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Re: [ox] Weltliche Religion



Jac wrote:
HGG: Das verstehe ich nicht. Weder beim frühen Marx (etwa der "Deutschen
Ideologie" und den Versuchen, den Hegel "vom Kopf auf die Füße" zu
stellen) noch beim späten Marx (dem der genauen ökonomischen Analyse)
sehe ich Tendenzen zu einem "Gut-Böse-Schema".  Auch scheint er mir in
beiden Phasen die "kapitalistische Totalität" im Fokus gehabt zu haben,
wobei ich beim jungen M. die Betonung auf _Totalität_ sehe, beim alten
M. auf _kapitalistische_. Deshalb ist vielleicht auch beim jungen Marx
mehr an Elementen zu finden, die über die kap. Gesellschaft im engeren
Sinne hinausweisen, beim späten dagegen deren Analyse genauer.

Dabei ist diese Tendenz doch offensichtlich. Das Proletariat - dazu 
ausgeguckt, die klassenlose Gesellschaft zu schaffen - wird aufge-
wertet, sind daher die Guten. Die Bourgeoisie wird dagegen abge-
wertet, da ihre Macht und ihre gesellschaftliche Formation über-
wunden werden muß. Ergebnis: ein Gut-Böse-Schema.

Ist das Marx oder dein Verständnis von Marxismus? Schließlich beginnt
etwa das Komm. Manifest mit 6 Seiten, auf denen die kulturelle Bedeutung
der Bourgeoisie herausgestrichen wird, ehe dann die Widersprüche der
(damalig) heutigen Gesellschaft thematisiert werden. Er war m.E. immer
bemüht, solche Gut/Böse-Schemata als menschengemachte
interessengeleitete Beziehungen zu entlarven - siehe seine ganze
Fetisch-Diskussion. Auch der Gedanke des Überwindens speist sich aus
zwei Überlegungen: einem historischen Analogieschluss (so war es schon
immer, wenn Verhältnisse zu Fesseln für die Produktivkraft-Entwicklung
wurden) und einem utopischen Element (wie könnten denn Verhältnisse
eines "danach" aussehen). Auch hier sehe ich kein "Gut-Böse-Schema".

Ein weiteres Gut-Böse-Schema kann aus dem Bruch zwischen
jenen, die "das Licht gesehen" haben und jenen, die noch für den
"wissenschaftlichen" Sozialismus gewonnen werden müssen ...

"Proletarier und Kommunisten" - gut, das ist heute wohl wirklich
obsolet.  Bei Moglen übrigens ersetzt durch "Freedom and Creation".

.... und ihre Freiheit als "Einsicht in die Notwendigkeit"
interpretieren, ...

Holloway schreibt das Engels zu, dem Verwalter und in vielen Punkten
ersten Deformator des Marxschen Erbes. Dort mehr dazu ...

... Der Marxismus verwirklicht in der Praxis dadurch von Anfang an
Züge einer weltlichen Religion.

Gut, das ist für mich Marxismus und nicht mehr Marx. Ich will das ja
nicht restaurieren, sondern mich kritisch daran reiben.

Der ware Kern des Vorwurfes einer sogenannten "Pred-Ideologie"
gegen den Marxismus besteht in der Rechtfertigung des kapitalis-
tischen Zeitalters als oekonomisch notwendiger Vorstufe des Er-
reichens einer klassenlosen Gesellschaft durch Karl Marx und
Friedrich Engels.  

Das sehe ich sogar noch viel schärfer: Der Kapitalismus ist die
pubertäre Form der Freien Gesellschaft. Habe ich in den cc-thesen
versucht zu begründen. Bin eben ein schlimmer Pred. Asche auf mein Haupt.

HGG

-- 

  Prof. Dr. Hans-Gert Graebe, Inst. Informatik, Univ. Leipzig
  Augustusplatz, D-04109 Leipzig, Raum 5-53	
  tel. : +49 341 97 32248
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