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Re: [ox] Reziprozitaet



Hi Robert und Liste!

Immer noch ein interessanter Thread. Ich baue noch ein paar Gedanken
aus off-line-Diskussionen ein.

2 weeks (19 days) ago Robert Gehring wrote:
Am Mittwoch, 28. Februar 2002 00:12 schrieb Stefan Merten:
Ob es sich um eine knappe Ressource handelt (in der Literatur werden oft
Trinkwasserprobleme, eßbare Tiere und Pflanzen usw. behandelt), oder um
Freie Software (die beliebig oft kopiert werden kann), spielt keine
vorrangige Rolle.

Ack.

Beide Fälle sind in Bezug auf die Nachhaltigkeit vergleichbar: Wenn
das Wasser erschöpft ist, kann man es nicht mehr bewirtschaften. Wenn
alle nur freien Code kopieren und benutzen, niemand neuen Code
beisteuert, findet keine Weiterentwicklung statt, und dann werden die
Entwickler sich irgendwann mißbraucht vorkommen und aufgeben.

Nak.

Zumindest in unserer Debatte ist der Punkt ja, daß die EntwicklerInnen
überhaupt keinen Grund haben, sich mißbraucht vorzukommen. Sie
selbstentfalten sich ja ohnehin - was mit NutzerInnen zwar vielleicht
mehr Spaß macht, aber auch ohne schon nicht von Pappe ist.

Letzten Endes führst Du damit aber -m.E.- eine normative Prämisse für das
Verhalten ein: "überhaupt keinen Grund haben, sich mißbraucht vorzukommen".

Na, das Wägelchen fährt aber auch in die andere Richtung - oder warum
ist einen Grund haben, "sich irgendwann mißbraucht vorzukommen"
weniger eine normative Prämisse?

Ob sich die Leute dem unterwerfen wollen, kann man nur spekulieren.

In beiden Fällen.

Mir geht es aber weniger darum, daß Leute sich irgendetwas unterwerfen
sollten, als vielmehr darum, was sie fühlen. Normative Prämissen
spielen da sicher eine Rolle, sind aber durch individuelles Denken /
Handeln / Erfahrung nochmal gebrochen.

Die
Empirie (Bsp. Umsonstläde etwa) zeigt hingegen, daß es durchaus
Mißbrauchsgefühle gibt. Darauf wollte ich hinweisen. Es gibt -jedenfalls nach
meinem Kenntnisstand- mehr Indizien, die auf Mißbrauchsgefühle bei Erfahrung
fehlender Reziprozität hindeuten als solche, die als Gegenindiz gelten
könnten.

Na, ich würde sagen, es gibt beides ziemlich ausgeprägt. Ich würde
meinen, daß das ein ganz stark kulturell vorgeprägter Aspekt
menschlichen Seins ist: Da, wo es "normal" ist, Reziprozität - jetzt
mal egal welcher Art - zu erwarten, da wird sie erwartet. Da wo es
nicht normal ist, eben nicht.

Für mich wäre auch nochmal die Frage, welchem tieferen Bedürfnis ein
Bedürfnis nach Reziprozität denn eigentlich im Einzelfall dient. Aus
einigen off-line-Diskussionen würde ich mittlerweile unterscheiden
zwischen einer Form von Reziprozität, in der die jeweilig
Reziprozierende mehr oder weniger zufällig für eine bestimmte
Bedürfnisbefriedigung in Haftung genommen wird, und einer
Reziprozität, die auch inhaltlich stark an eine Reziprozierende
gebunden ist. Vielleicht hilft auch hier der Begriff der Entfremdung
weiter?

Als Beispiel nehme ich mal eine klassische Ehekonstellation mit
Liebesbeziehung. Wenn die VerdienerIn von der HaushälterIn qua
VerdienerInnenschaft die Haushälterei erwartet, dann würde ich das als
eine entfremdete Geschichte ansehen - schließlich könnte auch eine
dritte Person die Haushälterei besorgen und dafür bezahlt werden und
außer der erwarteten Reziprozität wäre alles im Lot. Das wäre also ein
Beispiel für entfremdete Reziprozität. In der Liebesbeziehung ist das
aber anders, da dort die Ansprüche / Erwartungen sich genauso auf eine
ganz bestimmte Person richten, wie die Leistungen die jemensch
erbringt - und zwar inhaltlich. Das wäre dann eine Erwartung von
Reziprozität, die nicht entfremdet wäre.

Im Übrigen spielt das Argument der "Nachhaltigkeit" in meiner obigen Aussage
eine wesentliche Rolle. Es geht darum, dem kurzsichtig operierenden `homo
oeconomicus' zu eröffnen, daß er wider seine Interessen handelt, wenn er
nicht das Interesse der anderen durch Reflexion über die Notwendigkeit in
seine Entscheidungen einbezieht. Oder anderes formuliert, in
Oekonux-Terminologie, "die Selbstentfaltung der anderen als Bedingung der
Selbstentfaltung meiner selbst" ...

Auch aus einer off-line-Diskussion kam mir dazu mittlerweile
Folgendes: Wenn wir das obige Diktum postulieren, dann ist unser
Interesse an der Selbstentfaltung der anderen ja auch mit einem
Eigeninteresse verbunden und damit nicht mehr direkt unmittelbar /
(altruistisch?). Der Unterschied zur liberalen Theorie, bei der das
Interesse an den anderen ja auch über ein Eigeninteresse funktioniert,
ist bei uns aber, daß uns an der *ganzheitlichen* Selbstentfaltung der
anderen liegt, während nach liberaler Lesart nur ein, im Zweifelsfall
eher kleiner Anteil am Sein der anderen von Interesse ist - i.d.R. die
Arbeitskraft. Diesen Unterschied halte ich für sehr wichtig und ich
würde meinen, daß daraus sehr unterschiedliche Implikationen folgen.

Bestenfalls landet man also in einer
Sackgasse.

Nicht, wenn die ProduzentInnen einfach "Just for Fun" weiter
produzieren.

Das wird partiell vielleicht funktionieren, führt aber nicht notwendig zu
einem "Sozialwesen" - sowohl im Sinne des `zook politikon' als auch im Sinne
der `politeia'. Man kann sehr gut `just for fun' aneinander vorbeileben oder
sogar ein Gegeneinander produzieren.

Unbestritten.

Das Argument `just for fun' ist sicher
sehr wichtig, aber nicht hinreichend, um darauf eine selbstregulierte
Gesellschaft zu begründen.

Na ja, es ist halt auch eine Frage, wie "fun" genau definiert wird.
Persönliche und gesellschaftliche Notwendigkeiten sind da für mich
eher mit drin. Dies impliziert aber eine Sicht der Welt, die Monaden
wohl nicht haben können :-( .

Ohne "Wie Du mir, so ich Dir ..." -im positiven Sinne- geht es
nicht (sehr weit).

Genau diese Schlußfolgerung würde ich in Frage stellen. Es ist kein
Naturgesetz, daß ein Regulationsmodell auf reziprokem Tausch basieren
muß - auch wenn wir das alle mit der Muttermilch aufgesagt haben.
Historisch gibt es sicher x Regulationsmodelle, die ohne auskommen.

Das ist ein Mißverständnis. Reziproker Tausch ist allenfalls eine
Instantiierung von Reziprozität, auf keinen Fall die einzige. Es geht um
`reziprokes Verhalten', im allerweitesten Sinne.

Ok. Genau darüber hatte ich es neulich auch off-line. "Geben und
Nehmen" war dort die Bezeichnung, wobei dort sehr schnell der Aspekt
des Stoff- / Informationsflusses im Vordergrund stand. Das ist
natürlich eine Banalität, daß wir einen hochkomplexen Stoff- /
Informationsfluß brauchen - schon wegen der Bananen.

Ansonsten s.o. zu Bedürfnislagen und Entfremdung.

In der Regel wird man sogar davon ausgehen müssen, daß der Markt mit seiner
Anonymität und Ware-Geld-vermittelter Kommunikation die Reziprozität
unterminiert. Das gilt sowohl in der Theorie (notwendige Unterstellung
ausschließlich eigennützigen Verhaltens zur Modellbildung) als auch in der
Praxis (Erwartungsdruck führt zu eigennützigem Verhalten). Forschungen von
Gintis/Fehr/Frey u.a. Schweizer Ökonomen, sowie Ostrom/Sugden/Rose-Ackerman
u.a. US-Ökonomen haben dafür eine Fülle von Belegen geliefert.

Hier kommt wieder der Gerechtigkeitsbegriff mit rein BTW. Und die
Knappheit lugt auch schon um die Ecke.

Mit Gerechtigkeit hat das sicher etwas zu tun, allerdings nicht mit der
normativen Gerechtigkeit der abendländisch-christlichen Tradition
("verteilende Gerechtigkeit"), sondern mit einem bottom-up-Ansatz für
Gerechtigkeit, man könnte es vielleicht in Abgrenzung als "beitragende
Gerechtigkeit" bezeichnen. Aber an dieser Stelle müßte man sicher noch viel
Theoriebildung betreiben.

Ack.

Und mit Knappheit hat das m.E. nicht so viel zu tun, das ist eher ein Problem
der "verteilenden Gerechtigkeit" mit ihren großen Mängeln, angefangen bei der
Hierachisierung von Macht (Austeilende/Empfänger) etc.

Was sicher spannend wäre, näher zu erörtern.

Allerdings kann Knappheit m.E. in einem normativen Sinne durchaus positive
Effekte haben. Denken wir etwa an die Atemluft, so kann es sinnvoll sein,
diese normativ als `knapp' zu definieren, um eine Übernutzung im Sinne
Hardins (tragedy of the commons) zu verhindern. Dann muß man nach Auswegen
suchen, was nicht heißt, notwendig bei Hardins Schlüssen zu landen
(Exklusivität durch property rights) einzuführen. Im Gegenteil gibt es viele
nachweislich andere Möglichkeiten.

Nun, ich würde sagen, daß du da keine Knappheit hindefinieren mußt,
sondern einfach die gegebenen Begrenzungen in den Blick nehmen mußt.
Energiesparen ist Quatsch, wenn du eine unendliche Energiequelle mit
Null Umweltbelastung hast.

Dieser Knappheitsbegriff unterliegt also der Einschränkung, daß er nur
solange Gültigkeit behalten kann, als die Reproduktion nicht gesichert ist.

Das entspricht ja auch der Erfahrung im Bereich der freien Software. Dort
kann man solange von Knappheit sprechen, wie eine bestimmte Funktionalität
nicht in Gestalt freier SW vorliegt. Wenn sie denn -auf welche Art auch immer
in die Welt gekommen- vorliegt, hat sich das erledigt.

*Jedes* Regelsystem, das zu einem stabilen Zustand nachhaltiger Nutzung
(normativ) knapper Ressourcen führt, stellt dann eine Lösung des
(Optimierungs-)Problems dar.

Im Übrigen liegt eine solche Art normativer Knappheit doch vielleicht auch
vor, wenn jemand etwas `just for fun' produziert. Das intrinsische Motiv für
solches Handeln ist *das Bedürfnis nach* ... fun ..., "Selbstentfaltung" oder
wie auch immer man es nennen möchte.

Aber nicht im Sinne der Beseitigung von Knappheit sondern als Ausdruck
des Lebens schlechthin. Das würde ich schon trennen.

Der *entscheidende* Unterschied liegt dabei in der Quelle der Definition von
`normativer Knappheit'.

Hier kann man übrigens die Argumentation von John Locke in seinem `An Essay
concerning Human Understanding' als Dreh- und Angelpunkt der bis heute in
weiten Teilen akzeptieren Argumentationslinie ansehen. Locke sieht als
einzige mögliche Quelle `normativer Knappheit' eine externe vor. Motivation
zu mehr als Existenz-sicherndem Verhalten (Wissenschaft, Kultur, etc. pp) ist
demnach immer nur durch Anreize von außen zu erreichen. Daß Menschen von sich
aus Kultur, Wissenschaft, usw. hervorbringen und zwar nicht nur als
singuläres Phänomen, hat Locke schlichtweg nicht für möglich gehalten. Daher
die Eigentumsanreize in der `property/intellectual property
rights'-Regulierung. [Aber das führt jetzt zu weit, fürchte ich ...]

Würde ich nicht sagen, daß das zu weit führt. Es wirft ein Spotlight
auf das - höchst abstruse - Menschenbild dieser Theorietradition. So
kann mensch Menschen zwar abrichten, aber sie sind nicht so bei
Geburt. Wenn sie es wären, dann wären wir nicht da, wo wir heute sind.

Ein Zitat aus der Besprechung:

  Explanations of cooperation have tended to focus on what the
  [...]
  Amherst. Instead, he says, it seems that egalitarianism is "a basic
  part of human behaviour".

Na ja, wenn alle gleichmächtig sind, d.h. alle die gleiche Möglichkeit
zum Strafen haben, dann ist ein egalitäres System wohl seit der
Aufklärung das Naheliegendste und spiegelt vielleicht nur die
gleichmäßige Machtverteilung wieder.

Macht setzt aber m.E. ungleiche Verteilung von Strafpotenz voraus. Ist diese
gleichmäßig verteilt, paßt der Begriff "Macht" nicht mehr so recht.

Na ja. Ich finde es einen erheblichen Unterschied, ob alle einzeln
über die gleiche Kanone verfügen, oder alle über gar keine.


						Mit Freien Grüßen

						Stefan

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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