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[ox] Re: OHA-Fragen



Hi Stefan,

Stefan Merten wrote:
KarlD: Klar, mailtechnisch bin ich hier präsent. Aber ich habe
sozusagen "nix zu sagen" - anders gesagt: ich habe "keine Macht" -
was ich gar nicht negativ sehe - das entspannt die Lage ein
bisschen.

Ja, ich schätze das auch oft: Ich kann mich auch mal auf jemensch
anderes verlassen. Dazu braucht dieser jemensch dann aber auch die
entsprechende Macht.

Das ist der springende Punkt: Stimmt diese These? (Holloway) nimmt sie
bereits im Titel seines Buchs gründlich auseinander: "Die Welt verändern
ohne die Macht zu übernehmen". Er unterscheidet sehr deutlich zwischen
"kreativer Macht" und "instrumenteller Macht".

Tja, was tut mensch, wenn mensch seinen Kopf nicht durchsetzen kann...

Anstatt stur meinen Kopf durchzusetzen versuche ich zu argumentieren.
Damit wird m.E. nachvollziehbar, warum ich etwas so oder so will. Und
ich versuche auf Arumente einzugehen. Und - wo möglich - versuche ich
durch Praxis zu zeigen. Auch bei einer Argumentation kann es natürlich
unterschiedliche Gewichtungen geben, aber so ist die Welt. So ist es
bei der Freien Software auch und das ist m.E. gut so.

Kant unterscheidet an der Stelle zwischen dem "öffentlichen Gebrauch der
Vernunft" im weitgehend unverbindlichen "Raisonnieren", dem
Durchdeklinieren von Varianten, dem Signalisieren vn Präferenzen etc.,
also der ganzen Palette diskursiver Möglichkeiten im *Vorfeld* des
Tätigwerdens, und dem "privaten Gebrauch der Vernunft" im Handeln. Denn
irgendwann musst eine Entscheidung treffen, die du dann auch zu
verantworten hast, und dabei bist du mit dir allein. Wobei selbst das
Verstreichen-Lassen einer Entscheidungsmöglichkeit eine Entscheidung
ist, der bekannte Spruch "wer nichts macht, der macht auch keine Fehler"
also nur bedingt Gültigkeit beanspruchen kann.

Mit diesem deinem Tun setzt du eine Datenspur (iSv HGG) in die Welt, die
andere beobachten und daraus zu einem viel größeren Teil - behaupte ich
mal - als aus deinem Raisonnieren ihr Bild von dir reproduzieren.  Wird
besonders kritisch, wenn die Widersprüche zwischen dem Raisonnieren und
dem Tun (die immer da sein werden) den diskursiven Zusammenhang selbst
belasten. Dann eben wird es "delikat".

Ob es besser wäre, wenn jedeR hier ihren Kopf nach Belieben
durchsetzen könnte? Ich glaube nicht.

DIESE Frage ist wohl kaum mit JA oder NEIN zu beantworten, sondern immer
ein Spagat. Nach meinem Verständnis übrigens auch in einer Freien
Gesellschaft.

Wichtig ist für mich halt, dass die Dinge transparent, bei Bedarf
beeinflussbar und - wenn möglich - änderbar bleiben. Im Internet ist
beides sehr viel leichter als in der weniger virtuellen Welt. 

Und umgekehrt vieles schwerer, weil wichtige unbewusste
Kommunikationskanäle (die ganze "Körpersprache", Mimik, Gestik) fehlen
und selbst durch intensives Schreiben nur sehr schwer zu ersetzen sind.

Das ist in der Tat das, was in der emanzipatorischen Szene Gang und
Gäbe ist. Ich beobachte das nun schon seit fast 20 Jahren und bin
mittlerweile an einem Punkt angelangt, wo ich über die vielen DejaVus
nicht mehr lachen kann, weil sie vor allem eins markieren: Stillstand.

Stillstand ist manchmal Bewegung auf einer längeren Zeitskala. Oder
anders herum: Mit "revolutionärer Ungeduld" kannst du schnell zarte
Pflänzchen plattwalzen, und hinterher wunderst du dich, dass da nix
keimt. Du neigst stark zu Projektionen eigener Erwartungshaltungen in
andere. Ein handwerklicher Grundfehler - unter Psychotherapeuten.

Ein intrinsisches Problem emanzipatorischer Gruppen ist natürlich,
dass kritisch denkende Menschen nicht innerhalb einer Organisation
plötzlich aufhören kritisch zu denken. Dadurch gibt es zwar viel
Innovationspotential aber auch viel Reibungspotential - manchmal mehr,
als für die Organisation gut ist. Damit müssen wir wohl alle leben.

Das klingt ja wie ein Seufzer. Ich finde gerade *das* toll, die
vielfältigen Gestaltungsansprüche. Wir müssen lernen damit umzugehen.
Vielleicht, indem wir erst einmal Torvalds "I won't" immer wieder leise
vor uns hin flüstern, wenn es mal wieder in den Fingern juckt.

Und wir können ja mal darüber nachdenken, *warum* es so schwer fällt.
Tanenbaum war es ja auch schwer gefallen - und er hat damit Minix in den
Sand gesetzt. Trotz oder weil er mehr "Profi" war als Torvalds (zu der
Zeit)?

Hier wird m.E. wieder das gemeinsame Ziel wichtig. ...

Vielleicht sollten wir auch hier stärker auf das Werden schauen und
weniger auf die Vision. Die *Erinnerung* an das Geleistete bewahren und
nicht die Ungeduld über das Noch-Nicht die Oberhand gewinnen lassen.
Dann sieht Oekonux wesentlich respektabler aus. Wie du siehst - wir sind
sofort mitten im Wissensthema, und zwar an einer *sehr* praktischen
Frage der "Sozialisierung von Wissen" (iSv HGG).

Viele Grüße, HGG

-- 

  Prof. Dr. Hans-Gert Graebe, Inst. Informatik, Univ. Leipzig
  Augustusplatz, D-04109 Leipzig, Raum 5-53	
  tel. : +49 341 97 32248
  email: graebe informatik.uni-leipzig.de
  Home Page: http://www.informatik.uni-leipzig.de/~graebe

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: http://www.oekonux.de/projekt/
Kontakt: projekt oekonux.de



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