[ox] Wikipedia in der Krise
- From: Stefan Meretz <stefan.meretz hbv.org>
- Date: Sat, 1 Apr 2006 12:30:14 +0200
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Stefan Meretz: Wikipedia in der Krise
Freie Produktionsweise in einer unfreien Welt
Mittlerweile ist die freie Online-Enzyklopädie Wikipedia
interessierten Menschen ein Begriff. Mit dazu beigetragen hat eine
Kette von »Rückschlägen«, über die genüsslich bis hämisch in der
Presse berichtet wurde. Auch un/kritische KritikerInnen fühlen sich
bestätigt, kann doch in ihrem Weltbild unter der Sonne des Kapitals
nichts über das Kapital Hinausweisendes gedeihen. Was ist geschehen?
<em>Fall 1</em>: Im November 2005 wurde entdeckt, dass seit fast zwei
Jahren anonym Artikel aus DDR-Lexika bei Wikipedia eingestellt
wurden. Während außerhalb des Projekts der Schaden in einer
ML-Unterwanderung vermutet - wenn auch nicht belegt - wurde, sah das
Projekt die Kopien als Problem der Urheberrechtsverletzung
(Abkürzung: URV). Normalerweise werden URV-Fälle schnell entdeckt,
weil zum Wikipedia-Software-Universum auch spezialisierte Tools
gehören, die das Web regelmäßig nach potenziellen URV durch
Wikipedia-Artikel absuchen. Im Falle der DDR-Lexika gab es jedoch
keine Referenzen im Web, da mit dem Staat auch die Lexika
verschwanden oder bestenfalls im Antiquariat landeten.
<em>Fall 2</em>: Ende November 2005 berichtete der bekannte
US-Journalist John Seigenthaler in einer Kolumne für die Zeitung »USA
Today« über den Wikipedia-Artikel zu seiner eigenen Person, in dem
ihm eine Verwicklung in den Mord an US-Präsident Kennedy unterstellt
wurde. Wie sich später herausstellte, wurde der Fake von einem
Angestellten in Nashville fabriziert, um einen Kollegen zu
beeindrucken - als »Scherz«. In der deutschsprachigen Ausgabe gab es
einen ähnlichen Fall, bei dem fälschlicherweise der Tod des bekannten
Informatikers Bertrand Meyer gemeldet wurde.
<em>Fall 3</em>: Ende Januar 2006 flog auf, dass Mitarbeiter des
US-Kongresses ca. 1000 Einträge über Senatoren und Abgeordnete
geschönt hatten. Im Falle des demokratischen Abgeordneten Matty
Meehan wurden nicht eingehaltene Wahlversprechen gelöscht, was zur
Sperrung des Rechners des Praktikanten führte, der
eingestandenermaßen von seinem Chef zur »Korrektur« beauftragt wurde.
»Vandalismus« nennt das die Wikipedia-Community.
Hinzu kommt die kontinuierliche Auseinandersetzung um die Kernfrage
des Projektes: Welcher Artikel kommt in welcher Form und mit welchen
Informationen in die Enzyklopädie und welcher nicht? Ein Beispiel
dafür ist die juristische Auseinandersetzung um die volle
Namensnennung des Hackers »Tron«, die zeitweise zur Abschaltung von
wikipedia.de führte
(www.spiegel.de/netzwelt/politik/0,1518,399943,00.html). Formaler
Rahmen sind dafür die »Richtlinien und Konventionen« des Projektes,
in denen der »neutrale Standpunkt« und die »Einhaltung des
Urheberrechts« eine zentrale Rolle spielen. Zitat: »Ziel des
Enzyklopädieprojektes ist die Zusammenstellung bekannten
Wissens.« Was aber ist das? So gehört ein Artikel zum Stichwort
»Wertkritik« zum <em>bekannten</em> Wissen, während das Stichwort
»Wertabspaltungsansatz« nur als Link, nicht aber als eigenständiger
Artikel akzeptiert wurde.
Die Produktionsweise von Wikipedia ist neu, sie ist vergleichbar mit
der Freier Software. In ihrem Kern ist sie nicht wertförmig und nicht
demokratisch. Die »Fälle« zeigen die Konfrontation mit der Wert- und
Rechtsform der ordinären Warengesellschaft, in der Wikipedia
überleben muss - zur Zeit auf Spendenbasis und unter strikter
Akzeptanz des Urheberrechts. Sie zeigen auch die vielfältigen
Versuche zur Instrumentalisierung von Wikipedia für proprietäre
Interessen. So weit, so auch aus der Freien Software bekannt.
Die Fälle zeigen aber auch die Chancen alternativer Regulationsformen
gesellschaftlicher Konflikte. Die linke Bewegung klebt an den
Fetischformen von Staat und Demokratie. Und auch die Wertkritik hat,
wenn sie denn einmal den Blick über den Tellerrand der Kritik
schafft, nicht mehr zu bieten als »Räte«, irgendwie. Die Freie
Software und Wikipedia hingegen probieren transdemokratische Formen
der gesellschaftlichen Regulation praktisch aus. Hier werden
Erfahrungen gemacht, die für eine Freie Gesellschaft von zentraler
Bedeutung sind.
Die Herausforderung, vor der emanzipatorische Bewegungen stehen, ist
die Frage nach der nicht-wertförmigen Vergesellschaftung. Schon diese
Formulierung »nicht-wertförmig« zeigt, dass wir es noch nicht
schaffen, aus der einfachen Negation in eine doppelte Negation
überzugehen. Dieser Übergang wird sich auch nicht denkend und
theorieförmig vollziehen, sondern kann nur das Ergebnis bewusster
Reflexion der »wirklichen Bewegung« (Marx über den Kommunismus) sein.
Zur bewussten Reflexion, zur begrifflichen Widerspiegelung wirklicher
Bewegung, die eine Kritik der praktischen Bewegung einschließt, ist
jedoch eine offene, lernbereite und nicht-moralische Haltung
Voraussetzung.
Wer (zu Recht) beklagt, dass Wikipedia auch hochproblematische Artikel
enthält (Kritik an Rassismus und Sexismus in Wikipedia:
www.no-racism.net/article/1336/) und danach das Projekt als Ganzes
bewertet, hat nicht verstanden, dass Wikipedia nur den
durchschnittlichen Stand gesellschaftlicher Gedankenformen
widerspiegeln kann - und nicht ein Wunschgebilde an emanzipatorischer
Theorie. Wer Wikipedia derart beurteilt, der übersieht die
wesentlichen und eigentlich interessanten Punkte: nämlich die Art und
Weise, wie sich Wikipedia organisiert angesichts der Anforderung, ein
globales Projekt in über 100 Sprachen zu betreiben. Diese
Organisationsformen sind die Anfänge der Vergesellschaftungsformen
jenseits von Markt und Staat. Sie wissen es nicht, aber sie tun es -
einfach, weil die Fetischformen nicht mehr zur Regulation taugen.
Dass dies kein »reiner« Prozess sein kann, liegt auf der Hand.
Die Linke hingegen ist im »Widerstandsmodus« befangen und versteht
nicht, dass sich Widerstand an die Formen des Alten kettet und nicht
von diesen abhebt: Zu widerstehen bedeutet »nur«, unter Bedingungen
der zunehmenden Barbarisierung die eigenen Lebensbedürfnisse immanent
zur Geltung zu bringen. Eine Widerstandsbewegung kann die
Barbarisierung als Ausdruck der objektiven Krisenentfaltung der
Warengesellschaft nur bremsen und partiell aufhalten, sie kann ihr
aber noch nicht einmal denkend etwas Neues entgegensetzen. Denn das
scheint mir klar: Das Neue ist nicht nur einfach das Nicht-Alte. Ein
Neues wird sich nur durchsetzen, wenn es die Lebensbedürfnisse der
Menschen besser als das Alte erfüllen kann. Danach ist zu suchen.
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