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[ox] Warum der niedrige Anteil weiblich Sozialisierter in der Freien Software?



Hi Liste,

hier die schon zwei Mal angekündigte Mail.

Inspiriert durch die aktuelle Gender-Debatte habe ich mich vor ein
paar Tagen mal mit einer Kollegin zu der Frage unterhalten. Auch
andere Gespräche lasse ich hier mal mit einfließen.

Allerdings bin ich seit dem Artikel zu den IT-Ausbildungen gar nicht
mehr so sicher, ob es hier überhaupt Erklärungsbedarf gibt.
Möglicherweise hat Barbara sehr recht damit, dass sich das
gender-mäßig gar nicht so groß zwischen selbstentfaltet und beruflich
unterscheidet wenn wir auf die konkreten Tätigkeiten gucken.
Blöderweise ist bei akademischen IT-ArbeiterInnen die Definition der
Tätigkeit kaum greifbar. Es gibt ja nicht mal allgemein anerkannte
Berufsbezeichnungen :-( . Anyway hier ein paar Gedanken aus diesen
Reflexionen.

Aufgefallen war mir, dass meine Kollegin (in diesem Falle: mich)
gefragt hat, wo ich die Man-Page gewälzt hätte. Ausgehend von dieser
Beobachtung haben wir uns dann mal darüber unterhalten, woran das wohl
liegen könnte, dass es in der Freien Software so signifikant weniger
Frauen gibt als im proprietären / beruflichen Bereich in dem wir
übrigens beide arbeiten.

Zustimmung gab es, dass die explizit genderisierten Zugangshürden für
Frauen bei der Freien Software konkret eher niedriger sind als im
proprietären Bereich, da es zum Aufbau eines Freie-Software-Projekts
keinen Chef braucht, der eine einstellt und es auch keine Kommilitonen
gibt, die eine irgendwie anders / schlechter behandeln. Die Studie zu
den Ausbildungen tendiert ja dazu, dass es im beruflichen Bereich
solche Hürden tendenziell gibt. Dieses Fehlen von Hürden ist besonders
wahr bei den vielen kleinen Projekten, wo de facto eine MaintainerIn
praktisch alles macht. Allerdings gibt es bei Freie-Software-Projekten
eben auch nicht die institutionelle Einbettung, die z.B. eine Firma
bietet. Es gibt also eben nicht nur niemensch, der einem sagt was
mensch tun oder lassen soll, sondern auch keine Hilfe. Bei
Freie-Software-Projekten ist also Selbständigkeit vergleichsweise
besonders gefragt. Nach der Ausbildungsstudie hätten faktisch also
alle gleich (schlechte) Voraussetzungen.

Ausgehend von dem Beispiel mit dem Nachfragen vs. Man-Page-Wälzen
kamen wir dann über einige Diskussionsschritte dahin, dass es männlich
sozialisierten Menschen näher liegt, Unabhängigkeit und damit
Selbständigkeit in technischen Fragen zu erlangen. D.h. das Bedürfnis
geht eher dahin, sich Fähigkeiten auf technischen Gebieten anzueignen.
Logische Folge davon ist, dass es auf technischen Gebieten mehr
versierte männlich Sozialisierte als weiblich Sozialisierte gibt.
Fähigkeit und Bedürfnis sind aber m.E. wichtige Elemente von
Selbstentfaltung. Quintessenz: Männlich sozialisierte Menschen sehen
eher ihre Selbstentfaltung darin, sich in technischen Fragen zu
engagieren.

Weiblich sozialisierte Menschen haben dagegen qua ihrer Sozialisation
andere Schwerpunkte, in denen sie Unabhängigkeit erlangen wollen. In
der Tat sind männlich sozialisierte Menschen auf diesen Gebieten eher
schwach - Beispiel war: Milch einkaufen. Na, wir kennen diese
Stereotypen alle zur Genüge. Dummerweise haben sie halt auch schon
einen gewissen Realitätsgehalt, der eben gerade die Genderisierung der
Gesellschaft widerspiegelt.

Einigkeit gab es auch darin, dass weiblich sozialisierte Menschen qua
dieser Sozialisation durchschnittlich keinen besonderen Drang haben
sich in technischen Gebieten besonders umzutun. In der
Ausbildungsstudie spiegelt sich das m.E. deutlich im höheren Anteil
von Zweiflerinnen beim Einstieg. Es ist klar, dass im Verlaufe der
Sozialisation entsprechende Regungen bei Mädchen genauso aberzogen
werden, wie die weiblich dominierten Felder den Jungen. D.h. auch,
dass wenn überhaupt die Frage nach einem Engagement in Freier Software
auftaucht, die Sozialisation schon ziemlich "ganze Arbeit" geleistet
hat. Bei weiblich Sozialisierten ist statistisch in der für Freie
Software relevanten Tätigkeitsfeldern weder Fähigkeit noch Bedürfnis
sonderlich ausgeprägt während das bei männlich Sozialisierten durchaus
anders ist.

Auf dieser Grundlage finde ich es zunächst mal nur logisch, dass in
der durch Selbstentfaltung dominierten Freie Software diese
Sozialisierungen durchschlagen.

Für mich bleibt eher die Frage, warum sie das in proprietären /
beruflichen Bereichen nicht in diesem Maße tun. Nach dem Gespräch
neulich scheint mir - neben der Frauenförderung im offiziellen Bereich
- der Aspekt der qua Sozialisation nahe gelegten Felder, auf denen
Selbständigkeit ein Bedürfnis ist, wichtig. Im proprietären Bereich
ist es für eine MitarbeiterIn sicher leichter sich schnelle Hilfe zu
holen, als im Bereich Freie Software.

Die verallgemeinerte These wäre dann, dass Menschen zwar beruflich
tendenziell sich in Domänen engagieren, die ihrer Genderisierung eher
nicht entsprechen, dass Menschen das aber eher nicht tun, wenn sie es
unter Bedingungen der Selbstentfaltung zu tun hätten.

Ich habe mal über ein gender-mäßig umgedrehtes Beispiel für diese
These nachgedacht um Belege bzw. Widerlegung für sie zu finden. Mir
ist dabei der eher weiblich genderisierte Bereich der Kindererziehung
eingefallen. Die Berufsgruppe dazu wären dann ErzieherInnen. Die Frage
wäre also jetzt, ob der relative Anteil von Erziehern höher ist, als
der relative Anteil freiwilliger Full-Time-Väter. Wäre das so, wäre
das ein Hinweis darauf, dass sich die Genderisierung der Menschen
unter Bedingungen der Selbstentfaltung sogar statistisch *mehr*
durchsetzt als im beruflichen Bereich. Was unter
Gleichheitsgesichtspunkten m.E. ein Hinweis auf die wahre Größe der
Aufgabe wäre...

Hat das Plausibilität?

Oh je, ich glaube ich hänge noch was an:

<disclaimer>

Ja, ich habe oben ein paar Stereotypen beschrieben. Heftige sogar.
Wenn wir in einem Analyseschritt verstehen wollen, warum die Welt so
ist wie sie ist, dann dürfen wir uns aber nicht die Stereotypen /
Sozialisationen einfach weg denken, sondern müssen sie zunächst mal
zur Kenntnis nehmen. Dazu gehört auch, dass sie eine prägende Rolle
spielen.

Nein, ich will da gar nichts verewigen. Mir geht es momentan erstmal
um eine Analyse, warum es so ist wie es ist. Dazu gehört auch erst
nochmal die Frage, wie es eigentlich ist. Weiteres Zahlenmaterial
fände ich da hilfreich.

Ja, das HowTo zur Gender-Frage hat natürlich seine Berechtigung.
Allerdings spiegelt es ja in weiten Bereichen eben auch genau diese
Fragen der Sozialisation: Frauen mögen andere Umgebungen als Männer.

Nein, mir persönlich ist es kein Ziel *an sich*, den Frauenanteil in
der Freien Software auf 50% zu bringen. Ich werde gegenüber abstrakte
/ formale Gleichheit sowieso zunehmend skeptischer. Mein Ziel an sich
ist es, maximale Selbstentfaltung zu ermöglichen. In der Gender-Frage
lägen für mich daher nach meinem momentanen Analysestand die Probleme
viel früher. Daher ist mir allerdings Chancengleichheit wichtig.

</disclaimer>


						Mit Freien Grüßen

						Stefan

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de



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