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Re: [ox] Weltliche Religion



Hallo Jacob,

sehr schönes Statement!

Jac wrote:
Das Gewaltverhältnis, welches eine bestimmte Persönlichkeitsentwicklung 
jedes heute der autoritären Kultur des  europäisch-asiatischem Kapitalismus
(wobei der amerikanische Kapitalismus zum europäischen zu rechnen ist)
unterworfenen Individuums erzwingt, sich nicht an der Autonomie der
eigenen Lebenswelt, sondern an fixen äußeren Ordnungen zu orientieren,
deren Änderbarkeit all zu oft völlig in Vergessenheit gerät, ändert sich über-
haupt nicht. Die Folgen dieses Gewaltverhältnisses verführen dazu, aus der
gespaltenen Persönlichkeitsentwicklung heraus Herrschaft zu gewähren,
entweder Kalif anstelle des Kalifen zu werden oder eigene Macht, Bedeutung 
und Größe dadurch zu erlangen, daß man einem Mächtigeren dient, dessen
Größe auch die eigene Bedeutung aufwertet.

Das ist - im Kern - m.E. nichts anderes als eine sinnvolle Formulierung
der Version (2a) des "pred-Satzes" von C.R. Nur mal als Anmerkung,
weshalb ich mich am "Phänomen C" festgebissen habe, trotz Dauer-Trolling.

Hörigkeit gegenüber einer äußeren Ordnung der Dinge muß also er-
zwungen werden, damit Menschen nicht ihr Empfinden, sondern die
Gültigkeit dessen, was als "normal" akzeptiert ist, in ihrer späteren
Entwicklung an die erste Stelle setzen. Nur so lernen Menschen, jeden 
zu akzeptieren, der ihnen Befehle in Übereinstimmung mit dieser
äußeren Ordnung erteilt, ihm das Recht zur Herrschaft einzuräumen,
jedenfalls solange, bis man selbst Kalif anstelle des Kalifen werden
und selbst gegenüber Dritten Befehle in Übereinstimmung mit der
äußeren Ordnung erteilen kann. Welche Ausgestaltung diese äußere
Ordnung erfährt, ist  a u s t a u s c h b a r , solange Menschen ge-
zwungen werden, sich gegen ihr Empfinden mit einer äußeren Ord-
nung zu identifizieren.

Daraus leite ich meine Kernthese ab, dass der Kapitalismus "die
pubertäre Form der Freien Gesellschaft" ist, denn (mein mawi-Paper) "es
wird das alte (und wenigstens auf psychischer Ebene wohlfeile)
Kommandoverhältnis auf der letzten der möglichen Stufen reproduziert,
dem Verhältnis zwischen dem 'freien' Unternehmer und den von ihm
ausgebeuteten Arbeitskräften. Das mag auch Gründe im Stand der
Produktivkräfte haben, zeigt aber, dass gegenüber vorkapitalistischen
Verhältnissen nur noch ein kleiner Schritt zu einer wirklich freien
Gesellschaft erforderlich ist: Diese letzte Bastion autoritativer
Kommandostrukturen ist zu schleifen."

... und sich mit ihr zu identifizieren der Zögling im Moment
der Spaltung seiner Selbst und seiner weiteren Persönlichkeitsent-
wicklung erlernt hat. Sie zu negieren, ohne eine andere äußere
Ordnung an ihre Stelle zu setzen, konfrontiert ihn mit seiner Angst
vor der frühkindlichen Hilflosigkeit und Schwäche und läuft darauf
hinaus, wahnsinnig zu werden, die bis dato entwickelte Persönlich-
keit als entfremdet in Frage zu stellen. Man sucht verzweifelt nach
einer äußeren Veränderung der Verhältnisse, um sich der eigenen
Furcht vor der eigenen Lebendigkeit nicht stellen zu müssen, um die
entfremdete Persönlichkeit dadurch zu retten, indem irgend eine
Organisation der äußeren Ordnung einem die Selbstveränderung
abnimmt.  

Das ist wohl im Wesentlichen Wilhelm Reichs Faschismus-Analyse und
zeigt, dass die ungeheure Ähnlichkeit stalinistischer und faschistischer
Phänomene HIER eine gemeinsame Wurzel hat. Das birgt m.E. gerade für
linke Gesellschaftsutopien - und da zähle ich die Freie Gesellschaft
dazu - enormen Sprengstoff. Auch "Phänomen C" kann man m.E. NUR unter
diesem Blickwinkel sinnvoll interpretieren (und damit letztlich nur
psychotherapeutisch "behandeln").

Wobei unsere "Demokratie" ein Wahlkönigtum auf Zeit eines Kanzlers,
Ministerpräsidenten oder Präsidenten ist, der seinem Gewissen, aber nicht
dem Willen des Volkes unterworfen ist. Wer die Kröte der Orientierung an
einer äußeren Ordnung statt an seinem in seiner Autonomie verankerten
Empfinden geschluckt hat, befolgt die Befehle einer absolutistischen Par-
teienregierung ebenso strikt wie die Befehle eines Monarchen - eben weil
ja beide im Namen der höheren Ordnung der Dinge, was "normal" sei,
auftreten. 

Was in Christoph Spehrs Alien-Buch (kennst du das?) auch als Metapher
bis auf den Punkt gebracht ist - die Befehle kommen ja nur scheinbar vom
Monarchen bzw. dem Aufsichtsratsvorsitzenden. Denn wenn der nicht die
RICHTIGEN Befehle erteilt, dann ist er's die längste Zeit gewesen.
Selbst bzw. GERADE als 99%-pred. Das kommt bei C.R. ÜBERHAUPT NICHT  vor.

Viele Grüße, HGG

-- 

  Prof. Dr. Hans-Gert Graebe, Inst. Informatik, Univ. Leipzig
  Augustusplatz, D-04109 Leipzig, Raum 5-53	
  tel. : +49 341 97 32248
  email: graebe informatik.uni-leipzig.de
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