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Re: [ox] Wissens- und/oder Informationsgesellschaft?



Hallo Liste, 
etwas verspätet noch meine 2 Cents zu der Frage ?Wissens- und/oder
Informationsgesellschaft??
---
Vorweg vielleicht noch dies: Ich hoffe, es stört sich niemand daran, dass ich
meinen Beitrag zu einem Thema immer in etwas längeren Mails bündele und dabei
nur immer wieder auf vorangegangene Mails anderer verweise, statt jeweils
direkt auf diese zu antworten?
---
Es gibt sicherlich vorzügliche Gründe dafür, einer Debatte darüber, ob nun der
eine oder der andere Gesellschaftsbegriff sinnvoller ist, mit Skepsis wenn
nicht gar Ablehnung gegenüberzutreten. Persönlich halte ich eine Debatte um
den Sinn oder Unsinn der Verwendung des Begriffs einer xy-Gesellschaft auch
nur in bestimmten Fällen für hilfreich und interessant. In anderen Fällen ist
dies meiner Meinung nach eher fraglich. Zunächst möchte ich etwas zu den
?anderen Fällen? sagen:  

In manchen Fällen geht es bei der Verwendung des Begriffs einer
?xy-Gesellschaft? nur darum, (a) einen bestimmten Aspekt oder ein bestimmtes
Phänomen ?xy? - aus welchen Gründen auch immer ? mehr oder weniger isoliert zu
betrachten und zu sehen, zu welchen Erkenntnissen einen das führt; dies hängt
häufig damit zusammen, dass man (b) davon ausgeht, dass dieser Aspekt oder
dieses Phänomen ?irgendwie? von sozialer um nicht zu sagen: gesellschaftlicher
Relevanz ist. Solche Fälle wären etwa die ?Erwerbsgesellschaft? die
?Risikogesellschaft?, die ?Spaßgesellschaft?, um nur einige Beispiele zu
nennen (leider muss man häufig auch die Verwendung der Begriffe Informations-
und Wissensgesellschaft unter diesen Fall subsumieren?). Immerhin wird dabei
häufig implizit oder explizit die Annahme vertreten, dass durch eine
quantitative Steigerung von ?xy? auch eine qualitative Veränderung auf der
gesellschaftlichen Ebene verbunden sei. In den meisten Fällen ist es müßig
darüber zu diskutieren, ob man dabei tatsächlich von einer QUALITATIVEN
Veränderung sprechen kann, denn es wird in diesen Fällen kein theoretisch
fundierter Referenzpunkt geliefert, von dem aus man objektiv beurteilen
könnte, ob hier tatsächlich eine qualitative Veränderung vorliegt oder
zumindest theoretisch denkbar ist. 
Nun stellt sich natürlich die Frage, was denn überhaupt ein allgemein
anerkannter Referenzpunkt sein könnte, von dem aus man gesellschaftliche
Veränderungen objektiv als ?qualitativ? bezeichnen könnte. Der einzige
Referenzpunkt, der mir momentan einfällt wäre der einer kapitalistischen
Gesellschaft (nicht zuletzt auch deshalb, weil niemand bestreiten würde, dass
wir in einer solchen leben?). Geht man tatsächlich von einem solchen
Referenzpunkt aus, dann wird tatsächlich schnell deutlich, dass und warum in
diesen Fällen die Aspekte bzw. Phänomene ?xy? und der daraus abgeleitete
Gesellschaftsbegriff von überschaubarer theoretischer Bedeutung bzw.
Reichweite sind: Sie erheben schon gar nicht den Anspruch, über eine
kapitalistische Gesellschaft hinauszuweisen. 

Anders ist dies beispielsweise bei dem, was im Ökonux-Netzwerk als
?GPL-Gesellschaft? diskutiert wird: Die Ideen und Konzepte, die unter diesem
Gesellschaftsbegriff subsummiert werden, haben zumindest den klaren Anspruch,
über unsere derzeitige kapitalistische Gesellschaft hinaus zu weisen. 
Und die Frage, die StefanMerten in den Raum gestellt hat, ?ob die Bezeichnung
?Wissensgesellschaft? oder ?Informationsgesellschaft? die richtigen Termini
für eine/jede positive Weiterentwicklung des Kapitalismus sind?, habe ich
genau in diesem Sinne verstanden: Als Frage danach, mit welchem dieser beiden
begrifflichen Konzepte sich eher der Anspruch verbinden lässt, dass es über
eine kapitalistische Gesellschaft hinausweisen kann...
Allerdings führt es bei der gemeinsamen Suche nach einer Antwort meiner
Meinung nach nirgends hin, wenn man die Plausibilität eines Konzepts der zur
Debatte stehenden xy-Gesellschaft und ihres jeweiligen Anspruchs (des
qualitativ Neuen auf gesellschaftlicher Ebene) daran messen möchte, ob es sich
bei "xy" selbst um etwas qualitativ neues handelt. Denn an diesem Maßstab
gemessen scheitern alle Gesellschaftsbegriffe ? einschließlich der des
Kapitalismus! Was ich damit meine, möchte ich an Beispielen verdeutlichen: 
(a) Ob das Gesellschaftskonzept der ?GPL-Gesellschaft? zurecht den Anspruch
des qualitativ Neuen für sich reklamieren kann, hängt nicht davon ab, ob die
?GPL? an sich etwas qualitativ Neues ist. Denn das ist sie tatsächlich nicht ?
das PRINZIP der GPL wird in bestimmten Bereichen der Wissenschaft schön längst
praktiziert. 
(b) Auch die kapitalistische Gesellschaft unterscheidet sich qualitativ von
früheren Gesellschaftsformen ? ungeachtet dessen, dass es auch in
Vor-kapitalistischen Gesellschaften schon Kapital und Kapitalisten gegeben hat. 
(c) Analog dazu geht m.M. nach auch das Argument ins Leere, es mache keinen
Sinn von einer Wissens oder Informationsgesellschaft zu sprechen, da es Wissen
und Informationen auch schon früher gegeben hat. Auf das selbe hinaus läuft
der Vorwurf, dass mit dem Begriff der Wissensgesellschaft implizit früheren
Gesellschaften Nichtwissen (oder Uninformiertheit) unterstellt würde. 
Allerdings kann umgekehrt natürlich nicht bereits die Feststellung ausreichen,
dass xy wichtiger geworden ist in unserer Gesellschaft, um sinnvoller Weise
von einer xy-Gesellschaft sprechen zu können, denn dadurch wird die Sache
wieder beliebig. Warum dann beispielsweise nicht auch von einer
Spaßgesellschaft sprechen? Schließlich verwenden die Menschen in der
westlichen Welt heute viel mehr Zeit und Ressourcen darauf Spaß zu haben ?
ganz zu schweigen von der riesigen Unterhaltungsindustrie, die unsere heutige
Gesellschaft nicht unwesentlich prägt. Auch zeigt hier ein Blick in die
Geschichte, dass sich alleine aufgrund die Tatsache, dass Kapital für eine
Gesellschaft (im Vergleich zu früher, oder im Vergleich zu anderen
Gesellschaften) wichtiger geworden ist, noch keine vernünftige Abgrenzung
einer kapitalistischen von einer nicht- oder vorkapitalistischen Gesellschaft
vornehmen lässt. So weißt beispielsweise Max Weber darauf hin, welche
vergleichsweise große Bedeutung kapitalistisches Wirtschaften bereits im
römischen Reich spielte. Dennoch würde kaum jemand im Zusammenhang mit dem
Imperium Romanum von einer kapitalistischen Gesellschaft sprechen wollen.
Ähnliches gilt auch für andere frühe Hochkulturen, wie etwa die chinesische. 
Last but not least bin ich mir auch nicht sicher, ob hinsichtlich der Frage
nach dem Sinn oder Unsinn von Gesellschaftsbegriffen im Allgemeinen, die
Kritik von Benni (vgl. Mail vom 3.02. 17.27 Uhr) irgendwo hin führt, wonach
mit Gesellschaftsbegriffen ja lediglich Zustände bezeichnet würden, wobei dies
aber dem prozesshaften Charakter von Gesellschaft nicht gerecht werde. Denn
zumindest nach meinem Verständnis muss sich Gesellschaft ständig durch das
Handeln bzw. durch die Kommunikation von Individuen (re-)produzieren[Fußn. 1],
weshalb sich auch die Bezeichnung xy-Gesellschaft nicht auf einen Zustand
beziehen kann, sondern eigentlich zwangsläufig auf das prozesshafte
(re-)produzieren von Gesellschaft. Gesellschaft ist, wenn man so will, immer
?Bewegung? und nie ?Zustand? - egabl wie man die Gesellschaft bezeichnet. 

Worum kann es dann aber gehen bei einer Diskussion um den Sinn oder Unsinn
bestimmter Gesellschaftsbegriffe bzw. ?konzepte? Mein Vorschlag wären folgender: 
(A)
Stefan Merten hat in seiner Mail (02.02. 20.00 Uhr) angedeutet, dass das
Konzept einer xy-Gesellschaft wesentlich von dem Anspruch ausgeht, dass mit xy
?das Dominante in einer Gesellschaft? bezeichnet werde. Dann müsste also der
gesellschaftstheoretische Ansatz geklärt werden, von dem aus sich erklären
lässt, (1) was ganz abstrakt und allgemein unter ?Dominanz? verstanden werden
soll (ein Ansatz also, das gleichermaßen auf eine vorkapitalisitsche, die
kapitalistische und die xy-Gesellschaft anwendbar ist), und der auch (2) ganz
allgemein den Übergang von einer Dominanz zur anderen (u.a. also auch die
Ablösung von ?Kapital? durch ?xy? als ?dem neuen Dominanten?) erklären kann. 
Dies kann meiner Meinung nach ein normativer Ansatz nicht leisten - ein
Ansatz, der primär davon ausgeht, was für eine Gesellschaft man für
wünschenswert hält, ist meiner Meinung nach theoretisch auf Sand gebaut (das
heißt jedoch nicht, dass man in einem dritten Schritt nicht darüber
diskutieren können sollte, wie eine xy-Gesellschaft ausgestaltet werden sollte?). 
(B) 
Um aber überhaupt sinnvoll über theoretische Ansätze diskutieren zu können,
die dem Begriff einer xy-Gesellschaft zugrunde liegen, muss man zunächst
zumindest eine Vorstellung davon haben, von welchem Verständnis von xy der
Verfechter einer xy-Gesellschaft überhaupt ausgeht. 
Weiß man, was für eine Definition von xy der Verfechter einer xy-Gesellschaft
seinem theoretischen Ansatz zugrunde legt, dann kann man dies entweder so
akzeptieren und von dieser Definition ausgehend gleich über (A) diskutieren,
oder man diskutiert zunächst einmal darüber, ob die Definition von xy
überhaupt sinnvoll und praktikabel ist. 

#############
# Fußnoten #
###########
[1] 
Diese Aussage lässt erst einmal offen, (a) wodurch individuelles Handeln bzw.
Kommunikation bestimmt wird bzw. ob Gesellschaft mehr ist, als die Summe
seiner Teile (ob es sich also bei Gesellschaft im Vergleich zur Ebene
individuellen Handelns bzw. Kommunizierens um eine höhere Emergenzstufe handelt).
---
Da die Mail eh schon lange genug ist, und mein Chef mir im Nacken sitzt,
möchte ich meine Überlegungen und Anregungen zum Thema "Daten - Informationen
- Wissen" auf eine Mail am kommenden WE verschieben...
Bis dahin
Stephan


Stefan Merten <smerten oekonux.de> schrieb:

-----BEGIN PGP SIGNED MESSAGE-----

Hi Liste!

Seit längerem gibt es eine schwelende Debatte um die Frage ob die
Bezeichnung "Wissensgesellschaft" oder "Informationsgesellschaft" die
richtigen Termini für eine/jede positive Weiterentwicklung des
Kapitalismus sind. In letzter Zeit ist diese Debatte verschiedentlich
wieder hoch gekommen und ich würde gerne mal versuchen zu klären,
wovon wir hier überhaupt reden.

Im übrigen finde ich die Frage gar nicht so unwichtig: Eine
Bezeichnung x-Gesellschaft macht durchaus Sinn, wenn x denn eben das
Dominante in dieser Gesellschaft ist. So macht es z.B. m.E. Sinn, die
heutige Gesellschaftsformation mit Industrie- oder auch
Geldgesellschaft zu bezeichnen - oder Kapitalismus was mit letzterem
praktisch synonym ist. Eine treffende Bezeichnung "x-Gesellschaft"
transportiert also eine bestimmte Analyse und deswegen finde ich die
Wortwahl an dieser Stelle nicht vernachlässigbar.

Ich beginne einfach mal damit, meine derzeitigen Arbeitsdefinitionen
runter zu beten. Wenn wir von "Wissensgesellschaft" oder
"Informationsgesellschaft" sprechen, müssen wir zunächst und
zuvorderst klären, was Wissen und Information eigentlich ist -
genauer: Was sie unterscheidet. Ein weiterer Begriff, der in diesem
Zusammenhang auftaucht, ist "Daten". Aus dieser Begriffsdefinition
ergibt sich dann zusammen mit der gesellschaftlichen Analyse der
jeweils richtige Begriff.

Daten
- -----

Daten sind für mich die basalste Einheit. Daten sind das, was bei
irgendeiner Messung anfallen kann. Z.B. ist die exakte Höhe von Wellen
auf dem Ozean in einem bestimmten Gebiet Daten. Daten müssen erst mal
niemensch interessieren.


Information
- -----------

Information sind für mich Daten, die einen Unterschied machen. Z.B.
wäre die Höhe der Wellen eine Information, die ich brauche, wenn ich
etwas über die Durchschnittshöhe sagen will. D.h. Informationen sind
eine spezielle Sorte von Daten.

Dabei ist weder Träger interessant noch für welche Entität die
Information einen Unterschied macht. Die Information, die durch die
DNS gegeben ist, macht z.B. einen erheblichen Unterschied zwischen
belebter und unbelebter Natur. Genau so macht eine Software, die ja
pure Information ist, einen Unterschied auf einem Computer. Die
Software auf einer CD macht dagegen keinen Unterschied wenn kein
Computer verfügbar ist. Die Pits und Lands auf der CD mutieren dann
wieder zu Daten.

D.h.: Bei dem Begriff Informationen muss genau genommen angegeben
werden, in welchem Zusammenhang die Daten einen Unterschied machen.


Wissen
- ------

Wissen ist für mich *vor allem* immer an ein Subjekt, i.A. also an
einen Menschen gebunden. Dem üblichen Sprachgebrauch folgend kann nur
ein Mensch etwas wissen - eine Maschine weiß nichts. Dieses Wissen
kann unglaublich viele Formen annehmen und die wenigsten davon dürften
explizit beigebracht werden - insbesondere Handlungswissen.

Da Wissen immer an ein Subjekt gebunden ist, kann es auch nicht
entäußert werden. Wissen, das ich nieder schreibe oder sonst wie
formalisiere wird zur Information, die andere Menschen nutzen können,
um ihr eigenes Wissen zu verändern. Wissenstransfer ist im engeren
Sinne also nicht möglich.


In diesem Sinne ist Wissen also etwas, was dem Menschen eigen und
damit auch jeder Gesellschaft eigen ist. Gehe ich weiter davon aus,
dass die Menge des Wissens, die einem Menschen zur Verfügung steht
überhistorisch unveränderlich ist, dann ändert sich am Wissen von
Gesellschaftsform zu Gesellschaftsform gar nichts. Andernfalls wären
alle anderen Gesellschaftsformen mit Dummengesellschaften richtig
bezeichnet, was ich inakzeptabel finde. Die Inhalte mögen sich ändern,
nicht aber der Fakt des Wissens an sich. M.a.W.: Jede Gesellschaft ist
eine Wissensgesellschaft, der Begriff diskriminiert nichts und ist
deswegen überflüssig.

Der Begriff Informationsgesellschaft transportiert dagegen, dass
Information zu einer wichtigen Größe geworden ist. Zwar ist
Information natürlich ebenfalls unveräußerlich Bestandteil dieser Welt
und also auch Bestandteil menschlicher Gesellschaft. Aber heute
erleben wir, dass Information in ihrer nicht-materiellen Gestalt, also
als reine Idee, zunehmend existiert und - das ist mir eben
entscheidend wichtig - die Information auch mittels Computern
zunehmend operationalisierbar wird. Neben biologischen
Informationsverarbeitungssystemen wie der DNS haben wir mit Computern
Informationsverarbeitungssysteme auf der Ebene menschlicher
Gesellschaft. Das ist historisch neu und deswegen halte ich
Informationsgesellschaft für die richtige Bezeichnung.

Na, soweit mal. Sicher nicht wasserdicht aber ein Anfang.


						Mit Freien Grüßen

						Stefan

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