Re: Die Schlauch-Seil-Inkontingenz (was: Re: Re: [ox] Begrifflichkeiten)
- From: Carmen Ehms <carmen ehms-treff.de>
- Date: Fri, 11 Oct 2002 20:48:40 +0200
Stefan Meretz wrote:
Hallo alle,
nach sehr langer Mitlesezeit wieder mal eine klitzekleine Randbemerkung von
mir:
Diese Erläuterungen sind, finde ich sehr anschaulich, vorallem wegen der
Spannung, ja was ist es nun, worüber sie sich unterhalten.
Ich habe durch einen Besuch von Annette Schlemm da mal wieder viel
gelernt. Nach Hegel es nämlich drei Stufen der "Klarheit": Er nennt das
Sein, Wesen und Begriff. Die Seinsebene handelt von dem, was du oben
"nichts als sinnliche Erfahrung" genannt hast. Jetzt geht mal bei
folgendem Beispiel mit (ist nicht von mir, aber ich fand es sehr witzig
und illustrativ):
Stufe 1: Zwei Leute tauschen sich über ihre unmittelbaren sinnlichen
Eindrücke aus, die ihnen nur tastend zugänglich sind. Der eine schreibt
sein Getastetes als "schlauchartiges Ding mit Rillen". Der Andere nennt
sein Getastetes "seilartiges Ding mit einer Quaste dran". Sie kommen zu
dem Schluss, das sie es nicht mit der gleichen Sache zu tun haben. --
Interessant hier: auch die Seinsebene ist nur über die Praxis zugänglich
(die die Wahrnehmung einschliesst).
Stufe 2: Unsere beiden Leuten erklimmen die nächste Stufe der Erkenntnis.
Sie stellen doch fest, dass es eine Beziehung zwischen dem "gerillten
Schlauch" und dem "gequasteten Seil" gibt: beides taucht stets in einer
bestimmten räumlichen Enfernung voneinander auf. Wenn ein "gerillter
Schlauch" auftaucht, dann gibt es in einer Entfernung von 2 bis 3 Metern
auch ein "gequastetes Seil" - und umgekehrt. Sie definieren das
Schlauch-Rillo-Seil-Quasto-Gesetz und geben diesem Zusammenhang den Namen
Schlauch-Seil-Inkontingenz. -- Interessant hier: Erst durch schrittweises
Aufklären von Zusammenhängen von Erfahrungen, etwa durch Messungen, ist
eine Definition möglich. Das ist die Ebene traditioneller (bürgerlicher)
Wissenschaft. Hier gehören etwa die Selbstorganisationstheorien rein oder
auch die Systematische Soziologie oder Luhmanns Systemtheorie. Es ist die
Ebene des Abstrakt-Allgemeinen. Hier gibt es auch schon "Begriffe", aber
es ist noch nicht die Ebene des Begriffs im Hegelschen Sinne erreicht.
Diese Ebene ist die des Konkret-Allgemeinen.
Aber hier im Punkt 3 ist es mir zu plötzlich, das Ereignis der Erkenntnis.
Stufe 3: Unsere beiden Leute werden immer Schlauer. Sie erkennen nicht nur
abstrakt-allgemeine Zusammenhänge, sondern erschliessen sich das "Ding"
in ihrer vollen Bedeutung innerhalb der menschlich-gesellschaftlichen
Praxis. Und da fällt es ihnen wie Schuppen von den Augen: Das "Ding" ist
ein Elefant!
An dieser Stelle hab ich noch mal mit Annette gemailt und sie schrieb mir
folgendes zur Erläuterung, was mir persönlich die Erkenntnis
anschaulicher darstellt.
Ich wollte es Euch an dieser Stelle auch mitteilen:
Nun ja, dass es "ihnen wie Schuppen von den Augen fällt", ist wirklich eine
Vereinfachung. Das funktioniert nur, wenn sie eigentlich schon wissen, was
ein Elefant ist. Wenn sie das noch nicht wissen, ist genau das gerade die
Innovation des Wissenschaftlers /Menschen, da ein Wort zu finden, dem gleich
eine Bedeutung mitgegeben wird, durch das alles klar wird. Bei Marx war das
z.B. der Begriff "Kapital" durch den die kapitalistische Gesellschaft nun
klar verständlich wird. Newton fand die wesentlichen Grundbegriffe der
Physik (Masse, Geschwindigkeit, Kraft: das zweite Newtonsche Axiom ist die
Definiton für physikalische Kräfte), die vorher auch noch nicht so klar
waren.
Ein Kriterium, ob der richtige Begriff gefunden wurde (im Unterschied zur
Definition, in der vielleicht unwesentliche Gemeinsamkeiten zusammen gefaßt
werden) besteht darin, ob die Entwicklung dessen, was betrachtet wird, damit
verständlich wird. Es geht dann nicht um die Zusammenfassung äußerer
Merkmale (Erscheinungen), sondern um das richtige BEGREIFEN derjenigen
Faktoren (Momente der Totalität), die mit der Entwicklung des Ganzen zu tun
haben. Der "Strick" kann nur in Bezug auf seine Funktion für (die
Entwicklung des) Elefanten als dessen Schwanz richtig begriffen werden.
(hier trifft das mit der Entwicklung nicht ganz zu, aber vor allem in der
Gesellschaft müssen Begriffe so gebildet werden, daß ihre qualitativen
Momente die sind, durch die sich ihre Entwicklung begreifen läßt).
Wichtig ist der Effekt, daß wir vorher in Form von Beispielen über tausende
Stricke reden können und systematisch aneinander vorbeireden werden. Erst
wenn wir den Strick als Schwanz verstanden haben, (also in Bezug auf seine
Totalität/innerhalb des Entwicklungszusammenhangs) kommen wir vorwärts und
wenn wir DANN wieder von Beispielen reden, verwenden wir das Wort "Schwanz"
in seiner nun im Zusammenhang begriffenen Bedeutung.
Ahoi Annette
Tschüssi
Carmen
Nun können sich die beiden in völlig neuer Qualität über das
"Ding" unterhalten und zu neuen Erkenntnissen kommen, weil das
konkret-allgemeine Ding klar geworden ist. Leider haben die beiden nun
erhebliche Schwierigkeiten mit der Masse der Wissenschaftler, die immer
noch von der Schlauch-Seil-Inkontingenz faseln. -- Interessant hier: Der
Graben zwischen einem abstrakt-allgemeinen (Vor-)Begriff und einem
konkret-allgemeinen Begriff lässt sich leider nicht durch eine noch so
hübsche "Definition" überbrücken. Es liegt eine andere Qualität der
Erkenntnis vor. Wenn man das nicht "weiss", dann kann man sich _ewig_
streiten. So etwas passiert auch in dieser Liste. Ist mir selber auch
erst jetzt klar geworden (Danke Annette - ich hoffe, ich habs richtig
wiedergegeben).
Hier sieht man auch sehr schön den Unterschied zwischen formaler Logik und
Dialektik - darauf hatte anderenmails StefanSf hingewiesen.
Das Beispiel mit den Arbeitern und Kapitalisten schenke ich uns mal hier.
Wenn jemand dazu doch Antworten haben will, dann bitte nochmal mailen. Es
hatte auch nur den Status der Illustration.
Ich hoffe, das, was ich als "Definitionsparadoxon" bezeichne (das, was
durch Definition geklärt werden soll, muss vorher schon klar sein) ist
damit klarer geworden.
Ciao,
Stefan
--
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