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Re: [ox] Autonomiebegriff (was: Weltliche Religion)



Hallo Stefan,

um es gleich vorweg zu nehmen - ich lebe mit einer älteren
Lebensgefährtin zusammen und wir haben keine Kinder.

Am Mittwoch, 24. Mai 2006 05:08 schrieb Stefan Seefeld:
Jac wrote:
Hallo Stefan,

Am Dienstag, 23. Mai 2006 23:39 schrieb Stefan Seefeld:
Mich w"urde interessieren, wie Du das Verh"altnis zwischen Individuen
und Gesellschaft charakterisierst. Ich habe den Eindruck, Deine
Individuen sind a priori autonom und werden erst
zwangs-vergesellschaftet durch mehr oder weniger autorit"are Eingriffe
in ihre Autonomie.

Jeder Mensch kommt a priori autonom - in diesem Falle als autonom lebens-
fähig! - zur Welt. Diese Autonomie der eigenen Existenz, getrennt von der
Mutter und allen anderen Menschen, beinhaltet bestimmte Bedürfnisse nach
Kontakt, Nähe, Ansprache, eine rudimentäre Sexualität und die Fähigkeit,
sich empathisch in andere einzufühlen sowie eine ganze Reihe eigener Ge-
fühle. Die Autonomie der eigenen Existenz ist im Säuglingsalter geprägt
von unmittelbarer Gegenwart, in der erst Jahre später Morgen oder nächste
Woche eine Bedeutung erhalten. Gefühle und Bedürfnisse stellen sich da-
her unmittelbar und können nicht auf später vertagt werden.

Dieser Paragraph verbl"ufft mich. In der Definition in der ich 'Autonomie'
kenne, w"urde das 'Bed"urfnis nach Kontakt' genau beweisen dass der Mensch
*nicht* autonom ist, und schon gar nicht autonom geboren wird.

Eben deshalb habe ich eine andere Definition zugrundegelegt. Hier jedoch
reflektiert Autonomie die Unabhängigkeit des Säuglings nach seiner Ge-
burt vom Mutterleib.

S"auglinge haben einen extrem gut ausgepr"agten Sinn f"ur Kommunikation.
Nat"urlich erfolgt diese Kommunikation auf einem dem S"augling
entsprechenden Niveau, in einer rudiment"aren 'Sprache'.
Und was das 'sich Einf"uhlen' betrifft, so glaube ich dass Menschen es
in dem Masse lernen (durch Erziehung !) wie sie Mensch *werden*.

Dein Glaube in allen Ehren - er ist in Opposition zur Forschung über die
Fähigkeiten von Säuglingen und Kleinkindern. Diese bringen die empa-
thischen Fähigkeiten schon mit auf die Welt, erlernen sie also nicht erst
später. Ebenso wie für das Über-Ich lassen sich besonders aktive Regionen
des aktiven Gehirns dafür inzwischen "in der Röhre" nachweisen.

In autoritären Gesellschaften trifft der Säugling auf von der
Notwendigkeit einer Pädagogik überzeugte Eltern. Diese sind häufig
überzeugt, ihr Kind nicht zu sehr verwöhnen zu dürfen, indem sie jedes
mal, wenn ihr Kind schreit, seinem Schreien nachgeben. Das Gerücht,
Säuglinge würden vielfach sogar grundlos schreien, findet sich sogar in
mancher moderner Erziehungsfibel.

P"adagogik ist also ein Missverst"andnis, beziehungsweise ein Machtmittel
autorit"arer Eltern ?

Eine Fehlinterpretation der Wirklichkeit von Säuglingen sowie ein Machtmittel, 
gespeist von tradierten Überzeugungen, die durch die Jahrhunderte in der 
Erziehungsliteratur immer wieder auftauchen. Mit 3 bis 4 Jahren versucht das
Kind später noch einmal, die fremde Ordnung durch eigene Aktivitäten zu be-
einflussen und damit zu einer vollständigen, alle Bedürfnisse und Gefühle be-
rücksichtigenden Persönlichkeitsentwicklung zu gelangen - die sogenannte 
Trotzsphase. In dieser treten Erwachsene meist als Autoritäten auf, die die- 
sen Trotz des Kleinkindes zu brechen suchen - angeleitet von tradierten 
Erziehungsüberzeugungen, die sich in Deutschland auf den sogenannten 
"Turnvater Jahn" und frühere Quellen zurückführen lassen. Die leiblichen 
Kinder dieser Erziehungsklassiker endeten meistens im Irrenhaus, nachdem 
an ihnen die erzieherischen Ideen dieser Klassiker ausprobiert wurden.

Oft beruhigen sie sich damit, ihren Säugling gerade vor 10 Minuten frisch
gewickelt zu haben, seinem augenblicklichen Wimmern und Schreien könne
also kein wirkliches Bedürfnis zugrunde liegen. Indem sich Eltern in
dieser Weise beruhigen, stellen sie ihre Wahrnehmung der Bedürfnisse des
Säug- lings über die Wahrnehmung seiner Bedürfnisse durch den Säugling
selbst. Dieser lernt, daß seine Bedürfnisse nur dann Befriedigung
erlangen, wenn sie in die von seinen Eltern aufgestellte Ordnung passen,
sich äußern, wenn diese gewillt sind, sich dem Säugling zuzuwenden.
Äußern sich diese zu einem anderen unpassenden Zeitpunkt, wenn die dem
Säugling fremde Ord- nung keine Zuwendung seiner Eltern vorsieht, wird er
mit seinen drängenden, nicht zu vertagenden Bedürfnissen sich selbst
überlassen. So lernt er früh, wie wenig diese dem Säugling fremde Ordnung
seiner Eltern - oder anderen Erziehungsberechtigten - durch eigene
Anstrengung (Wimmern, Schreien) zu beeinflußen ist.

Du malst hier ein gar grausiges Bild. Wieviele Eltern handeln Deiner
Meinung nach danach ? 

Einige tausend Säuglinge und Kleinkinder werden jedes Jahr schwer
mißhandelt oder zu Tode geprügelt. Man geht davon aus, daß nur etwa
10 % aller Fälle aktenkundig werden. Bei solchen Eltern - aus allen
Schichten der Gesellschaft - wird das angeblich grundlose Schreien
des Säuglinges häufig als Bösartigkeit interpretiert, dem man durch
Schläge, Mißhandlungen und/oder Nahrungsentzug beizukommen
versucht. 

Diese Spitze des Eisberges mag als Hinweis gelten, daß immer noch
viel zu viele nach den beschriebenen Erziehungsgrundsätzen der 
autoritären Gesellschaft handeln. Zumal Schläge und Liebesentzug
("Wenn Du nicht machst, was ich Dir sage, dann habe ich Dich nicht
mehr lieb!") in der Bevölkerung als angemessene Mittel der Erziehung 
gelten.

Grüsse,
Jacob
________________________________
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Kontakt: projekt oekonux.de



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