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Re: [ox] Wissens- und/oder Informationsgesellschaft?



Hallo Stefan,

Stefan Merten wrote:
Karsten Weber war der nette junge Mann, ...

Nett, nun ja. Sicher recht brilliant - aber der Mann ist schließlich
Philosoph. Was ich super-ärgerlich fand, dass er als erklärter
Liberaler seine eigenen geistigen Grundlagen nicht kritisch
reflektieren kann, ...

Schade, dass du dich einem Input, der nicht genau auf deiner Art zu denken liegt - ja, aus deiner Perspektive sogar fragwürdig sein mag - derart verschließt. Vielleicht sind die Grenzen, an die Karsten Webers Argumentation stößt, und die er aus seiner Sicht vielleicht wirklich Schwierigkeiten hat zu transzendieren, was für unseren Diskurs extrem Relevantes? Für mich gehören solche kontroversen Diskussionen, die die Rahmen des eigenen Ansatzes sprengen, zu den Ergiebigsten.

Sein Text "Der Preis der Informationsfreiheit" steht unter http://www.hg-graebe.de/Texte/RLKonf-2005.html

Ganz egal welche Beteiligung ich damals daran hatte: Die anderen 250
auf der Liste waren nicht da. Aber du fandest ja eine Unterscheidung
von Kommunikationsräumen überflüssig :-( .

Komisch, dass nur du dich darüber beschwerst. Aber am Text können sich die anderen 250 ja durchaus ein Bild machen, wenn es sie interessiert, auch wenn die meisten die Diskussion selbst nicht verfolgt haben. Aber ein paar mehr Teilnehmer der Diskussion als nur uns zwei gibt es ja doch auf der Liste.

*Insofern* wir uns darüber verständigen wollen, was das Mehr der
"Macht der vereinten Individuen" gegenüber der "Vereinigung der
Macht der Individuen" ist

Ich kann dieser formelartigen Formulierung nichts entnehmen :-( .

Es ist ein Dauerbrenner zwischen uns: Gibt es jenseits von "Selbstentfaltung(en)", also der Summe der lokalen Effekte sich selbst entfaltender, sich selbst ermächtigender Individuen, ein Mehr - globale Effekte - einer gemeinschaftlichen Entfaltung. Wenn ja - meine These -, wie sind diese zu fassen?

Deine Erläuterung verstehe ich zwar, aber ich sehe nicht den
Zusammenhang zur Formel. Egal.

Genau das ist aber nach meinem Verständnis der Kern der Kontroverse mit Weber (und wohl mit dem liberalen Ansatz generell). Die extreme Betonung der Freiheitsrechte der Individuen in der liberalen Theorie ist in einem historischen Kontext von Autoritätshörigkeit und Autoritätsgläubigkeit entstanden, die im Ergebnis mehrtausendjähriger Kommandowirtschaft auch tiefe psychologische Wurzeln geschlagen hat. Insofern ist eine Überspitzung der Bedeutung der autonomen Handlungsfähigkeit von Individuen verständlich. Aber sie verstellt die Sicht auf die Frage, ob ein gemeinschaftliches Vorgehen von Individuen mehr sein kann als das kohärente Vorgehen derselben Menge autonomer Individuen. Castells etwa stellt in dem Paper http://www.informatik.uni-leipzig.de/~graebe/projekte/Texte/2005-wsf-Castells.pdf fest: "Open source software is a nonexcludable good ... It is also entirely nonrival" und ein paar Zeilen später "... Rather than a non-rival good Open Source software is an anti-rival good". Diesen Spannungsbogen zwischen "nonrival" ("Vereinigung der Macht der Individuen") und "anti-rival" ("Macht der vereinten Individuen") meine ich. Die liberale Theorie, so scheint mir, hat schlicht keine Worte für letztere Effekte.

würde ich deine Frage (die Rolle der nicht verbalisierbaren eigenen
Erfahrungen und die Frage, ob auch die einem Sozialisierungsprozess
unterliegen) *zunächst* ausklammern wollen.

Diese Haltung halte ich aber für eine extrem ahistorische, kulturell
bornierte und noch dazu nicht hinreichende.

Was, das Theorie reduzierende "zunächst"?

Nein, die Ausklammerung.

Um es mal an einem analogen Beispiel fest zu machen: Du möchtest etwas
über Kultur als Phänomen beim Menschen wissen und blendest alles außer
der Kultur des weißen Mannes aus - derweil du dich selbst als weißer
Mann begreifst. Wie du aus dieser Perspektive jemals auf der
Ausgangsfrage adäquate Antworten kommen willst, ist mir schlicht
rätselhaft. Vielmehr müsste es darum gehen, *alle* Kulturen in den
Blick zu bekommen. Oder eben *alle* Wissensformen. Danach oder auch
während der Betrachtung macht Differenzierung dann Sinn.

Aber es kann doch trotzdem - insbesondere für den weißen Mann - durchaus sinnvoll sein, *zunächst* die ihm aus eigener Erfahrung auch praktisch bestens bekannte Kultur des weißen Mannes genauer zu studieren und in diesem Studium Instrumentarium und Fragestellungen zu schärfen, oder? Insbesondere, wenn man sich vorab dieser Beschränkung selbst *bewusst* ist. Solche "Fallstudien" (use cases) sind ja auch im Softwarebereich als methodologisches Instrumentarium sehr verbreitet.

wofür unser flame anderenorts ein erstklassiger Beleg ist.
Er kann's nicht lassen mit den Grenzüberschreitungen...

Schade, dass du mich an der Stelle nicht verstanden hast. Hier das volle Zitat:

Allerdings enthält der Wissensbegriff eine weitere Klippe: Wenn wir anfangen konkret zu werden, dann steht sehr schnell auch unsere eigene kommunikative Praxis zur Diskussion. Und die ist gerade im Bereich des "verborgenen" Wissens stark mit psychologischen Phänomenen aufgeladen, wofür unser flame anderenorts ein erstklassiger Beleg ist.

Wenn wir über Wissen/Information/Kommunikation _theoretisieren_, dann sollten wir bedenken, dass wir damit zugleich an einem solchen Kommunikationsprozess _praktisch_ beteiligt sind. Was liegt näher, als genau diese just hautnah erfahrenen Wirkungen der praktischen und faktischen kommunikativen Akte im Licht der Theorie(n) zu betrachten. Mehr steckt in dem "wofür unser flame anderenorts ein erstklassiger Beleg ist" nun wirklich nicht drin. In dem Sinn ist auch deine neuerliche Reaktion nur ein weiterer Beleg für mein Statement.

Was ist eine Datenspur?

Eine Datenspur ist das, was Tun oder sogar Sein in Raum und Zeit hinterlässt. Das, was die Spurensicherer der Kripo aufdecken, woran die Biene den Honig erschnuppert, das Faltungsmuster im Stein als Resultat einer Gebirgshebung etc.

Ok. Um es mal mit ganz frühen Definitionsversuchen zu fassen:
Wechselwirkungen, die in irgendeiner Weise später als Daten messbar
sind und damit Auskunft über / Hinweise auf Vergangenes geben. Right?

Werden sie erst durch das Messen zu Daten? In meiner Begrifflichkeit nicht, denn Messen ist ja schon an Subjekte gebunden, welche die Datenspur aufnehmen. Also potenziell messbar? Aber was ist das nicht?

Ok. Aber ungemessene Datenspuren sind in keiner Weise relevant. Right?

Was ist mit ungemessenen, aber potenziell messbaren Datenspuren? Wie ist hier der Zusammenhang zum Unterbewussten, falls Messen bei dir ein Bewusstseins-Akt ist?

Da glaube ich mich mit dem Begriff der Leitsozialisation weiter.

Was die Verbindung zum OHA-Phänomen betrifft, so kan ich dazu wenig sagen, weil ich noch nicht so recht verstanden habe, was sich dahinter verbirgt.

Schade. Mir deucht, deine Sozialisation hat viel damit zu tun.

Das nehme ich ebenfalls an. Wäre zu explizieren. Vielleicht wäre es sinnvoll, auch mal einen Diskussion-Thread zu OHA im Wiki zu beginnen.

Nein, für eine theoriehaltige Debatte ist dieser Satz gänzlich
ungeeignet. Es muss vielmehr darum gehen, welcher Gebrauch von
Informationen für welche Menschen zu einem bestimmten historischen
Zeitpunkt für welche Ziele sinnvoll ist.

Genau einen solchen instrumentellen Zugang halte ich für zu eng, weil er die Menschen letztendlich entmündigt.

???

Deine Formulierung suggeriert die Kette Sinn -> Ziel -> Information, besonders in der Betonung "zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt". Wo kommen in so einem Verständnis Sinn und Ziel her und aus welcher Quelle heraus lassen sie sich (gelegentlich) transzendieren? Information (bei Kant "Gebrauch der Vernunft") steht _auch_ am Anfang dieser Kette, und zwar als "öffentlicher Gebrauch im Raisonnieren", am Ende der Kette dagegen als "privater Gebrauch" als Vorstufe des Handelns. Das "Raisonnieren" ist ein gutes Stück sinn- und zielfrei und gerade in dieser Sinn- und Zielfreiheit Quelle von Mündigkeit.

Und noch aus deiner nächsten Mail:
Nehmen wir z.B. den WordProcessor. Ein Programm, dass - wenn es was
taugt - viele Regeln aus dem Bereich des Drucksatzes beherrscht. Ich
kann mit diesem WordProcessor qualitativ hervorragenden Satz erzeugen
(zumindest wenn er mich nicht jede Dummheit machen lässt...). Diese
Kompetenz brauche ich also nicht. Nur noch die Kompetenz den
WordProcessor zu bedienen.

Die guten alten Handgriffe des Setzers sind damit obsolet, nicht aber seine Kenntnisse über "Hurenkinder", "Schusterjungen", Zeilendurchschüsse etc., die einen ästhetisch anspruchsvoll gesetzten Text ausmachen ("er oder sie versteht einen Text zu setzen"). Die "Kompetenz den WordProcessor zu bedienen" beschränkt sich also mitnichten darauf zu wissen, welche Aktion ^V oder so auslöst, sondern ist im Kern eigentlich die Kompetenz, die mit dem Werkzeug WordProcessor ausführbaren *Prozesse* zu beherrschen.

Die mit der wachsenden Macht der Agentien ungeheuer gewachsenen Anforderungen an die Methoden- und Interpretationskompetenz im Kontext eines Mitteleinsatzes kompensieren m.E. die geringeren algorithmischen Anforderungen mehr als genug.

Viele Grüße, HGG

--

  Prof. Dr. Hans-Gert Graebe, Inst. Informatik, Univ. Leipzig
  Augustusplatz, D-04109 Leipzig, Raum 5-53	
  tel. : [PHONE NUMBER REMOVED]
  email: graebe informatik.uni-leipzig.de
  Home Page: http://www.informatik.uni-leipzig.de/~graebe

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Web-Site: http://www.oekonux.de/
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Kontakt: projekt oekonux.de



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