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Re: [ox] Re: Universalismus



Hallo allerseits,

Stefan Merten wrote:
Die Aufklärung war - ich schätze darüber sind wir uns einig - eine
Denkrichtung, die insbesondere Religion - bzw. um es mit Hardt/Negri
zu sagen: Transzendentes - ablehnt. Daraus kann in letzter Konsequenz
nur folgen, dass es keine Ideologie geben kann, die eine irgendwie
geartete "natürliche" und damit unhinterfragbare Geltung hat.

Auch mit dem Begriff "Aufklärung", das habe ich während der
Arbeit an den Chemnitzer Thesen gelernt, sollte man vorsichtig
umgehen. Kant, Hegel, Marx, Frankfurter Schule, Bloch sind sicher
wichtige Etappen, in denen verschiedene Facetten von "Aufklärung"
unterschiedlich stark durchdekliniert wurden.  Allein schon die
Differenzen zwischen Marx und Hegel ("vom Kopf auf die Füße
stellen") im heutigen Licht einer stärkeren Betonung der
"Selbstemanizaption" (Holloway) neu durchzusehen wäre interessant.
Ganz zu schweigen von Differenzen zwischen dem frühen und dem späten
Kant (nach dessen Rousseau-Rezeption). (Capurro-95) ist auch in
dieser Frage eine wichtige Referenz.  Und (Holloway), den ich gerade
mit viel Interesse lese. Ob du dich in dieser Tradition nicht
gründlich überhebst, wenn du GPL-Gesellschaft als "positive
Aufhebung *der* Aufklärung" zu denken gedenkst? In These 22 meiner
Chemnitzer Thesen wird jedenfalls weniger ambitioniert von der
"Vollendung des Projekts der Moderne" gesprochen. Wobei ich lange
gerätselt habe, wie die Begriffe "Aufklärung" und "Moderne"
gegeneinander stehen, bis ich von fachkundigen Leuten erfahren habe,
dass es für Kant und Hegel wohl im Wesentlichen Synonyme waren.

Das "Aufklärung" dabei die Religion nicht nur als "Opium des Volkes"
wie du hier negativ besetzt, sondern ihre kulturelle Rolle als
Gesellschaft auch positiv stabilisierend sehr differenziert
wahrnimmt, kannst du etwa in Werner Wittenberges Aufsatz nachlesen
(genaue Quellenangabe in den CC-Thesen, Link auf meiner
Texte-Seite).

Wurde mir übrigens am Freitag noch einmal schlaglichtartig deutlich in
einer Aufführung von Schillers "Räuber", wo sich der Diener den
Weisungen des Franz Moor zum Töten widersetzt mit dem Hinweis auf
das eigene Seelenheil. Und zwar als ein Argument, das stärker ist
als seine sonstige Unterwürfigkeit.

Indem der Universalismus die Inhalte der Aufklärung in der
europäischen Variante als "natürlich" fabuliert, stellt er die
Aufklärung in diesem Punkt also quasi mit sich selbst auf den Kopf. Es
handelt sich also um eine anti-aufklärerische Tendenz - auch wenn sie
auf einer bestimmten historischen Form von Aufklärung aufsetzt.

Das was du als Universalismus bezeichnest findet sich in anderen
Diskursen unter Objektivismus wieder und ist in den Kontext der
Aufklärung wohl vor allem mit den Hegelschen Überlegungen zu Staat
und Recht hineingetragen worden.  Dass dieser Objektivismus mit dem
wenigstens die Naturwissenschaften der letzten 200 Jahre prägenden
Szientismus und letztlich Positivismus eng verbunden ist, findest du
bei (Holloway) sehr schön ausargumentiert.  Eine Passage daraus zum
Thema "Wissen und marxistische Traditionen", die davon seit Engels
durchgehend "infiziert" sind, habe ich ins Wiki gestellt.

(Holloway) zeigt auch sehr schön, wie etwa deine Art, einen Begriff
wie "Information" zu fassen, ihm eine "Identität" zu geben, selbst
Produkt dieser Denktradition ist:
<zitat>
Auf der Basis des Seins zu denken heißt einfach zu identifizieren.
Auf der Basis des Tuns zu denken heißt zu identifizieren und im
selben Atemzug diese Identifikation zu negieren.  Dies heißt, die
Unzulässigkeit des Begriffs gegenüber dem, was begrifflich gefasst
werden soll, anzuerkennen. ... Auf der Basis des Tuns zu denken
heißt daher gegen und über unsere eigenen Gedanken hinaus zu
denken. ... wir sind Indigene-aber-mehr-als-das, wir sind
Frauen-aber-mehr-als-das ... Für die Stabilität des Kapitalismus ist
nicht die besondere Zusammensetzung von Identitäten (schwarz - weiß,
baskisch - spanisch, Frau - Mann) von Bedeutung, sondern Identität
als solche. Ein Kampf, der sich nicht gegen Identifizierung als
solche wendet, fügt sich leicht in die sich verändernden Muster
kapitalistischer Herrschaft ein.
</zitat>

Auf unsere Frage runtergebrochen: *Wenn* Information ein Verhältnis
ist, und das siehst du ja inzwischen auch so, *dann* ist der Versuch
ihrer begrifflichen Fassung *automatisch* mit einer Fetischisierung
(eben einer Verdinglichung) verbunden. Das ist nicht schlimm, wenn
und so lange diese Fetischisierung sichtbar bleibt, wir die
Begrenztheit unserer Begriffe im Vergleich zur Vielfalt der Welt
nicht aus dem Auge verlieren, kurz (Holloway) "Fetischisierung als
Prozess" auffassen. Das ist der Kern des Informationismus-Vorwurfs von
(Capurro-95) wie im Wiki von mir zitiert und auch der Kern meines
dauernden Plädoyers gegen einen dinglichen Informationsbegriff.
<zitat src="(Holloway), S.125">
Die Auffassung, dass Fetischisierung Prozess ist, stellt den
Schlüssel für den Gedanken dar, die Welt könne ohne die Eroberung
der Macht verändert werden. Wenn wir den Gedanken der
Fetischisierung-als-Prozess aufgeben, geben wir den Gedanken der
Revolution als Selbstemanzipation auf. Die Auffassung, dass der
Fetischismus starrer Fetischismus ist, kann nur zu der Auffassung
führen, Revolution bedeute die Veränderung der Welt _im Namen_ der
Unterdrückten. Damit wird die Eroberung der Macht zwangsläufig in
den Mittelpunkt der Überlegungen gestellt. ... Eine Revolution, die
nicht "im Namen von" ist, sondern selbst-entwickelt, braucht nicht
einmal über die "Eroberung der Macht" nachzudenken.
</zitat>
So viel mal zu einem Link zwischen der Art, wie wir uns hier um
Theorie bemühen, und dem Zentrum des OHA-Komplexes (wie er sich mir
derzeit darstellt, füge ich einschränkend hinzu).

Wenn das Gegenteil von "Universalismus" wäre, anderer Leute
Horizonte zu respektieren, ...

Das ist in der Tat das Gegenprogramm: Alles ist kulturell bedingt und
historisch eingebettet. Daraus folgt automatisch, dass es keine
universalen Werte geben kann. Es dennoch zu behaupten ist dann für
mich nur noch die den EuropäerInnen mit ihrer ach so ruhmreichen
Geschichte eigene Hybris. Ekelhaft...

So? Und was ist mit aus einem globalen interkulturellen Diskurs
erwachsenen Vereinbarungen wie der "Charta der Menschenrechte"?

Viele Grüße, HGG

-- 

  Prof. Dr. Hans-Gert Graebe, Inst. Informatik, Univ. Leipzig
  Augustusplatz, D-04109 Leipzig, Raum 5-53	
  tel. : +49 341 97 32248
  email: graebe informatik.uni-leipzig.de
  Home Page: http://www.informatik.uni-leipzig.de/~graebe

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Web-Site: http://www.oekonux.de/
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Kontakt: projekt oekonux.de



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