsig zu
sagen: So was ähnliches, was Hegel für die noch werdende bürgerliche
Gesellschaft gemacht hat - nur auf Basis des philosophischen
Materialismus.
Ok, alles reichlich "abstrakt", aber vielleicht kann ja der Eine oder
die Andere etwas damit anfangen.
Auf dieser Grundlage nun noch zu Franz:
Am Sunday 20 August 2006 23:30 schrieb Franz Nahrada:
Hallo Annette,
danke für die schöne Darlegung der Rolle der Form in der
Philosophiegeschichte. Aber gerade daraus gibt es keinen bestimmten
Übergang zur Frage, ob wir von Keimform in der Einzahl oder im Plural
reden.
Doch, denn ich denke, dass im Kern Annette das Gleiche gesagt hat wie
ich nun in dieser Mail etwas ausführlicher.
Ich würde also das Wort "Keimform" nur in der Einzahl verwenden,
wenn es uns um genau einen bestimmten Übergang von einer
Gesellschaftsform zu einer anderen geht. Diese Keimform zeigt sich
dann in verschiedenen konkreten Erscheinungen, bzw. eben in der
Wechselwirkung ihrer verschiedenen Bestimmungen. Die Form und ihre
Bestimmungen sind zu unterscheiden.
Tja, da ist eben die Frage "wenn". Wüßten wir also um die
Bestimmungen des "genau einen Übergangs" Bescheid, so könnten wir
natürlich "Wesen" und "Erscheinungen" fein säuberlich trennen.
Ja, du hast den Dreh- und Angelpunkt erfasst. Aber auch schon Annette
hat begründet, warum aus von der _immanenten Bewegung_ des Gegenstandes
ausgehend möglich sein kann (wenn auch sicher nicht einfach):
Am Friday 11 August 2006 14:42 schrieb Annette Schlemm:
Es geht um die innere Struktur der neuen Gesellschaft, die ihr
immanente Wechselwirkung der Bestimmungen, wodurch sie sich (in
Wechselwirkungen) auszeichnet.
Weiter Franz:
Ich versuchs mal an einer historischen Analogie. Der venetianische
Kapitalismus (der durch die Mobilisierung eines immensen
Handelskapitals entstand, dem die Seewege abgeschnitten wurden) und
das von ihm angestiftete oberitalienische Manufakturwesen im Rahmen
der "Villagiatura" waren sicher eine "Keimform" des Kapitalismus.
Trotzdem fehlen hier viele Merkmale freier Konkurrenz, es handelt
sich um eine aristokratische Gesellschaft. Ein wenig weiter nördlich
und ein wenig später bilden sich freie schweizerische
Bauernrepubliken mit demokratischer Verfaßtheit. Hier entwickelt sich
auch die Calvinistische Ethik. Auch eine Keimform. Die Keimformen
sind verschieden, sie wirken zusammen, sie stoßen aufeinander. eine
hegemoniefähige gesellschaftliche Entwicklung kann meines Erachtens
das Amalgam verschiedener Formen sein. Wenn Du so willst, entthalten
die frühen Formen "Wesensmomente" des Neuen. Aber die werden erst
voll identifizierbar, wenn wir das neue vor uns haben. Dann Wissen
wir daß die politische Form der bürgerlichen Gesellschaft ihre
Keimform hatte, genauso wie die ökonomische.
Ich glaube, dass du mit der Analogie nicht richtig liegst. Du nimmst
hier zwei Vorformen (es gibt noch sehr viel mehr), die schließlich in
die bürgerliche Form eingeflossen sind, und erklärst diese beide zur
Keimform. Eske Bockelmann begründet in seinem Buch "Im Takt des Geldes"
sehr genau und anschaulich, dass es _eine_ wesentliche Entwicklung war,
die schließlich alle gesellschaftlichen Vorformen nach ihrem Bild
ummodelte und sie gleichzeitig integrierte. Es war eben nicht die
Herausbildung des "Taktrhythmus", die die neue Form der Taktwahrnehmung
in der bürgerlichen Gesellschaft schuf (und insofern keine "Keimform"),
sondern die Taktwahrnehmung änderte sich mit dem Prozess der
Verallgemeinerung der Wertform.
Das ist für unsere Diskussion immens wichtig. Niemand bestreitet, daß
die Herausbildung der Freien Software interessante Aspekte und
Voraussetzungen für eine nähere Bestimmung einer möglichen neuen
Gesellschaft enthält und ich habe mich jahrelang leidenschaftlich für
die Anerkennung dieser Ansicht eingesetzt. Die Reduktion auf die
Frage: ist hier die Keimform oder nicht, sie bringt uns hingegen in
einen scholastischen Streit.
Diesen scholastischen Streit sollten wir vermeiden. Dazu mache ich mit
dieser Mail einen Vorschlag: Keimform als Einzahl, weil Kategorie.
Aber: keine konkrete Erscheinung _ist_ Keimform, sondern hat sich am
Keimformbegriff zu bewähren, der sich erst in der Entwicklung befindet.
Daher kann ich mich aus Gründen der
theoretischen Redlichkeit eher nur mit der Mehrzahl anfreunden.
Das wäre keine theoretische Redlichkeit, sondern Beliebigkeit, und ich
unterstelle dir, dass du das nicht willst.
Das macht die Angelegenheit auch von einem evolutionären Standpunkt
plausibler: Formen entwickeln sich weiter in Interaktion mit der
Umwelt, sie werden komplexer, lebensfähiger. Das gilt meines
Erachtens auch für Gesellschaftsformen.
Dabei vergisst du die qualitativen Übergänge - und genau darum geht es
bei der "Keimform".
Ciao,
Stefan
--
Start here: www.meretz.de
________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: http://www.oekonux.de/projekt/
Kontakt: projekt oekonux.de