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[ox] Martin (Leipzig) in CEE IEH 94 (Dez. 02)



Widerruf und Bekräftigung: Oekonux-Konferenz. 
 

Ich habe mich im CEE IEH #74 über das Buch von Stefan Meretz “Linux &
Co” lustig gemacht. Dies war falsch. Zur Entschuldigung fuhr ich zur
Oekonux-Konferenz (Oekonux = Ökonomie & Linux). Dies war ebenfalls falsch. Denn
darüber muss ich mich erneut lustig machen.

Widerruf

Es gibt in fast jedem Wissenschaftsbereich Menschen, die sich kritisch
dünken und gleichzeitig an ihrem Gebiet hängen. Sie gründen dann Arbeitskreise,
die sich „Kritische Medizin“, „Kritisches Bankwesen“
oder „Kritische Astrologie“ nennen – und nicht weiter von
Interesse sind. Eine Ausnahme stellt vielleicht der Leipziger Arbeitskreis
„Kritische Psychologie“ dar, der immerhin in der Lage war, zu einem
interessanten Kongress nach Berlin zu fahren, in dem untersucht wurde,
inwieweit die bürgerliche Subjektbildung im Kapitalismus mit der Psychologie
zusammenhängt. Ein Bericht steht leider noch aus; hier soll nicht weiter die Rede
davon sein. Die kritischen InformatikerInnen glauben allerdings, an einem großen
Ding dran zu sein: Während die anderen „kritischen Menschen“ nur
im Kopf herumanalysieren oder am System herumdoktern wollen, haben sie den
Dreh raus, sowohl analytisch als auch praktisch – und das volle Kanne
systemsprengend. Auf der Höhe der Wertkritik, Abteilung Krisentheorie, sich
befindend, postulieren sie, dass der Kapitalismus eine selbstregulierende,
kybernetische Maschine sei, deren einziger Sinn darin bestünde, Mehrwert zu
schaffen. Die Maschine namens Kapitalismus produziere innere Widersprüche, gehe
daran demnächst zugrunde und trage Keimformen einer neuen Gesellschaft in sich.
Diese Keimformen sprießen jedoch nicht zwangsläufig, sondern müssen entdeckt
und gepflegt werden. 
Eine der Keimformen sei die Freie Software, die sich mittels besonderer
Lizensen der Verwertung entziehe. Die „Kritischen InformatikerInnen“,
die sich im Oekonux-Projekt zusammengefunden haben, wollen nun keine Freie
Software programmieren, sondern untersuchen, inwieweit Freie Software ihre
systemsprengende Kraft entfalten kann, wie dies befördert werden könnte und wie
gesellschaftliche Utopien beschaffen sein müssten. Ein äußerst sympathisches
Unternehmen, welches sich daran macht, auf der Höhe der Zeit eine
Aufhebungsbewegung zu initiieren: „Aber was tun, wenn nicht am Kapitalismus
herumreformieren? Einfach: Dämme bauen und Schiffe bauen. Dämme bauen bedeutet,
Erreichtes zu verteidigen, aber keinen Pfifferling zu geben auf den
Kapitalismus. Schiffe zu bauen bedeutet, den Kapitalismus nicht nur gedanklich abzuhaken,
sondern hier und heute Neues erfinden.“ Dies klingt bei den
„Kritischen InformatikerInnen“ so plausibel, da sie einerseits nicht wie
die „Kritischen Landwirte“ zurück (zur Natur, in die Vormoderne
etc.) wollen, anderseits nicht wie die „Kritischen KritikerInnen“
nicht über das Bestehende kühn hinaus. Sie verbieten sich nicht das Denken von
Alternativen – und das, ohne gleichzeitig kitschige
Gesellschaftsmodelle, die im Bestehenden verhaftet bleiben, zu entwerfen. Die Lektüre der
entsprechende Texte und des damals geschmähten Buches sei hiermit ausdrücklich
empfohlen. 

Bekräftigung

Vom 1. bis 3. November fand in Berlin die 2. Oekonux-Konferenz unter dem
Motto „Wertfrei und Spaß dabei! Von der Freien Software zur Freien
Gesellschaft“ statt. Die 100 TeilnehmerInnen enttäuschten die OrganisatorInnen
vor allem quantitativ – sie hatten einfach mehr erwartet. Dabei hätten
sie mehr über die Qualität der Referate und Diskussionsbeiträge erschrocken
sein sollen. Aber wahrscheinlich sind sie das schon gewöhnt. An das Niveau
der wenigen Oekonux-MacherInnen kommt die Masse auf absehbare Zeit nicht heran.
Oekonux ist als politischer Zusammenhang so ehrlich, dies nicht zu
vertuschen – und so naiv, dies für eine politische Qualität zu halten. Das
Ergebnis ist indymedia-like: Eine gute Idee wird von unterschiedlich stark
verwirrten Menschen dazu genutzt, ihren Müll abzuladen. 
 
Oekonux hatte im Vorfeld dazu eingeladen, eigene Vorträge und Workshops
anzumelden. Während wir in Leipzig dachten, zu „dumm“ dafür zu sein,
fehlten es einigen anderen an der richtigen Mischung aus Schüchternheit,
Respekt und Schamgefühl, im Kontext der Oekonux-Konferenz Diplomarbeiten einer
Zweitverwertung zuzuführen oder – viel schlimmer – krude Projekte,
die nicht einmal in einer Freien Schule durchgeführt werden könnten,
vorzustellen. Die MacherInnen schienen dies schon geahnt zu haben und versuchten erst
gar nicht, ihren theoretischen Ansatz auf der Konferenz zu vermitteln oder
zu diskutieren. Vielmehr begaben sie sich in eine Diskussion um technische
Detailfragen, denen das Publikum aber auch nicht gewachsen war.

Ein paar Auszüge aus den Ankündigungen zu den Veranstaltungen mögen zur
Veranschaulichung genügen (alle Rechtschreibfehler im Original): „Virtuelle
Welten – Kulturelle Aspekte – Revolutionäres Potential ... Im
Vortrag geht es ... um die virtuelle Abbbildung einer real existierenden Stadt
als Möglichkeitserweiterung der darin lebenden Bürger. ... zusätzliche
Persönlichkeiten, kreative Möglichkeiten und revolutionäres und somit
Weltfriedenspotential eines solchen Projektes – alles am Beispiel der Friedensstadt
Osnabrück :-)“ Die Nazis von Osnabrück können sich im Internet
transidentitäre Identitäten zulegen und ganz friedlich mit dem türkischen Gangs
chatten, während der Bürgermeister auslotet, wieviel Schmiergeld von den örtlichen
Rüstungsfirmen die Bevölkerung moralisch angemessen finden. Alles sehr
revolutionär das.

Revolutionär ist auch die „Revolutionäre Bildungsarbeit. ... Jeder
Mensch ist ein Experte ... Linux ist ein Computer Betriebssystem ..., das viele
Eigenschaften einer ‘anderen Welt’, eines solidarischen,
kooperativenn Lebens und Arbeitens verbindet. ... Gleichzeitig liefert diese Form der
Produktion ... die hoehere Qualität! Davon ist inzwischen auch die deutsche
Regierung ueberzeugt. Der Bundestag stellt auf Linux um, andere Behoerden
wollen nachziehen.“ Ein Linux-Bundestag führt plötzlich nur noch
friedliche Menschenrechtskriege und der Verfassungsschutz kann mit Freier Software
effektiver Telefonate von bösen AntimilitaristInnen überwachen. Was eigentlich
zum Nachdenken über das Potential von Freier Software anregen sollte (Linux im
Bundestag), wird lediglich als mühsam erkämpfte Anerkennung von der
Gegenseite verstanden, für die mensch sich rühmen kann. Aber weiter im Text:
„Linux Lernen, Lieben, Leben ist auch ein ernsthafter Angriff auf das Monopol
von Micro$oft ... Mit selbstorganisierten, politischen Linux Seminaren fuer
AnfaengerInnen und Fortgeschrittene wollen wir unser Wissen mit Euch teilen und
Euch die Moeglichkeit geben, Euch aus den Klauen von M$ und anderen zu
befreien. ... Auf der Oekonux Konferenz moechten wir mit anderen ueber einen
ReferentInnenpool und Vernetzung der verschiedenen Kurse nachdenken.“ Sind
eigentlich Umlaute nach der Revolution noch erlaubt? 
Dies wird vielleicht im Deutschunterricht geklärt, der – wenn sich das
Projekt „OpenWebSchool“ durchsetzen sollte – nur noch im
Internet stattfindet: „Dabei sollen die Vorteile des Internets für
Schulen und Schüler genutzt werden: Da diese Unterrichtseinheiten jederzeit zur
Verfügung stehen, können alle Schüler und Lehrer diese zu beliebiger Zeit an
beliebigem Ort einsetzen.“ Wenn die Lehrinhalte nach Hause kommen, ist es
Schluss mit der Zeit, als es Kältefrei an der Schule gab. Aber auch die
Werbung soll verstärkt in die Bildung Einzug halten: „Vielleicht gibt es
auch Sponsoren, die Preise für die interessantesten, witzigsten, schönsten,
lustigsten Programme aussetzen.“ Die perfekte Überwachung der SchülerInnen
– wer guckt ab oder schaut sich die Werbung nicht lang genug an
– ist gleich mit integriert: „Interessant dürften in diesem
Zusammenhang die Möglichkeiten der quantitativen Analyse von Lernverhalten am Computer
sein: Durch modifizierte Scripts können leicht eine Menge von Daten über die
Anwendung der Unterrichtseinheiten gewonnen werden. Die Erkenntnisse aus der
Auswertung dieser Daten können umgehend in die Optimierung der Lehreinheiten
fließen.“
 
Weniger revolutionär ging es im Vortrag über „Kommerzielle Freie
Software“ zu: „Weiterhin wird die These vertreten, dass kommerzielle
Software im Umfeld von Freier Software zu begrüssen sind und positive Effekte
für die gesamte demokratische Gesellschaft fördern. ... Es wird skizziert,
wie Freie Software den Unternehmen und der Unternehmenskultur nutzen kann. Also
die betriebswirtschaftliche Sichtweise im gegensatz zur reinen
Volkswirtschaftlichen.“ Wie nur konnte dieser konterrevolutionäre Spaltpilz
innerhalb der revolutionären Keimform übersehen werden? 
Es gab noch andere giftige Pilze. Das „Projekt Hostsharing AG“
will „die Philosophie von Open-Source auf ein wirtschaftlich,
tragfähiges Geschäftsmodell übersetzen. ... Ziel ist es, eine gesunde wirtschaftliche
Basis zu entwickeln um äußere finanzielle Zwänge weitestgehend zu vermeiden.
Gesundes Wachstum, Qualität und Kontinuität statt Masse“ –
Deutsche Markenware eben! Im Vortrag „Management and Virtual Decentralised
Networks. The Linux Projekt“ interessiert sich der Referent, wie sich die
flachen Arbeitsstrukturen der Software-Entwicklung auf andere
Industrie-Bereich übertragen lassen, z.B. in der Pharma-, Automobil- und
Telekommunikations-Industrie sowie im Bankwesen. 
Das Bankwesen hat allerdings Nachhilfe in Sachen modernem Management
dringend nötig – schließlich wird im folgenden Workshop der Aufstand der
verkürzten Kapitalismuskritik geprobt: „freie vernetzte kultur ... Sprachen
darstellen und lernen im Web. ... Also z.B. suaheli für tuerken, fuer basken,
fuer russen, fuer chinesen ... das web ermoeglicht es, wenn geeignete
werkzeuge vorhanden sind, auch sehr seltene, vom aussterben bedrohte sprachen zu
bewahren.“ Das Web ermöglicht es leider auch, sehr weitverbreitete und
krude Gedanken zu bewahren. „Verwandt mit dem vorstehenden ist,
sprachverwandtschaften aufzuspueren. ... die studien und ergebnisse koennten und
sollten via web popularisiert werden. ... Beispielweise heisst in einer
afrikanischen sprachhe mit einer nicht-monotheistischen goetterwelt ‘gott’
wodun. ... Die naehe von ‘wodun’ zum germanischen
‘wotan’ ist nun mehr als verblüffend.“ Wozu die ganze Sprachforschung gut
ist? Wahrscheinlich für das babylonische Filmprojekt, welches im gleichen
Workshop besprochen werden sollte: „weltweit via Web ein Video zu
produzieren, worin man der Frage nachgeht, wie man zu einer Tasse Kaffee kommt. ...
Das Video soll nicht nur Mutti zeigen, wie sie Pappi den Kaffee in die Tasse
gießt, wie Männer in der Kaffeepause an der Kaffeebude steht und sich den
Kaffee in den Kopf schütten, wie in Tiflis, in Rom oder Paris, in New Orleans
oder Rio, in Nairobi oder in Mekka der Kaffee gereicht wird, in den Bars, zu
Hause oder wie er bei der Arbeit aus dem Kaffeeblech getrunken wird. Das Video
soll nicht nur zeigen, wie ein Campesino mit seiner Familie die Kaffeebäumchen
pflegt, die Bohnen erntet, sortiert, trocknet, irgendwie vermarktet. ... Zur
Tasse Kaffee gehört auch die Tasse: Den Kaffee in hohlen Hand kochen, das
geht nicht. Also, wo kommt die Tasse her, der Wasserkessel? Wie werden diese
produziert? Auf welchem Ofen oder Herd, mit welcher Maschine wird das Wasser
für den Kaffee erhitzt? Wo kommt diese Maschine her? Der Stahl, der dafür
verwendet wurde? Woher kommt das Wasser, durch welche Rohre fließt es? Wer hat die
Kaffeemaschine, den Herd gebaut, die Rohrleitung für das Wasser, den
Brunnen? Usw.“ Und wo in aller Welt kommen solche Menschen mit solchen
Gedanken her. Und in welches Land können wir sie hinschicken, damit sie möglichst
wenig Schaden anrichten? Vielleicht dahin: „Warsteiner laesst in Ruanda
eine Hi-tech-Limonadenfabrik bauen. Die Limo wird spaeter nach Suedafrika
gekarrt. (Quelle: Oral-history von einem, dessen Freund an der Fabrik
mitbaut.)“ 

Limo ist böse, Biogas ist gut! Denn – so der Vortrag über
„Biogas-Nutzung und Freie Software“ – die Forschung nach erneuerbaren
Energien geschieht nicht „in den Labors der Großunternehmen ..., sondern
oft sind es geschickte Techniker, die als ‘Bastler’
abqualifiziert werden oder Leute, die solche Anlagen selbst betreiben und Verbesserungen
ersinnen. ... Erst seit neuem beginnen Großunternehmen Fuß zu fassen. ... Wie
es auch anders gehen kann, zeigt die Entwicklung der Biogas-Technik in
Deutschland und den unmittelbar angrenzenden Nachbarländern. Vor etwa 2
Jahrzehnten haben Landwirte, die den Platz und den Rohstoff in Form tierischer
Exkremente hatten, in Zusammenarbeit mit entsprechend motivierten Technikern damit
begonnen, Biogas als Energieträger nutzbar zu machen. Mit einfachsten Mitteln,
die teils vom Schrott geholt wurden, sind die ersten Anlagen entstanden ...
Ein wichtiger Akteur der ersten Stunde war die
‘Bundschuh-Biogas-Gruppe’, die Anknüpfend an die Tradition des Bundschuh aus den Bauenkriegen in
Hohenlohe in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts den Kampf gegen eine
Teststrecke von Mercedes-Benz aufgenommen und gewonnen hat. Man wollte nicht
nur gegen etwas sein, sondern etwas Sinnvolles mit den Mitteln und Techniken
der Landwirtschaft machen. Diese Mentalität ist heute immer noch spürbar und
viele Landwirte, vom bäuerlichen Familienbetrieb bis zum großen
Agrarunternehmen sehen in der Biogastechnik ein Instrument, das ihnen ein größeres Stück
Eigenverantwortung zurückgibt ...“ Ein Vortrag, der bei der NPD, der PDS
oder der UNO-Umweltabteilung genauso gut aufgehoben wäre. 
Als ebenfalls massenkompatibel erwies sich ein Vortrag über den Kampf der
armen Bibliotheken gegen die „grossen Wissenschaftsverlage“, deren
Verbrechen nicht etwa darin bestünde, Unsinn zu publizieren und zu verkaufen,
sondern nur darin, „jahrelang enorme Preissteigerungen“
vorgenommen zu haben. Der Referent nimmt zwar für sich in Anspruch, die
„Self-Archiving oder Open-Access Community ... aus marxistischer Sicht kritisch
unter die Lupe“ zu nehmen – zu beklagen, dass reiche Profs für ihre
Zeitschriften etwas tiefer in den Geldbeutel greifen müssen, ist aber weder
marxistisch noch lupenrein kritisch.
Im Workshop „Freie Menschen in Freien Vereinbarungen“ steht
fest, „was den Menschen im Kern antreibt: Sein Egoismus, der Wille nach
einem besseren Leben, das Bedürfnis nach Sicherheit bzw. Geborgenheit, Lust und
Befriedigung, Selbstentfaltung und Innovation – alles also Ziele, die
vom Egoismus gespeist werden.“ Der Kapitalismus erzeugt also nicht den
Egoismus der Menschen, sondern ist die falsche Hülle für den Egoismus. Der
Mensch ist ein Wolf – diese Spielart des Anarchismus leistete erst
kürzlich in der graswurzelrevolution ihren Offenbarungseid, als Pazifismus mit einem
mathematischen Modell begründet wurde: Statistisch seien die
Überlebenschancen im Krieg am höchsten, wenn die Soldaten nicht aufeinander schießen...
Unser Top-Favorit ist aber die folgende Ankündigung: „real-mapping.
Wir sind an den ‘Voreinstellungen’ Sozialen Lebens interessiert,
wie sie durch gesellschaftliche Interdependenzen hervorgerufen werden. Davon
möchten wir eine Globale ‘Karte’ (Map) erstellen. Bei dem Projekt
geht es um eine Re-Aneignung von Wissen. ... Die Projektidee des ‘realen
Mapping’ basiert auf der These ästhetischer und technischer, sowie
ökonomischer/historischer Verhaeltnisse. Davon ausgehend soll eine Art
Kartographie als programmierten Beziehungsgeflecht, die Bedingungen und Möglichkeiten
dieser Verhältnisse qualitativ in ihre politisch gesellschaftliche Relation
setzen, um einen frei zugänglichen Ansatz zu einer möglichen Übersicht zu
bieten. Das Mapping soll datenbankbasiert online (im WWW) und offline (CD-Rom)
visualisiert werden.“ Wer sich darunter nichts vorstellen kann, der/dem
sei gesagt, dass sie/er damit genau richtig liegt. Die beiden Referenten
vollbrachten die rhetorische Meisterleistung, drei Stunden über dieses Nichts zu
labern.
Aber selbst die MacherInnen der Konferenz glänzten nicht mit ihren Vorträgen
und Workshops. Zum einen stellten sie das Buch „Empire“ von
Hardt/Negri vor und versuchten, die Freie Software-Bewegung theoretisch
einzugliedern. Da der Empire-Geist (InformatikerInnen als Multitude-Avantgarde) über
der ganzen Konferenz schwebte, gelang ihnen keine Kritik an dem Buch. Vielmehr
versuchten sie zu belegen, dass die Produktion der Freien Software alle
Kriterien einer kommunistischen, immateriellen Produktion nach Hardt/Negri
erfülle – und waren stolz darauf. Die „Freie Software“ wäre,
selbst wenn sie der kapitalistischen Verwertung nutze, ein „vergiftetes
Geschenk“, denn sie transportiere mit ihrem Code auch eine Idee. Außerdem
solle nicht danach gefragt werden, ob etwas dem „System“ nutze
– da es kein Außen gibt, nutze ihm alles –, sondern wie es uns
nutzen könne. Da wird aber die Mehrheit der UserInnen sagen, dass
Microsoft-Produkte für sie sinnvoller sind als Linux-Programme.
In einem Workshop zur „Verteilten Theorie-Entwicklung im Web“
stellten die Oekonux-ProtagonistInnen ihre verschieden Internet-Werkzeuge zur
Diskussion. Es handelt sich dabei um Programme wie Mailinglisten und
Web-Datenbanken (Open-Theory, WikiWiki), die eine theoretische Diskussion nach den
Prinzipien der Freien Software-Entwicklung – dezentral, hierarchiefrei,
selbstbestimmt – ermöglichen sollen. Allerdings wurde in diesem Workshop
lediglich technisch diskutiert (wie kann ich die Kommentare ausblenden und
welche Exportformate gibt es) anstatt das Konzept zu hinterfragen: Für welche
Inhalte werden die Plattformen genutzt und ist Theorie-Entwicklung mit
Software-Entwicklung zu vergleichen, kann Theorie überhaupt im Internet entstehen.
Ein Blick auf Open-Theory – das mit Abstand ambitionierteste Projekt
(wer mag, soll sich den Unsinn auf der Oekonux-Mailingliste und das WikiWiki
selbst ansehen!) – offenbart das Dilemma: Die anspruchsvollen Texte von
der Krisis und den Oekonux-Leuten stehen da zwar im Netz, sie werden aber nicht
diskutiert und weiterentwickelt. Mausebär z.B., dessen Texte im CEE IEH für
viele Diskussionen sorgen, bekam auf seinen Text zur Krisentheorie auf
Open-Theory nur einen Kommentar, an Robert Kurz traute sich gleich niemand ran.
Lieber diskutieren die Menschen im Internet über Wasserräder, das Parteiprogramm
der PDS, Kurzgeschichten mit geschlechtsneutraler Sprache (das Hauptheldis
ist sächlich und hat nur das Problem, dass das Possessivpronomen von das sein
und nicht ihr heisst) oder das Perpetuum mobile – über das wir
erfahren, dass es möglich ist, wenn nicht der Geheimdienst wäre, der nicht will, dass
eins erfunden wird. Letztendlich ist Open-Theory eine mißlungene Mischung
aus anspruchsvoller Internetzeitung und einem belanglosen Diskussionsforum wie
Indymedia – und auf keinen Fall ein hoffnungsvolles Projekt, welches
sich die Erfahrungen der Software-Entwicklung zu Nutze macht.
Obwohl auf der Konferenz etliche Nicht-InformatikerInnen anwesend waren,
wurde nicht die Chance genutzt, die Computer-Ebene zu verlassen und zu
diskutieren, ob sich die Modelle der Freien Software-Bewegung überhaupt auf andere
gesellschaftliche Bereich übertragen lassen. Dort, wo dies doch geschehen ist
(Biogas etc.), kam nicht nur im wahrsten Sinn des Wortes ausschließlich Mist
raus. Das Hauptproblem dieser Idee, nämlich dass elektronische Güter ohne
Verlust teilbar und somit unendlich verfügbar sind, materielle Güter aber nicht,
wird zwar in den Oekonux-Texten angesprochen, jedoch nicht gelöst. So schreibt
Stefan Merten in seinem Grundlagentext „Gnu/Linux – Meilenstein
auf dem Weg in die GPL-Gesellschaft?“ davon, dass es
„Universalmaschinen“ geben wird, die „computergesteuert mehr oder weniger
beliebige Werkstücke herstellen“ könnten – das Problem der
Endlichkeit der Ressourcen ist damit noch lange nicht gelöst. Und der Frage, ob es
strukturelle Probleme bei der Übertragung auf andere Produktionsprozesse geben
könnte, ist noch nicht einmal gestellt. Dies beweist schon die Euphorie, mit
der versucht wird, die Prinzipien der Freien Software blind auf andere
Bereiche zu übertragen (Bildung, Theorie-Entwicklung). Die technokratische Vision
einer durch Computer freien Gesellschaft blamiert sich mit einem Blick in die
„Länder der III. Welt“ – deren Probleme kann Merten im
gleichen Aufsatz zwar nicht weiter erörtern, wie er in einer Fussnote betont, er
weist aber darauf hin, „daß sowohl die Kostenlosigkeit von Gnu/Linux als
auch die Verfügbarkeit des Source-Codes den Ländern der III. Welt Chancen
bietet, die diese auch allmählich zu nutzen beginnen.“ Dabei beantwortet
die Freie Software nur die Frage nach der Verfügbarkeit des Wissens, nicht
die nach dem Zugang zu dem Wissen. Wer keinen Computer sein Eigen nennt, ja,
wer nicht einmal einen Telefonanschluss oder Strom in seiner Hütte hat, wird
sich darüber freuen, dass nicht nur der deutsche Bundestag, sondern auch das
indische Parlament kostengünstige Software einsetzen kann. 

Martin 


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Die großen Welterklärungen. Rezension von “Linux & Co” im CEE
IEH #74 
http://www.oekonux.de 
http://www.oekonux-konferenz.de 
http://www.opentheory.org

http://www.kritische-informatik.de

http://www.gnu.de, http://www.gnu.org (Free Software Foundation,
GPL-Linzens)

http://www.co-forum.de (WikiWiki)

Stefan Meretz: Linux & Co. Freie Software – Ideen für eine andere
Gesellschaft. AG Spak: 2000, 79 S., 
 

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Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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