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Zur Hierarchie (was: Re: [ox] aHa!)



Hi Liste!

3 weeks (21 days) ago Stefan Meretz wrote:
On Monday 24 February 2003 14:15, alfred morhammer wrote:
ich übersetze mir H. mit hierarchie

Der H.-Anteil im Internet liegt m.E. wesentlich in

Bitte um kurze Erklärung
- Was heißt "H."?

H.! Da h.ben wir's. Hierarchie, eine neue Variante.

Nein, H. ist nicht Hierarchie, nicht Herrschaft, nicht Hutzliputzli,
sondern H. ist, ist, ist, ist...

Danach wird noch geforscht:
http://www.oekonux.de/liste/archive/msg06312.html
http://www.oekonux.de/liste/archive/msg06317.html
usw.

Uneingeschränkt Ja :-) .

Hierarchie ist aber in der Tat auch so ein schönes Wort, woran ich bei
dieser Gelegenheit gleich mal dran rumdenken möchte. Ich erinnere mich
an eine Debatte aus lange zurückliegenden libertären Zeiten, wo es um
dieses Wort ging.

IIRC ist die Lexikonübersetzung wohl "heilige Herrschaft" - der
Begriff stammt wohl tatsächlich aus der (nur christlichen?) Kirche. Im
Lichte der hiesigen Debatten ist das "heilig" daran selbstredend
hochverdächtig. Das "heilig" bezieht sich ja gerade auf im wahrsten
Sinne des Wortes transzendente Institutionen (z.B. Gott), die die
Herrschaft legitimieren. Das kann also irgendwie nicht emanzipatorisch
sein, da diese transzendenten Bezüge halt einerseits über die Menschen
drüber weg brettern und eben nicht ihre Bedürfnisse berücksichtigen.
Andererseits bedürfen transzendente Institutionen immer irgendwelcher
menschlicher InterpretatorInnen - sonst wären sie ja nicht
transzendent sondern gerade immanent so wie ich das verstanden habe.
Da aber auch diese InterpretatorInnen keinen Zugang zum Transzendenten
haben, haben sie damit letztlich die unhinterfragbare Verfügungsgewalt
über die Herrschaftslegitimation. Hmm... Ich schreibe das hier mal so
straight hin. Gäbe es vielleicht auch noch was zu überlegen /
differenzieren.

Anyway. Einer der Informatiker in der Libertären Gruppe, wollte unter
Hierarchie nicht das verstehen, was sicher alle auf der Liste hier
darunter verstehen (incl. mir ;-) ). Er hat Hierarchie mehr als
Bezeichnung für eine bestimmte Struktur betrachtet - wie sie in der
Informatik ja sehr häufig vorkommt. In der Informatik werden gerne
Hierarchien über informatische Entitäten gebildet, die oft
verschiedene Abstraktionsstufen beschreiben. Während auf den unteren
Hierarchieebenen die (irgendwie) konkreteren Dinge angesiedelt sind,
abstrahieren die höheren Ebenen gerade davon. Bei Texten gibt es das
z.B. auch: Die verschiedenen Ebenen von Überschriften bilden eine
Hierarchie, die den Gesamttext strukturiert.

Diese Struktur war es wohl, weswegen mein Mitlibertärer damals
Hierarchie so spannend fand. Und in der Tat ist diese Struktur, diese
Ordnung halt auch was Nützliches. Wie jede Ordnung / Struktur kann
auch eine Hierarchie helfen, komplexe Dinge verstehbar / handhabbar zu
machen. Damit eröffnet eine Hierarchie grundsätzlich erstmal
Handlungsmöglichkeiten. Wenn ich etwas besser verstehe / handhaben
kann, dann habe ich mehr Handlungsmöglichkeiten. Gleichzeitig tut jede
Ordnung / Struktur den Dingen natürlich auch irgendwie Gewalt an,
indem es die Dinge in ihnen äußerliche Strukturen einsortiert. Wohl
eine unauflösbare Spannung.

Ist Hierarchie also bezogen auf irgendwelche Objekte unserer Umwelt
ein nützlich Ding, so ändert sich das Bild wenn wir es auf Menschen
projizieren. Just die Aspekte von Hierarchie, die bei Objekten
sinnvoll sind, sind es bei Menschen unter emanzipatorischer Perspektive
gerade nicht. Die bei Objekten nützliche Abstraktion heißt bei
Menschen tendenziell ein Verlassen der konkreten Bedürfnislage. Je
weiter die Abstraktion geht, desto stärker verschwinden die je
konkreten Bedürfnisse. Menschen werden in solchen abstrakten Gebilden
schnell zur reinen Funktion und damit eines Teils ihres Menschseins
beraubt.

Die Abstraktion, die eine Hierarchie also leistet, bedeutet bezogen
auf Menschen also eine Entfremdung von ihnen. Vielleicht ist das
irgendwie verwandt mit Adornos Kälte der Organisation?

Andererseits gibt es viele Gründe, Organisation auch in einer
emanzipatorischen Gesellschaft zu wollen. Hier liegt wohl wirklich
*die* Preisfrage: Wie kann sich das verbinden? Dass es nicht leicht
ist, ist glaube ich offensichtlich - sonst würden wir nicht so lange
drüber sprechen. Aber BTW: Die ganze Diskussion um H. finde ich nach
wie vor sehr spannend. Ich lerne viel, betrachte viele Dinge mit
anderen Augen und ich denke, dass wir uns so langsam auch wichtigen
Kernen nähern :-) :-) .

Wie läuft es denn in der Freien Software? Dort gibt es auf der
technischen Seite selbstredend haufenweise Hierarchien und
Abstraktionen. Bis auch nur ein Pixel auf dem Bildschirm erscheint,
nur ein Bit über das Internet fließt sind x Abstraktionsstufen
durchlaufen, die alle hierarchisch aufeinander aufbauen. Hierarchie
ist hier also ein Ordnungsprinzip, das wohl von allen
InformatikerInnen geteilt wird - vielleicht auch von anderen
IngenieurInnen. Es ist einfach ein Mittel die ungeheure Komplexität in
den (Be)Griff zu kriegen, handhabbar zu machen.

In den Projekten selbst gibt es diese Sorte Hierarchie aber nach
meiner Wahrnehmung eher nicht. Hier würde ich eher von einer
Spezialisierung sprechen, die ebenfalls eine (soziale) Ordnung
begründet, die aber nicht auf Über- bzw. Unterordnung beruht, sondern
eine parallele Angelegenheit ist. MaintainerInnen sind für mich in
diesem Zusammenhang ebenso SpezialistInnen wie Web-DesignerInnen oder
CoderInnen.

Aber was mir beim Schreiben so auffällt: Die Hierarchie der Dinge hat
natürlich auch Auswirkungen auf die Menschen. Wenn ich beispielsweise
einen Treiber für Linux (also nur der Kernel) schreiben will, dann
muss ich mich an die Vorgaben halten, die der Kernel als höhere
Hierarchiestufe macht. Ansonsten funktioniert det Janze einfach nicht.
Hier ist der strukturelle Zwang zu spüren, den ich bei der großen
Infrastruktur kürzlich schon ausführlicher erörtert hatte.

Warum wird das eher nicht als Problem empfunden? Oder wird es etwa? Na
ja, bestimmt gibt es hier und da Kritik an der Schnittstelle des
Kernels zu den Hardware-Treibern. Sicher wird das auch hin und wieder
dazu führen, dass jemensch einen Treiber nicht schreibt. Aber immerhin
gibt es hinlänglich viele, die sich davon nicht abschrecken lassen,
sondern sich in die Vorgabe einfügen. Und im übrigen darauf vertrauen,
dass die Vorgabe Bestand hat. Würde die Vorgabe alle Nase lang
geändert, so hätten sie selbige bestimmt schnell voll und würden das
Treiber-Schreiben bald lassen. Hier zeigt sich auch die wechselseitige
Abhängigkeit zwischen denen, die viele Treiber wollen und denen, die
einen Kernel wollen, in den sie ihr Werk einbinden und also nutzen
können.

Warum funktioniert das? Warum würde mensch hier eher nicht von einer
(sozialen) Hierarchie sprechen? Oder anders gefragt: Wann würde mensch
es? Ich denke, dass die allseitige Einsicht hier eine zentrale Rolle
spielt. Sowohl die, die Kernel-Schnittstellen definieren, als auch
die, die Treiber schreiben, sehen ein, dass es hier eine bestimmte
Struktur geben muss, um die Komplexität der Dinge in den Griff zu
bekommen. Gleichzeitig sind alle aufeinander mehr oder weniger
angewiesen. Deswegen werden sowohl Schnittstellen-DesignerInnen als
auch Treiber-EntwicklerInnen versuchen, auf die Bedürfnisse der
jeweils anderen Seite Rücksicht zu nehmen. Dem Handeln der beiden
Gruppen liegt also eine Zweckrationalität (Adorno) zu Grunde, die sich
in einem Interesse der Gesamtgruppe an einem stabilen und brauchbaren
Standard manifestiert. Auf dieser Grundlage fühlt sich da keineR
übermäßig unterdrückt sondern fügt sich in die Gruppe ein.

Wenn diese Bindung aber verschwindet, wenn das Interesse einzelner
eben nicht mehr an die gemeinsame Zweckrationalität gebunden ist,
sondern andere Ziele verfolgt - z.B. nicht allgemein fachlich /
technisch begründbare proprietäre Interessen, dann entfremdet sich das
ganze System von den Menschen. Dann wird ein Standard zum
Unterdrückungsmechanismus.

Und auch das lässt sich an solchen Beispielen illustrieren.
Proprietäre Standards oder andere von den NutzerInnen entfremdete
Standards wie TCPA werden als Herrschaftsmittel wahrgenommen. Wenn M$
versucht, seine Standards in dem Markt zu drücken und das von Freien
EntwicklerInnen nicht begrüßt wird, dann liegt das nicht mal unbedingt
daran, dass sie technisch nicht so toll sind (gibt aber auch technisch
gute proprietäre Standards: RTF ist z.B. von M$ geschaffen und
technisch gar nicht übel), sondern dass die Verwertungszwecke in die
Standards eingebaut sind.

Vielleicht ein besonders spannendes Beispiel für das komplizierte
Verhältnis auf diesem Sektor ist Mono. Der Versuch also, die virtuelle
Maschine von M$'s .NET Frei zu reimplementieren. Hier ist ein
(wichtiger) Freier Entwickler von der technischen Idee fasziniert und
glaubt, dass er die technische Idee von ihrem proprietären Hintergrund
separieren kann. Für ausgeschlossen würde ich es nicht halten. Na, wir
werden sehen.

Nun, mal so ein paar halbreife Gedanken zu wieder so einem
schillernden Wort. Vielleicht kann ja jemensch was weiterentwickeln?


						Mit Freien Grüßen

						Stefan

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de



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