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Re: [ox] Wissens- und/oder Informationsgesellschaft?



Hallo Liste!

Hans-Gert Gräbe <graebe informatik.uni-leipzig.de> schrieb:

Hallo Stefan,

Stefan Merten wrote:
Karsten Weber war der nette junge Mann, ...

Nett, nun ja. Sicher recht brilliant - aber der Mann ist schließlich
Philosoph. Was ich super-ärgerlich fand, dass er als erklärter
Liberaler seine eigenen geistigen Grundlagen nicht kritisch
reflektieren kann, ...

Schade, dass du dich einem Input, der nicht genau auf deiner Art zu 
denken liegt - ja, aus deiner Perspektive sogar fragwürdig sein mag - 
derart verschließt. Vielleicht sind die Grenzen, an die Karsten Webers 
Argumentation stößt, und die er aus seiner Sicht vielleicht wirklich 
Schwierigkeiten hat zu transzendieren, was für unseren Diskurs extrem 
Relevantes? Für mich gehören solche kontroversen Diskussionen, die die 
Rahmen des eigenen Ansatzes sprengen, zu den Ergiebigsten.

Sein Text "Der Preis der Informationsfreiheit" steht unter 
http://www.hg-graebe.de/Texte/RLKonf-2005.html
[...]
*Insofern* wir uns darüber verständigen wollen, was das Mehr der
"Macht der vereinten Individuen" gegenüber der "Vereinigung der
Macht der Individuen" ist

Ich kann dieser formelartigen Formulierung nichts entnehmen :-( .

Es ist ein Dauerbrenner zwischen uns: Gibt es jenseits von 
"Selbstentfaltung(en)", also der Summe der lokalen Effekte sich selbst 
entfaltender, sich selbst ermächtigender Individuen, ein Mehr - globale 
Effekte - einer gemeinschaftlichen Entfaltung. Wenn ja - meine These -, 
wie sind diese zu fassen?

Deine Erläuterung verstehe ich zwar, aber ich sehe nicht den
Zusammenhang zur Formel. Egal.

Genau das ist aber nach meinem Verständnis der Kern der Kontroverse mit 
Weber (und wohl mit dem liberalen Ansatz generell). Die extreme Betonung 
der Freiheitsrechte der Individuen in der liberalen Theorie ist in einem 
historischen Kontext von Autoritätshörigkeit und Autoritätsgläubigkeit 
entstanden, die im Ergebnis mehrtausendjähriger Kommandowirtschaft auch 
tiefe psychologische Wurzeln geschlagen hat. Insofern ist eine 
Überspitzung der Bedeutung der autonomen Handlungsfähigkeit von 
Individuen verständlich. Aber sie verstellt die Sicht auf die Frage, ob 
ein gemeinschaftliches Vorgehen von Individuen mehr sein kann als das 
kohärente Vorgehen derselben Menge autonomer Individuen. 

Vor allem zu Beginn bis Mitte des 20. Jahrhunderts stießen viele Aspekte
sowohl des politischen wie auch des ökonomischen Liberalismus gerade deshalb
auf breite Ablehnung oder doch zumindest auf Skepsis, weil es für den
unbedarften  Alltagsverstand recht offensichtlich schien, dass das Ergebnis
des egoistischen Handelns einer Menge autonomer Individuen in der Summe
weniger sein müsse, als beim gemeinschaftlichen Vorgehen der gleichen Menge an
Menschen. Diesen Charme des vermeintlich offensichtlichen machte immer wieder
einen großen Teil der Attraktivität von Begriffen wie Gemeinschaft, Kollektiv
und Nation aus...
Gerade aufgrund des Legitimations- bzw. Begründungsdrucks des Liberalismus
gegenüber konkurrierenden Theorien und Weltanschauungen, auf die sich
nationalsozialistische und sozialistische politische Bewegungen bis weit ins
20. Jahrhundert hinein beriefen, ging es liberalen Theoretikern immer wieder
darum zu zeigen, dass das für den Alltagsverstand offensichtliche oft recht
irreführend sein kann ? ja häufig gar das Gegenteil der Fall ist. Insofern
widerspricht es großen Teilen liberaler Theoriegeschichte zu sangen, durch die
Überspitzung der Bedeutung der autonomen Handlungsfähigkeit von Individuen
werde die Sicht auf die Frage verstellt, ob ein gemeinschaftliches Vorgehen
von Individuen mehr sein könne, als das kohärente Vorgehen derselben Menge
autonomer Individuen. Das Gegenteil ist richtig: Außerhalb der Philosophie
(und z.T. der Rechtswissenschaft) ging es liberalen Theoretikern um fast
nichts anderes, als um eben diese Frage! 

Demgegenüber würde ich folgendem überhaupt nicht widersprechen wollen:

Castells etwa stellt in dem Paper 

http://www.informatik.uni-leipzig.de/~graebe/projekte/Texte/2005-wsf-Castells.pdf 
fest:
"Open source software is a nonexcludable good ... It is also entirely 
nonrival" und ein paar Zeilen später "... Rather than a non-rival good 
Open Source software is an anti-rival good".  Diesen Spannungsbogen 
zwischen "nonrival" ("Vereinigung der Macht der Individuen") und 
"anti-rival" ("Macht der vereinten Individuen") meine ich. Die liberale 
Theorie, so scheint mir, hat schlicht keine Worte für letztere Effekte.

Dies liegt meiner Meinung nach eben daran, dass sich bei vielen vermeintlich
Liberalen die alberne Überzeugung breit gemacht hat, die Geschichte habe den
Liberalismus gewissermaßen zum Sieger im Wettstreit der Weltanschauungen und
Theorien gekürt, daher bräuchten liberale Annahmen nun nicht mehr begründet ?
geschweige denn kritisch hinterfragt werden. Allerdings reden wir in solchen
Fällen dann nicht mehr von ?liberalen? geschweige denn von ?Theoretikern?,
sondern von pseudoliberalen scholastischen Dogmatikern. Genau das habe ich ja
auch in meinem Vortrag auf der letzten Oekonux-Konferenz beklagt. Und genau
deshalb finde ich den Vorwurf von StefanM (Juli 20 2005 20:11) gegenüber
Karsten Weber durchaus richtig: 

Was ich super-ärgerlich fand, dass er als erklärter
Liberaler seine eigenen geistigen Grundlagen nicht kritisch
reflektieren kann, sondern sie in einem kruden Universalismus, den ich
für längst ausgestorben gehalten hatte, naturalisieren muss. 

Falsch finde ich es allerdings, aus dem Umstand, dass moderne Konservative und
andere, die das Wort ?liberal? für sich vereinnahmen, keine Worte für die von
Castells in dem Zitat beschriebenen Effekte finden, Schlüsse hinsichtlich der
grundsätzlichen Erklärungsfähigkeit des Liberalismus als Theorie zu ziehen... 

schönen Gruß,
Stephan  


-- 
Stephan Eissler
Institut für Politikwissenschaft
Lehrstuhl für politische Wirtschaftslehre
Melanchtonstraße 36
72074 Tübingen
Telefon 07071-309124


________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: http://www.oekonux.de/projekt/
Kontakt: projekt oekonux.de



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