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Re: [ox] Re: Gruppen als Beziehungsgeflechte



In wackerer Abarbeitung... (was habe ich da nur angerichtet...)

On Monday 26 May 2003 00:42, Stefan Merten wrote:
"Gruppe" ist da IMHO ungeeignet, weil viel zu allgemein. Konkreter
finde ich z.B. die (personale) Kooperation, was auch nichts
anderes als eine Gruppe ist, aber eben eine inhaltlich
qualifizierte.

Das klang jetzt in mehreren Mails von dir durch: Du würdest den
abstrakteren Begriff "Gruppe" nicht verwenden wollen und statt
<cut>
Das reizt mich natürlich zu der Frage: Was kann aus deiner Sicht ein
Gemeinsames sein, das nicht metaphysisch aufgeladen ist?

Z.B. das es sich bei einer Gruppe um eine Anzahl von Menschen >1 handelt. 
Also - um mal den Vorschlag von Matti aufzugreifen - abstrakt-allgemeine 
Bestimmungen. Die haben aber keine konkret-allgemeine Qualität - IMHO.

Wie schon bei der Diskussion um Repräsentation und auch bei der
aktuellen um Identität habe ich das Gefühl, dass du manche Begriffe
einfach halbierst und die Hälfte, die dir nicht ins Konzept passt,
einfach wegwirfst. Das finde ich ärgerlich - gelinde gesagt. Aber
wenigstens verstehe ich damit, warum ich dich nicht verstehe. Und
ich verstehe, warum das (für mich) auch nicht sinnvoll wäre:
Halbierte Begriffe zeigen nur (aber wahrscheinlich nicht mal) die
halbe Welt.

Na ja, in deiner Sicht sind es "halbe Begriffe", in meiner Sicht ist
es eine "unzulässige Vermischung" und eben "metaphysische Aufladung".

Ich denke immer noch, dass du an ein paar entscheidenden Stellen ganz
bestimmte Perspektive konsequent nicht einnimmst. Namentlich die, der
ersten Person Plural.

"Wir". Hm. Kann ein Einzelner diese Perspektive einnehmen? IMHO nur dann, 
wenn man einen transzendenten Bezug herstellt, was das "wir" konstituiert 
und dann repräsentiert werden kann. Dann geht es.

Vielleicht ist es einfach nur eine Entscheidung: Ich entscheide mich 
dagegen, weil ich das für nicht emanzipatorisch halte. Und meine 
alternative Überlegung ist das "je ich" - die "vierte Person".

Ok, jetzt wiederholt es sich.

Hier hätte ich wohl andere Beispiele nehmen sollen. Mir ging es um den
Begriff "Grund", der auch z.B. in der nichtbelebten Natur vorkommt.

Ok, Sprachspiel: Das sind für mich Ursachen (die Wirkungen haben).

Der Grund für den herunterfallenden Apfel ist (vor allem) die
Schwerkraft. Da ist keine Person, die da die erste sein könnte. In
diesem Sinne meinte ich Grund und in diesem Sinne meinte ich "kann
nicht erster Person sein.

Ok.

Andernthreads spreche ich von Bedürfnissen als Urgrund von Handlung.
Zumindest hängen diese Begriffe beim Menschen (für mich) eng zusammen.

Aber auch Bedürfnisse determinieren nicht die Handlung, so wie die Ursache 
die (physikalische) Wirkung determiniert: Ich kann mich zu je meinen 
Bedürfnissen verhalten. Diese Möglichkeit hat der Apfel nicht.

Nein, dann hätte sich sowas wie (völlig unterschiedliche) Esskultur
nicht entwickelt. Es gibt unzählige Gründe, warum Menschen essen, und
die sind alle erster Person.

Das Bedürfnis ist erster Person - ok. Der Grund ist nochmal eine
andere Dimension. Aber darüber will ich mich nicht streiten.
Meinetwegen ist auch ein Grund erster Person.

Das ist folgenreich - deswegen ist "meinetwegen" eine etwas schwache 
Basis.

Gründe für das
Entwickeln Freier Software gibt es eine Reihe. Darunter
Notwendigkeit und Spaß am Programmieren. Ein Grund ist also sicher
nicht "erster Person".

Gerade aber im Beispiel doch. Selbstentfaltung ist immer erster
Person. Was sonst? Aber auch entfremdete Zusammenhänge können
Prämissen dafür darstellen, dass Menschen Gründe haben, FS zu
entwickeln (z.B. Geld). Alles erster Person.

Ja. Ein Grund hat erstmal nichts mit entfremdet (wovon? wäre ohnehin
zu fragen) zu tun.

Ich wollte nur darauf hinweisen, das sehr unterschiedliche Bedingungen zu 
gleichen Handlungen führen können - und umgekehrt gleiche Bedingungen 
nicht notwendig zu gleichen Handlungen führen müssen. Der Grund ist eben 
individuell und nicht eindeutig mit festen Bedingungen verknüpft.

D.h. ob der Grund für eine Software-Entwicklung Spaß oder
Notwendigkeit oder sonstwas ist, muss nicht festgestellt werden
damit das Entwickeln beginnt.

Ja, ok.

Er kann aber festgestellt werden

Schön neutral formuliert. Hier liegt aber der Knackpunkt: Nur je ich
kann das feststellen.

Warum ist das für dich ein Knackpunkt? Ich widerspreche dem doch mit
keiner Silbe - im Gegenteil.

Weil es ein Unterschied ist, ob jemand drittes etwas über je mich 
feststellt (wie?), oder ob je ich das feststelle. Das erste geht aus 
meiner Sicht nur als Vermutung (mal angekommen, derjenige sagt es nicht 
gleich). - Ich meine auch nicht, dass du widersprichst. Ich will nur 
wieder darauf hinweisen, dass der "Modus dritter Person" sich strukturell 
vom "Modus erster Person" unterscheidet. Was dann dazu führt, dass ich 
eben bestimmte Dinge im Modus dritter Person nicht feststellen kann.

Mal so formuliert: Für dich kommen andere immer nur in dritter Person
vor. Bei mir gibt es aber auch eine erste Person Plural, die vorkommen
kann. Hier scheint mir wirklich der Knackpunkt zu liegen.

Ja. Da die erste Person Plural kein "Punkt" ist, sondern - wie oben 
erklärt - erst dazu gemacht werden muss, um drauf stehen zu können, ist 
das im meiner Sicht in der Konsequenz gleichbedeutend mit der dritten 
Person. Dies gilt allerdings nur, wenn das "wir" repräsentiert wird.

Ich habe sonst nichts gegen ein "wir" - ganz im Gegenteil. Ich habe nur 
etwas gegen ein "repräsentiertes wir". Theoretisch. In Praxi muss und 
kann ich damit trotzdem ganz gut umgehen - weil ich meine, die Quellen 
der Verwerfungen zu erkennen.

und wenn es
nicht entfremdet geschieht, wird die handelnde Person dem auch
zustimmen können - oder sich den Grund sogar selbst überlegen.

Wenn ich "feststellen" mal mit "mir klarmachen" übersetze, dann
klingt es ziemlich merkwürdig, "mir selbst zuzustimmen". Das macht
nur Sinn, wenn du es als Vorgang dritter Person denkst, dem ich dann
aposteriori "zustimmen" darf.

Und wieder biegst du meine Gedanken ins Absurde - seufz...

Sorry, nicht meine Absicht. Ich denke so.

Nochmal meinen ganzen Satz: "Er [der Grund] kann aber festgestellt
werden und wenn es nicht entfremdet geschieht, wird die handelnde
Person dem auch zustimmen können - oder sich den Grund sogar selbst
überlegen."

Darauf antwortest du eigentlich nicht. Ein Grund für eine Handlung
kann von irgendwem festgestellt werden.

Nein, das sehe ich nicht. Es mag Fälle geben, wo das gelingt, aber wir 
reden ja hier allgemein. Und allgemein trifft deine Aussage nicht zu - 
insbesondere im Angesicht deiner "meinetwegen"-Zustimmung, dass der Grund 
erster Person ist.

Insbesondere auch von der je ersten Person.

IMHO allgemein nur von dieser.

Ich kann aber auch in einem Dialog mit einer zweiten
Person über meine Gründe sprechen und es kann sein, dass diese zweite
Person die besser begreift und mir nahe bringt. [Ich höre deinen
Aufschrei bis hierher...]

Da muss ich nicht aufschreien: Wenn ein Dialog einer zwischen ersten 
Personen ist, also keiner meint, die dritte Person des Wissenden 
einnehmen zu müssen (was allgemein ja nicht geht, aber trotzdem alle Nas 
lang passiert), dann ist das überhaupt _die_ Möglichkeit, an die Gründe 
anderer heranzukommen.

Dann hat eine andere Person meine Gründe
festgestellt und ich kann ihnen zustimmen.

Kann mal passieren. Gilt aber nicht allgemein. Ist mir insbesondere nicht 
sehr angenehm, wenn mir jemand "meine Gründe" verklickern möchte: Was 
bildet der/die sich ein....

Wenn sie sie mir nicht nahe
bringen kann, dann handelt es sich erstmal um Entfremdung (nämlich von
mir).

Aufschreien tue ich nun hier! Verstehe ich recht: Es handelt sich um 
Entfremdung, wenn ich behauptete "meine Gründe", die mir jemand 
verklickern will, nicht annehme?

Dann könnte mensch das meinetwegen mit Drittstandpunkt
bezeichnen. Aber eben *nur* im entfremdeten Fall. Nicht, wenn je ich
zustimme.

Entfremdung ist, wenn ich dem "Wissenden" (woher soll der das nehmen?) 
nicht zustimmen kann? Und alles ist in Butter, wenn ich einer dritten 
Person zustimme, dass diese schon über meine Angelegenheiten Bescheid 
wisse? - Wie soll das gehen??

Wo in diesem Bild die dritte Person vorkommt ist mir schlicht und
ergreifend unerklärlich. Kannst du nochmal erklären, wie "ich" oder
vielleicht auch ein Dialog mit einer anderen Person ein "Vorgang
dritter Person" ist?

Wenn die zweite Person über mich (im Gegensatz zu: mit mir) redet, dann 
nimmt sie mir gegenüber den Standpunkt einer dritten Person ein. Eine 
dialogische Situation gewährleistet keineswegs, dass sich hier Einzelne 
nicht zur dritten Person aufschwingen. Hast du das noch nie erlebt - vor 
allem auch, wie unangenehm das ist? Diese Oberlehrer, Superchecker, 
mir-sagen-wollen-was-ich-zu-tun-habe-Leute?

Das ist eigentlich schon der Kern dieser Mail. Was ich hier skizziere,
kann ich in deiner Widerspiegelung nicht wieder finden. Wenn du mir
deutlich machen kannst, dass "ich" und ein "Dialog" immer "Vorgänge
dritter Person" sein müssen, dann bin ich wohl überzeugt.

Ich hoffe, dass ich etwas beitragen konnte: Dialog ist weder immer das 
eine noch das andere, sondern es kommt darauf an, wie sich die Menschen 
im Dialog begegnen. Es gibt keine Garantie für den Standpunkt der ersten 
Person. Er muss immer wieder durchgesetzt werden. Und dafür brauchen wir 
(sic!) ein Bewusstsein von eben dem hier diskutierten Unterschied.

Unsere Differenz ist in meiner Sicht die: Du versuchst den
"emanzipatorischen Charakter" über das Attribut
entfremdet/unentfremdet zu entscheiden. Ich sage: Im Versuch, einen
Vorgang erster Person als einen dritter Person zu fassen, schneidest
du schon jede Möglichkeit der Emanzipation ab, da du nicht positiv
für andere definieren kannst, was für sie gut ist.

Das finde ich jetzt **super**ärgerlich! Kannst du mir eine einzige
Stelle nennen, wo ich das postuliert habe? Du unterstellst mir das
zwar seit einem Jahr - und aus deiner halben Perspektive (tut mir
leid, denke ich immer noch) musst du das wohl - aber *ich* habe es nie
so dargestellt! Wir sind da meines Erachtens völlig d'accord! Nur dass
du m.E. bestimmte Situationen im menschlichen Leben einfach
ignorierst.

Ist halt - wie geschrieben - meine Sicht. Zu der Sicht gehört, dass ich 
IMHO nichts igonoriere, sondern gleiches einfach nur anders sehe als du.

Das können nur sie selbst, weswegen jeder
emanzipatorische Ansatz in Theorie und Praxis vom Standpunkt erster
Person gedacht und gemacht werden muss.

Kein Widerspruch.

Gut.

<cut Interessen - weil anderer Thread>
<cut Handlungsrahmen-Handlung>

Ich will es mal ein bisschen anders formulieren, hoffend, dass du
dem noch zustimmen kannst: Du sagst, du hast eine Beziehung immer
nur zu ganz konkreten Menschen - jedenfalls insofern es für dich
handlungsrelevant ist. Kannst du das teilen?

Ja. Zu den konkreten "kompletten" Menschen mit ihren Beziehungen auch
zu anderen.

Das hätte ich mir ja denken können, dass du das Beziehungsgeflecht -
genauer: die Konstituenten des Beziehungsgeflechts - einfach mit ins
Individuum rein nimmst. Na, da ist ja auch viel Platz...

Na ja, ich hätte mir denken können, dass du konkrete Beziehungen nach 
draussen in eine transzendente Sphäre verlagerst, wo sie dann 
"Beziehungsgeflechte" sind. Da ist auch viel Platz. - Halt zwei Sichten.

Wenn ich dich recht verstanden habe, dann ist aber auch Gesellschaft
ein Element des "kompletten" Menschen. Gesellschaft betrachtest du
aber als eigenständigen Begriff. Du sagst jetzt - wenn ich dich
richtig interpretiere -, dass das Beziehungsgeflecht keine wesentliche
Qualität hat und deswegen nicht wie Gesellschaft kategorial gesondert
zu betrachten lohnt. Na, wenigstens ist es schlüssig ;-) ...

Ja, den gesellschaftlichen Menschen und die menschliche Gesellschaft denke 
ich zusammen. In meiner Sicht kann und darf man beides nicht trennen. Ich 
kann gleichwohl einzeln auf die beiden "Seiten" (oder wie ich das nennen 
soll) des einen Zusammenhangs gucken.

Wenn ich das so postuliere, dann hat das ziemliche Konsequenzen: 
Gesellschaftstheorie ist dann nämlich umfassend nur machbar, wenn ein 
Begriff vom gesellschaftlichen Menschen vorliegt; Individualtheorie ist 
umfassend nur machbar, wenn ein Begriff von der menschlichen Gesellschaft 
vorhanden ist - und zwar in Bezug auf die heutige konkrete Form des 
Kapitalismus.

Dass erstes mangelhaft ist, kritisiere ich z.B. an der krisianischen 
Wertkritik; dass zweites nicht mehr auf dem Stand der Zeit ist, 
kritisiere ich z.B. an der Kritischen Psychologie. - Aber ich schweife 
ab.

Ich behaupte aber, dass auch du sehr wohl auch die Beziehungen der
anderen Mitglieder untereinander im Blick hast. Dass es auch für
dich handlungsrelevant ist, wie die Beziehungen zwischen anderen
Mitgliedern konkret aussehen. Und damit ist - im Rahmen einer Gruppe
und im Gegensatz zu einer Menschenansammlung - das
Beziehungsgeflecht eben sehr wohl und unmittelbar handlungsrelevant.

Wenn du das Konglomerat der Beziehungen von mir zu anderen zu nennen
magst - von mir aus. Wenn daraus eine darüber hinausgehende Relevanz
ableitest: das halte ich für eine "metaphysische Aufladung".

Ja. Die Frage in deinen Worten formuliert wäre wohl, ob das
Beziehungsgeflecht ähnlich dem Begriff der Gesellschaft eigene
Qualitäten hat, die es zu betrachten lohnt und die nicht in den durch
Gesellschaft gegebenen Beziehungen aufgehen. Ich denke, dass das so
ist und dass das auch nochmal eine ganz andere Dimension als die
Dimension "Individuum" / "Gesellschaft" ist. Ich würde diese Dimension
das Soziale nennen. Ich halte daran fest, dass das eine wichtige
Dimension ist, wenn wir über eine emanzipierte Gesellschaftsform
nachdenken wollen.

Ok, das Anliegen habe ich hoffentlich verstanden - auch wenn ich das 
manchmal verkürzt als "da muss noch was zwischen Individuum und 
Gesellschaft sein" wiedergebe. Ok: eine andere Dimension, das Soziale.

Und es stimmt, ich sehe es anders: Das Soziale ist in Bezug zu dem oben 
aufgeführten Mensch-Gesellschaft-Zusammenhang keine andere Dimension.

Damit wird das
Beziehungsgeflecht *als solches* zu einer handlungsleitenden
Kategorie (unter anderen).

Das wäre eine solche "Aufladung", die ich nicht teile.

Na, bei der Aufladung Gesellschaft hast du da kein Problem ;-) .

Ist ja IMHO keine Aufladung. Da macht ein konkret-allgemeiner Begriff 
Sinn, bei Beziehungsgeflechten sehe ich das nicht so.

Um die obige Unterscheidung aufzugreifen: Beziehungsgeflecht mag ein 
abstrakt-allgemeiner Begriff sein, irgendwie gibt's das, kann sein, ist 
aber analytisch nicht weiterbringend. Aber habe ich in anderen Worten 
("keine Kategorie") schon mal geschrieben.

Ciao,
Stefan

-- 
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