Re: [ox] Re: Wissens- und/oder Informationsgesellschaft?
- From: Hans-Gert Gräbe <graebe informatik.uni-leipzig.de>
- Date: Tue, 26 Jul 2005 12:31:16 +0200
Hallo Stephan,
Stephan Eissler wrote:
DASS wir überhaupt in der Lage sind, diese heiligen Kriege zu führen, hängt
damit zusammen, dass wir uns - durch unsere Sozialisation - in Bezug auf
sinnlich (akustisch, visuell) wahrnehmbare Formen bereits in ausreichendem
Maße ähnliches Wissen angeignet haben. Dies versetzt und in die Lage,
miteinander zu kommunizieren und über Begriffe zu streiten.
Nein, und dafür ist gerade die hier geführte Diskussion wieder ein sehr
praktisches Beispiel: Die Schärfung der Begriffe, die Bewertung von
Erfahrung und damit die Konstituierung als (in SMn's Terminologie)
individuelles Wissen geschieht *in* der Kommunikation. Allerdings muss
man dabei vom "Schnappschuss-Denken" runter und die Prozesshaftigkeit,
die gemeinsame Dynamik von individuellem Wissen, Begriffen,
Kommunikation und Sozialisation zusammendenken. Agens dieser Dynamik
sind "Akte gelingender Kommunikation", womit wir schon wieder bei
Janichs Prämisse angekommen sind.
Was versprechen wir uns von dieser Diskussion zum Informationsbegriff?
=> Als Minimalziel sicherlich, dass wir verstehen was andere auf der Liste
jeweils meinen, wenn sie "INFORMATION" schreiben oder sagen - auch wenn wir
ihr Verständnis nicht unbedingt teilen.
=> Als Maximalziel , dass wir am Ende der Diskussion alle auf der Liste
weitgehend dieselben Denkinhalte mit dem Wort "INFORMATION" verbinden.
Ja.
In beiden Fällen (in einem Fall mehr, im anderen weniger) hätte der Diskurs
(also die Kommunikation) dann dazu geführt, dass sich das Wissen der
Listenteilnehmer in bestimmten Bereichen einander angleicht.
Nein, aus der Tatsache, dass "alle auf der Liste weitgehend dieselben
Denkinhalte mit dem Wort 'INFORMATION' verbinden", folgt einzig, dass
der Kontext der weiteren Diskussion geschärft wurde. Wie weit eine
Annäherung oder gar Angleichung von individuellem Wissen erfolgt, steht
auf einem ganz anderen Blatt.
Für mich hängt die Frage, (1) ob etwas eine Information ist, und (2) was für
eine Information etwas ist, schlicht vom Bezugssystem ab:
Es macht bereits einen großen Unterschied, wenn man zwei verschiedene Menschen
(bzw. ihre kognitiven Systeme) als Bezugssysteme annimmt. Dabei handelt es
sich einerseits zwar um den gleichen Typus eines Bezugssystems, weshalb die
Reize/Signale auf die selbe Art und Weise prozessiert bzw. "verarbeitet"
werden, andererseits wurden jedoch beide kognitive Systeme im Laufe der Zeit
aufgrund unterschiedlicher externer Reize/Signale jeweils unterschiedlich
konfiguriert.
Genau das ist der Input, den die Kommunikationspartner mitbringen und es
grenzt doch schon an ein Wunder, dass die beiden bei so viel
Unterschiedlichkeit doch "miteinander können". Hat ja
entwicklungsgeschichtlich auch sehr lange gebraucht, bis es so weit war.
Für Janichs Ansatz ist die Frage zentral, wie sich hier Kohärenz
herstellt, ein intersubjektiver Kontext entsteht und in welchen
Bewegungsformen er sich manifestiert und entwickelt. Das spielt sich
aber auf einer anderen Abstraktionsebene ab, so wie ich bei einer
Linux-Installation übers Netz auch nicht darüber nachdenke, dass da ein
Netzprotokoll etc. drunter liegt und wie das funktioniert.
Damit wird deutlich, dass ich mich entweder fragen kann,
(1)was alle diese Dinge gemeinsam haben, die für irgendein Bezugssystem eine
Information darstellen, oder
(2) auf welche Weise etwas für einen bestimmten Typus eines Bezugssytems zur
Information werden kann; bzw. welcher Art die Beziehung zwischen einem
bestimmten Typus von Bezugssystem zu jenen Entitäten ist, die für dieses
Bezugssystem eine Information darstellt.
Das ist ein statisches Bild. Janichs Ansatz insistiert darauf, hier
statt des Begriffspaars Information - Bezugssystem eher Kommunikation -
Kontext mit starker wechselseitig rückgekoppelter Dynamik zu verwenden:
Kontext ermöglicht Kommunikation, (gelingende) Kommunikation modifiziert
Kontext. Koevolution langwelliger (Kontext) und kurzwelliger
(Kommunikation) Phänomene. Deswegen auch bei Fuchs-Kittowski der Fokus
"... in kreativ-lernenden Organisationen". Das "Bezugssystem" ist selbst
in einem dort präzisierten Sinne "lernend".
Daher bin ich (im Übrigen mit dem Großteil der Techniksoziologie) der Meinung,
dass man von den Möglichkeiten, die eine neue Technologie bietet, noch lange
nicht auf deren letztendlichen gesellschaftlichen Auswirkungen (und damit auf
eine daraus resultierende Gesellschaftsform) schließen kann.
Mir drängt sich hier der Vergleich mit dem Begriff der Industriegesellschaft
bzw. des Industriezeitalters auf, der ja durchaus seine Berechtigung hat, und
im Grunde vor allem auf die Technologie und ihre ALLGEMEINEN sozioökonomische
Konsequenzen rekurriert. Dabei lässt der Begriff der Industriegesellschaft
aber weitgehend offen, wie sich Gesellschaft letztlich zur technischer
Entwicklung verhält: Neben der kapitalistischen Gesellschaftsform schien ja
eine kommunistische durchaus denkbar; ...
Aber gerade dieses beispiel zeigt sehr deutlich, dass praktisch
umgesetzte Gesellschaftsentwürfe viel stärker als gedacht an den
technologischen Stand gekoppelt sind. New Age und Realsozialismus sind
zwei Spielarten fordistischer Produktionsweise, wie Kurz ("Kollaps der
Modernisierung") sehr deutlich herausgearbeitet hat. Insofern ist eine
Analyse der Dynamik technologischer Bedingungen der heutigen Zeit, wie
von Eben Moglen, wichtig, und vielleicht auch ein besseres Verständnis
der Dynamik der Kondratjew-Wellen dieser technologischen Umbrüche. Etwa
meine These 10 der Chemnitzer Thesen, dass wir uns bereits am Beginn der
*zweiten* postfordistischen Welle befinden; die erste mit der
Basisinnovation Computertechnik/Algorithmisierung, die neue mit der
Basisinnovation Internet/Digitalisierung. Das von Käther
http://www.rosalux.de/cms/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Utopie_kreativ/162/162kaether.pdf
beschriebene Phänomen
<cite>Unsere Zeit bietet wie keine andere eine gewaltige Sammlung von
Wissen in Textform dar. Die gesamte Geistesgeschichte der Menschheit
wird auf CD-Roms, auf Internetseiten, in Antiquariaten und im Buchhandel
dargeboten, alles ist gut vernetzt und so leicht zugänglich, daß es eine
Schande wäre, dieses Material nicht wach und offenen Sinnes zu
gebrauchen.</cite>
hat in den letzten 5 Jahren eine exponentielle Dynamik angenommen.
Daher halte ich es für sehr sinnvoll in Analogie zur 'Industriegesellschaft
bzw. dem Industriezeitalter' von der 'Informationsgesellschaft bzw. dem
Informationszeitalter' zu sprechen.
Eine mögliche Ausprägung einer Informationsgesellschaft wäre für mich dann die
Wissensgesellschaft (oder in einer extremen Ausprägung der Wissensgesellschaft
eben auch die GPL-Gesellschaft). Als Gegenpol zur Wissensgesellschaft wäre für
mich eine andere mögliche Ausprägung von Informationsgesellschaft das, was ich
in einem früheren Vortrag (wen's interessiert:
http://www.wissen-schaft.org/public/Vortraege/Eissler(2001).pdf) mal
"digitalen Kapitalismus" bzw. "digitalen Merkantilismus" genannt habe.
Insofern würde ich stark dahin tendieren von "Wissens- UND
Informationsgesellschaft" zu reden, anstatt von "Wissens- ODER
Informationsgesellschaft".
und Kompetenz- und Vorsorge- und Kommunikations- und nachhaltige und
ökologische und freie Gesellschaft. Jedes dieser xy beschreibt eine
Dimension der Änderungen, die heute anstehen. Einige dieser Dimensionen
habe ich auf der 1. Oekonux-Konferenz angesprochen, siehe
http://www.opentheory.org/mtb-d-thesen
Alle diese xy drehen sich aber letztendlich darum, wie der
"Erfahrungsschatz der Menschheit" für eine "Produktion der
Verkehrsformen selbst", die "alle naturwüchsigen Voraussetzungen zum
ersten Mal mit Bewußtsein als Geschöpfe der bisherigen Menschen
behandelt, ihrer Naturwüchsigkeit entkleidet und der Macht der
vereinigten Individuen unterwirft" aktiviert und seine Reproduktion und
Dynamik gesichert werden kann. Und zwar als schlichte *technologische*
Herausforderung an den gesellschaftlichen Menschen, bei Strafe des
Untergangs seine Kultur auf das Niveau seiner technologischen
Möglichkeiten zu heben. Kurz, es geht um Wissensgesellschaft, wenn der
Wissensbegriff entsprechend gefasst ist. Wissenssozialisation wird zur
Leitsozialisation und die Gesellschaft strukturiert sich entsprechend
um. Die alte, um die Geldform aufgestellte Leitsozialisierung setzt dem
natürlich Widerstand entgegen.
<cite> Die heutige Zeit ist aufgeladen mit den widerstreitenden
Perspektiven dieser beiden Sozialisierungsformen. Die ursprünglich
progressive Regulationsmacht des Marktes (der abstrakten Wertform des
Geldes) versagt immer mehr und gerät zunehmend in Widerspruch zu den
funktionalen Erfordernissen der Wissensgesellschaft (der Reproduktion
der Vielzahl der sich in individuellen Kompetenzen brechenden dinglichen
Logiken). Die alienistische Zivilisation droht, mit ihren
Rückzugsgefechten die gesamte Menschheit mit in den Abgrund zu reißen.
Spehr beschreibt die maquisianische Zivilisation als eine Zivilisation
im Verteidigungszustand, als Zivilisation, die *noch nichts* ist für
Zivilisten. Ein Noch-Nicht im Blochschen Sinne. Das scheint sich
derzeit zu ändern.</cite>
heißt es dazu am Ende meines Mawi-papers.
HGG
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