Re: [ox] Re: Verantwortung übernehmen!
- From: Stefan Meretz <stefan.meretz hbv.org>
- Date: Thu, 13 Jul 2006 10:53:39 +0200
Hi Jac,
die Diskussion um Selbstentfaltung ist sehr wichtig, sie macht einen
Kern von Oekonux aus. Deswegen gehe ich ausführlich auf deine Mail ein.
Ich möchte dich bitten, Vermutungen über meine Position auszuführen.
Also zum Beispiel zu schreiben: "Wenn ich dich richtig verstehe, dann
meinst du, dass..." Das vermeidet, auf eine Fight-Ebene von vermuteten
Unterstellungen etc. zu rutschen.
Am Wednesday 12 July 2006 19:55 schrieb Jac:
Das sehe ich anders. IMHO ist es ein Ziel, "Alleingänge" maximal zu
befördern. Das ist nämlich die Essenz des Begriffes
Selbstentfaltung. Dazu gehört allerdings auch, es wirklich im Sinne
der Selbstentfaltung zu betreiben, wonach meine Entfaltung die
Entfaltung der Anderen zur Voraussetzung hat - und umgekehrt.
Anderenfalls ist es keine Selbstentfaltung, sondern letztlich
Selbstschädigung. Wer sich auf Kosten anderer durchsetzt, schadet
sich letztlich selbst. Leider ist diese Erkenntnis nicht einfach zu
gewinnen und vor allem nicht einfach zu leben.
Die dahinter zu vermutende Definition von Selbstentfaltung
verwendet einen m.E. nach falschen Autonomiebegriff, der
eine autistische Unabhängigkeit von anderen Menschen ein-
und befördert.
Das ist nicht der Fall, ganz im Gegenteil. Ich gehe ganz grundsätzlich
von der gesellschaftlichen Natur des Menschen aus. In der "Definition"
sind die allgemeinen Anderen doch auch enthalten.
Bitte guck mal in die Oekonux-Einführung aus der Kladde hier:
http://www.oekonux.de/einfuehrung/index.html
Da steht: "Selbstentfaltung des Einzelnen ist die unmittelbare Bedingung
der Selbstentfaltung aller. Und umgekehrt."
Das ist Teil des "rough consensus" in Oekonux - der gleichwohl immer
wieder kritisiert werden kann. Oder vereindeutigend zugspitzt werden
kann, wie ich das tue:-)
Selbstentfaltung kann nicht ohne den durch
andere gegebenen Rahmen begriffen werden
Genau, und das steht da auch.
- und sei dieser auch nur, daß die Freiheit zur Selbstentfaltung
notwendigerweise an der Freiheit der jeweils anderen endet. Totale
Freiheit im Sinne einer Autonomie des "Alleinganges" wird noch nicht
einmal vom Anarchismus eingefordert.
Nach meiner Meinung sind Freiheit und Selbstentfaltung keine Gegensätze.
Sie können genau dann als Gegensätze _erscheinen_, wenn gerade keine
Selbstentfaltung - die die Anderen als Entfaltungsvoraussetzung als
Teil der eigenen Selbstentfaltung versteht - vorliegt, sondern ist
sozusagen das bürgerlichen Pendant: die "Selbstverwirklichung". Diese
geht in der Tat von einem isolierten, eigentlich ungesellschaftlichen
Individuum aus. Hier trifft dann auch deine Kritik vollumfänglich zu.
Alleingänge im Sinne einer auf gemeinsamen Entscheidungen
egalitärer Natur über das gemeinsame Projekt aufsattelnden
Verantwortlichkeit sind massiv zu fördern, nicht Alleingänge,
Alleingänge im Sinne der Selbstentfaltung sind zu befördern. Sie
schließen die _individuelle_ Verantwortlichkeit mit ein. Meine
Intervention, die ich am 6.7.2006 begonnen habe, ist in diesem Sinne
ein Alleingang. Ich übernehme dafür die Verantwortung, lasse mich
kritisieren, diskutiere meinen Vorschlag mit anderen, beziehe andere
Vorschläge mit ein. Im traditionellen Verständnis ist es dann
eigentlich kein "Alleingang" mehr. Doch das übersieht, dass es immer
individuelle Menschen sind, die - "allein" im Sinne von "individuell" -
handeln: Sie entscheiden sich letztlich "allein", etwas zu tun oder zu
lassen. Und diese individuellen Menschen sind zu stärken, sind zu
ermutigen, so dass sie verantwortungsvoll handeln können.
Statt von "allein", was nach "isoliert" klingt, ist es aber vielleicht
besser von "individuell" zu sprechen:-)
Was ich damit betone, ist die individuelle Verantwortung, was ich
tendenziell obsolet machen möchte, sind dir von dir
vorgeschlagenen "gemeinsamen Entscheidungen egalitärer Natur". Verstehe
ich dich richtig, dass du damit "demokratische Entscheidungen" meinst?
Meiner Meinung nach schließen sich Egalität und Entscheidung aus.
in welchen einer zum Entscheidungs- und ausführenden Organ
stellvertretend für alle anderen wird. Dieser Konflikt ist im Archiv
aus den Diskussionen auf ox und pox Ende 2005, Anfang 2006
deutlich herauslesbar.
Da stimme ich dir zu: Es geht nicht um Stellvertretung.
Soziale Strukturen geraten in Gefahr, so schreibst Du, Stefan
Merten, wenn die bedeutende(n) Person(en) die Struktur verlassen -
im Umkehrschluß bedeutet dies, daß die soziale Struktur in ihrem
Verhalten, ihrer Themen- wahl und ihrer Diskussionsführung sich an
der/den bedeutende(n) Perso- n(en) ausrichten muß, dieser bzw.
diesen gefallen muß, um diese bzw. diesen in der sozialen Struktur
zu halten.
Meine Meinung dazu ist: Wenn sich jede/r in dem oben beschriebenen
Sinne an ihrer/seiner Selbstentfaltung ausrichtet, dann sind die
Andere als Entfaltungsbedingung für mich automatisch mit im Blick,
dann empfinde ich auch automatisch Verantwortung für den
gemeinsamen Prozess wie für mich. Und dann braucht auch keine
"soziale Struktur" (da ist doch keine Entität) sich an irgendwem
etwa unter Aufgabe anderer Wünsche etc. ausrichten. Das Leitbild
ist nicht Altruismus, Aufgabe und Verzicht, sondern
Selbstentfaltung.
Tatsächlich jedoch ist der oben stehende Schluß nur eine Beschreibung
des gewöhnlichen Prozesses in unstrukturierten Gruppen. In diesen
richten sich weniger bedeutende Personen an bedeutenderen Personen
aus - und sei dies nur, daß bestimmte Fragen nicht gestellt werden,
man seine unfertigen Theorien nicht einzubringen wagt, weil
bedeutendere Persönlichkeiten sehr viel ausgefeiltere Theorien zum
Projekt beisteuern oder beigesteuert haben, man nicht auffallen oder
anecken mag etc.
Ok, das ist eine Beschreibung, die vermutlich zutrifft. Diese
Beschreibung sollten wir jedoch nicht umstandslos zur Theorie wenden in
dem Sinne, dass das immer so sei. Sondern wir sollten sie kritisch
reflektieren und überlegen, was wir tun können, um es jeder Person zu
ermöglichen, sich in Oekonux einzubringen, um etwa so etwas
wie "bedeutend/weniger bedeutend" nicht entstehen zu lassen, so dass
manche meinen, sich daran ausrichten zu müssen etc.
Ferner muß mit Selbstentfaltung in einem Rahmen des Endes der
eigenen Freiheit an der Freiheit der anderen (für Freiheit kann auch
Selbstentfaltung eingesetzt werden!) eine gewisse Aufgabe und ein
bestimmter Verzicht verbunden werden - der Verzicht auf Positionen
und Handlungen, die andere in ihrer Freiheit oder Selbstentfaltung
beeinträchtigen. Aufgabe und Verzicht stehen deshalb nicht in
Opposition zur Selbstentfaltung.
Vielleicht haben wir auch unterschiedlich Begriffe von "Verzicht", also
ich habe für den Begriff eigentlich keine Verwendung. Ich versuche es
zu erklären.
Ganz generell haben Menschen immer Handlungsalternativen: Sie können so
oder auch anders handeln. Oder sie können etwas tun oder es lassen.
Dieses "etwas nicht zu tun" ist für mich kein Verzicht, sondern wie die
anderen Alternativen auch eine begründete Handlungsmöglichkeit.
Beispiel: Ich springe nicht vom Berg runter, auch wenn ich fliegen
möchte. Dafür habe ich gute Gründe: Ich will nicht nur einmal fliegen.
Ich überlege mir, stattdessen ein Flugdrachen zu besorgen etc...
Der "Verzicht" ist hier also umgangssprachlich für "begründeterweise
etwas nicht tun" zu verstehen und nicht als "ich unterdrücke einen
Wunsch". Durch das Nicht-tun eröffne ich mir neue Möglichkeiten. Eine
Handlung ist also auch nicht bloß ein isoliertes Ereignis, sondern Teil
meiner Handlungen in meinem Leben.
Ich habe oben begründet, warum ich keinen Gegensatz von Selbstentfaltung
und Freiheit sehe. Ich kann es andersherum zuspitzen: Der anscheinende
Gegensatz von Freiheit und Entfaltung (im Sinne der
o.g. "Verwirklichung") ist Ausdruck unserer gesellschaftlichen
Verhältnisse, in der das Verhältnis von Freiheit und Entfaltung _nur
so_ gedacht werden kann. Die Ursache dafür ist die zur Selbstentfaltung
komplett gegensätzliche Logik, die nämlich lautet: Ich kann mich nur
durchsetzen, wenn ich mich auf Kosten anderer durchsetze. Das
widerspiegelt die Konkurrenzverhältnisse in der Warengesellschaft. In
solchen Verhältnisse müssen Freiheit und Entfaltung in einen Gegensatz
geraten - in einer Freien Gesellschaft nicht, so meine These.
Ciao,
Stefan
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