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[ox] Wikipedia in der Krise



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Stefan Meretz: Wikipedia in der Krise

Freie Produktionsweise in einer unfreien Welt

Mittlerweile ist die freie Online-Enzyklopädie Wikipedia 
interessierten Menschen ein Begriff. Mit dazu beigetragen hat eine 
Kette von »Rückschlägen«, über die genüsslich bis hämisch in der 
Presse berichtet wurde. Auch un/kritische KritikerInnen fühlen sich 
bestätigt, kann doch in ihrem Weltbild unter der Sonne des Kapitals 
nichts über das Kapital Hinausweisendes gedeihen. Was ist geschehen?

<em>Fall 1</em>: Im November 2005 wurde entdeckt, dass seit fast zwei 
Jahren anonym Artikel aus DDR-Lexika bei Wikipedia eingestellt 
wurden. Während außerhalb des Projekts der Schaden in einer 
ML-Unterwanderung vermutet - wenn auch nicht belegt - wurde, sah das 
Projekt die Kopien als Problem der Urheberrechtsverletzung 
(Abkürzung: URV). Normalerweise werden URV-Fälle schnell entdeckt, 
weil zum Wikipedia-Software-Universum auch spezialisierte Tools 
gehören, die das Web regelmäßig nach potenziellen URV durch 
Wikipedia-Artikel absuchen. Im Falle der DDR-Lexika gab es jedoch 
keine Referenzen im Web, da mit dem Staat auch die Lexika 
verschwanden oder bestenfalls im Antiquariat landeten.

<em>Fall 2</em>: Ende November 2005 berichtete der bekannte 
US-Journalist John Seigenthaler in einer Kolumne für die Zeitung »USA 
Today« über den Wikipedia-Artikel zu seiner eigenen Person, in dem 
ihm eine Verwicklung in den Mord an US-Präsident Kennedy unterstellt 
wurde. Wie sich später herausstellte, wurde der Fake von einem 
Angestellten in Nashville fabriziert, um einen Kollegen zu 
beeindrucken - als »Scherz«. In der deutschsprachigen Ausgabe gab es 
einen ähnlichen Fall, bei dem fälschlicherweise der Tod des bekannten 
Informatikers Bertrand Meyer gemeldet wurde.

<em>Fall 3</em>: Ende Januar 2006 flog auf, dass Mitarbeiter des 
US-Kongresses ca. 1000 Einträge über Senatoren und Abgeordnete 
geschönt hatten. Im Falle des demokratischen Abgeordneten Matty 
Meehan wurden nicht eingehaltene Wahlversprechen gelöscht, was zur 
Sperrung des Rechners des Praktikanten führte, der 
eingestandenermaßen von seinem Chef zur »Korrektur« beauftragt wurde.
»Vandalismus« nennt das die Wikipedia-Community.

Hinzu kommt die kontinuierliche Auseinandersetzung um die Kernfrage 
des Projektes: Welcher Artikel kommt in welcher Form und mit welchen 
Informationen in die Enzyklopädie und welcher nicht? Ein Beispiel 
dafür ist die juristische Auseinandersetzung um die volle 
Namensnennung des Hackers »Tron«, die zeitweise zur Abschaltung von 
wikipedia.de führte 
(www.spiegel.de/netzwelt/politik/0,1518,399943,00.html). Formaler 
Rahmen sind dafür die »Richtlinien und Konventionen« des Projektes, 
in denen der »neutrale Standpunkt« und die »Einhaltung des 
Urheberrechts« eine zentrale Rolle spielen. Zitat: »Ziel des 
Enzyklopädieprojektes ist die Zusammenstellung bekannten
Wissens.« Was aber ist das? So gehört ein Artikel zum Stichwort 
»Wertkritik« zum <em>bekannten</em> Wissen, während das Stichwort 
»Wertabspaltungsansatz« nur als Link, nicht aber als eigenständiger 
Artikel akzeptiert wurde.

Die Produktionsweise von Wikipedia ist neu, sie ist vergleichbar mit 
der Freier Software. In ihrem Kern ist sie nicht wertförmig und nicht 
demokratisch. Die »Fälle« zeigen die Konfrontation mit der Wert- und 
Rechtsform der ordinären Warengesellschaft, in der Wikipedia 
überleben muss - zur Zeit auf Spendenbasis und unter strikter 
Akzeptanz des Urheberrechts. Sie zeigen auch die vielfältigen
Versuche zur Instrumentalisierung von Wikipedia für proprietäre 
Interessen. So weit, so auch aus der Freien Software bekannt.

Die Fälle zeigen aber auch die Chancen alternativer Regulationsformen
gesellschaftlicher Konflikte. Die linke Bewegung klebt an den 
Fetischformen von Staat und Demokratie. Und auch die Wertkritik hat, 
wenn sie denn einmal den Blick über den Tellerrand der Kritik 
schafft, nicht mehr zu bieten als »Räte«, irgendwie. Die Freie 
Software und Wikipedia hingegen probieren transdemokratische Formen 
der gesellschaftlichen Regulation praktisch aus. Hier werden 
Erfahrungen gemacht, die für eine Freie Gesellschaft von zentraler
Bedeutung sind.

Die Herausforderung, vor der emanzipatorische Bewegungen stehen, ist 
die Frage nach der nicht-wertförmigen Vergesellschaftung. Schon diese 
Formulierung »nicht-wertförmig« zeigt, dass wir es noch nicht 
schaffen, aus der einfachen Negation in eine doppelte Negation 
überzugehen. Dieser Übergang wird sich auch nicht denkend und 
theorieförmig vollziehen, sondern kann nur das Ergebnis bewusster 
Reflexion der »wirklichen Bewegung« (Marx über den Kommunismus) sein.
Zur bewussten Reflexion, zur begrifflichen Widerspiegelung wirklicher 
Bewegung, die eine Kritik der praktischen Bewegung einschließt, ist 
jedoch eine offene, lernbereite und nicht-moralische Haltung 
Voraussetzung.

Wer (zu Recht) beklagt, dass Wikipedia auch hochproblematische Artikel 
enthält (Kritik an Rassismus und Sexismus in Wikipedia: 
www.no-racism.net/article/1336/) und danach das Projekt als Ganzes 
bewertet, hat nicht verstanden, dass Wikipedia nur den 
durchschnittlichen Stand gesellschaftlicher Gedankenformen 
widerspiegeln kann - und nicht ein Wunschgebilde an emanzipatorischer 
Theorie. Wer Wikipedia derart beurteilt, der übersieht die 
wesentlichen und eigentlich interessanten Punkte: nämlich die Art und 
Weise, wie sich Wikipedia organisiert angesichts der Anforderung, ein 
globales Projekt in über 100 Sprachen zu betreiben. Diese 
Organisationsformen sind die Anfänge der Vergesellschaftungsformen 
jenseits von Markt und Staat. Sie wissen es nicht, aber sie tun es - 
einfach, weil die Fetischformen nicht mehr zur Regulation taugen. 
Dass dies kein »reiner« Prozess sein kann, liegt auf der Hand.

Die Linke hingegen ist im »Widerstandsmodus« befangen und versteht 
nicht, dass sich Widerstand an die Formen des Alten kettet und nicht 
von diesen abhebt: Zu widerstehen bedeutet »nur«, unter Bedingungen 
der zunehmenden Barbarisierung die eigenen Lebensbedürfnisse immanent 
zur Geltung zu bringen. Eine Widerstandsbewegung kann die 
Barbarisierung als Ausdruck der objektiven Krisenentfaltung der 
Warengesellschaft nur bremsen und partiell aufhalten, sie kann ihr 
aber noch nicht einmal denkend etwas Neues entgegensetzen. Denn das
scheint mir klar: Das Neue ist nicht nur einfach das Nicht-Alte. Ein 
Neues wird sich nur durchsetzen, wenn es die Lebensbedürfnisse der 
Menschen besser als das Alte erfüllen kann. Danach ist zu suchen.


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Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: http://www.oekonux.de/projekt/
Kontakt: projekt oekonux.de



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