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Re: [ox] Reality-Check



Hi Benni und alle!

Last week (11 days ago) Benni B?rmann wrote:
On Thu, Jan 31, 2002 at 11:24:07PM [PHONE NUMBER REMOVED], Stefan Merten wrote:
On Mon, Jan 28, 2002 at 10:37:50PM [PHONE NUMBER REMOVED], Stefan Merten wrote:
Na, es gibt und gab bei [ox] ja nun schon einige Leute, die genau
diesen Realitätscheck für gescheitert halten.

*Das* sehe ich nicht unbedingt. Die Kritik, die überwiegend kommt ist
doch eher vom Typ: Das wird nie funktionieren, weil ... Das ist aber
eine ganz andere (wichtige) Frage.

Und die Kritik von Sabine?

Na, wenn ich es richtig erinnere würde ich in aller Kürze sagen, daß
die beiden vor allem sagten, daß Freie Software den Kapitalismus nicht
ankratzen kann. Ferner sei er voll kompatibel damit. Außerdem dürfe
mensch nicht über Keimformen reden, weil mensch sich da irren könnte.

Ersteres mag sein - werden wir erleben. Kratzte aber die
Realitätswahrnehmung von Oekonux nur dann an, wenn der baldige
automatische Zusammenbruch postuliert würde. Wer tut das?

Zweiteres ist ja über weite Strecken unbestritten. Das kostenlose
öffentliche Gut haben wir ja schon diskutiert. Daß es einen
inkompatiblen Teil gibt - die Tauschfreiheit - bestreiten sie ja auch
nicht wirklich. Lediglich dessen Bedeutung.

Na ja, und ob wir über Keimformen reden dürfen oder nicht, halte ich
doch dann eher für eine Frage, die jedeR mit sich privat ausmachen
muß.

Das mag ja alles aus Deiner Sicht so sein, hat aber mit dem Dialog
oben nix zu tun.

Es ging in diesem Thread nicht in erster Linie um den Dialog mit allen
möglichen Leuten, sondern um eine Betrachtung der real vorkommenden
Phänomene. Und da...

Die Wahrnehmung von anderen ist anders und Du kannst
das nicht einfach wegwischen mit "nur vom Typ wird-nie-funktionieren".
Wenn Du einen Reality-Check wirklich willst, wirst Du nicht
umhinkommen die Sichtweisen anderer Leute zu akzeptieren.

...hatte ich versucht darzustellen, daß die *Erkenntnis* der Realität
auch der KritikerInnen an entscheidenden Stellen sich nicht wesentlich
von dem unterscheidet, was ich z.B. zu erkennen glaube.

Es mag hier und da unterschiedliche Gewichtungen geben und sicher ist
- wie gesagt - die Einschätzung der Folgen anders. Bzgl. Reality-Check
wäre dann aber noch mal im Detail zu klären, wo Realitätserkenntnisse
entscheidend abweichen - was ich sehr spannend fände.

Studien, wie es sie in letzter Zeit immer häufiger gibt, finde ich da
ausgesprochen hilfreich, weil sie über die je private Wahrnehmung
hinausgehen. Wenn ich sie nur alle auch mal lesen könnte...

Oder die von Thomas Berker letztens?

Mit der bin ich noch nicht fertig - siehe andernmails.

Was wäre denn außerdem der Gehalt? Daß Freie Software anders
funktioniert als Kommandowirtschaft ist ja wohl kaum strittig.

Das stimmt auch nicht überall. Es gibt grosse Teile FS, die in
"Kommandowirtschaft" entstehen.

Aha. Könntest du da mal Beispiele erwähnen? Was sind denn die
Sanktionsmöglichkeiten, mit denen im Zweifelsfall das Kommando
gegenüber Widerborstigen durchgesetzt werden kann.

Das ist mir beim Überarbeiten Deines
Vortrags aufgefallen, dass Du das etwas stillschweigend unter den
Tisch fallen lässt bzw. teilweise sogar falsch darstellst als neue
Entwicklung.

Da wäre ich interessiert, was du genau meinst. *Das* will ich nämlich
sicher nicht.

Das ist aber keine neue Entwicklung sondern ist schon von
Anfang an so noch bevor Linux überhaupt existiert hat.

Nun, ich sage schon lange - vor Oekonux -, daß die Arbeitsverhältnisse
in der Software-Branche sich erheblich von anderen unterscheiden -
jedenfalls die funktionierenden.

Welche
Strukturen sich realiter bilden ist dann schon wieder Gegenstand von
Untersuchung. Jedenfalls sehe ich bisher keine klaren Widersprüche
gegen die Selbstentfaltungsthese.

Was genau meinst Du jetzt mit "Selbstentfaltungsthese"?

Das Freie Software (nichtkommerzielle sogar: ausschließlich) als
Ausfluß von Selbstentfaltung entsteht. Das schließt Freiwilligkeit
ein.

Oder
die Frage mit dem Patriarchat?

Eine Frage, die von einer Oekonux-Theorie bisher nicht beackert wurde.

Aber auch hier: Was wäre denn der Gehalt? Daß sich in Freier Software
die Elitenbildung im Kapitalismus ein Stück weit wiederspiegelt ist
glaube ich unstrittig. Und? Der Umkehrschluß kann ja nur sein, daß
ausschließlich die Armen und Entrechteten überhaupt eine Chance auf
eine Gesellschaftsveränderung haben. Dafür dürfte es historisch aber
kein einziges Beispiel geben.

Auch da verweise ich auf die wieder mal sehr gute Mail von Thoams.

Verstehe ich nicht. Auf den Bündnisvorschlag oder was meinst du?

Nun, da ich persönlich dem Missionieren weitgehend abgeschworen habe
und mich lieber freue, daß Leute Angebote annehmen, die ich machen
kann, würde ich denken, daß sich Bündnisse an und mit den Stellen
bilden werden, wo es Sinn macht.

Eine breite Bewegung an sich, wie sie Thomas beschreibt, sehe ich in
der Tat übrigens auch - und nicht erst seit der Freien Software. Es
ist ja geradezu verblüffend, wieviele Leute sehr genau wissen, daß es
*so* nicht (mehr lange) weitergeht.

Wenn eine priviligierte Gruppe von Leuten die Gesellschaft umwälzt
wird sie das in ihrem Sinne tun und das muss nicht der Sinn von
Unbeteiligten sein - auch wenn der Weltgeist oder das Gute für die
Menschheit gerne als Begründungen herangeführt werden.

Wie uns die Neoliberalen tagtäglich vorexerzieren...

Nun versuche ich immer wieder darzustellen, daß ich nicht unbedingt
sehe, wo die Privilegien in einer GPL-Gesellschaft überhaupt entstehen
bzw. erhalten werden können. Unterschiede zwischen Menschen wird es
immer geben - das ist aufgrund der Verschiedenheit der Menschen auch
unabdingbar und ich persönlich finde das auch angenehm.

Mal andersrum: Wie sollen Privilegien in einer GPL-Gesellschaft
entstehen bzw. sich dort halten können?

Und wie Thomas
richtig geschrieben hat, sind die besten Revoltionen diejenigen, die
sich dieser Beschränktheit bewusst sind (und trotzdem versuchen zu
handeln?).

Nun, von einer Revolution im Sinne einer kurzen, oft gewaltsamen
Episode wähne ich uns noch relativ weit weg. Tatsächlich denke ich
aber, daß die Umwälzung schon am Laufen ist. Vielleicht geht's ja
diesmal auch weniger blutig ab.

Eine Männerdominanz bei der Freien Software für ein schlechtes Omen
für eine GPL-Gesellschaft zu nehmen, hieße im übrigen die Keimform mit
der entwickelten Form zu verwechseln - die wir alle noch nicht kennen.

Natürlich nicht. Aber man kann nicht nur die positiven Aspekte
hernehmen und die dann vorstellen mit dem Argument, dass das ein
Aufscheinen des Neuen im Alten ist und man hier schon eine Ahnung vom
Neuen kriegen würde und gleichzeitig negative Aspekte runterspielen
mit dem Argument, dass wir die entwickelte Form ja noch nicht kennen
und sich das schon ergeben wird.

Ich sage ja gar nicht, daß sich das schon ergeben wird. Warum sollte
ich auch? Würde ich das tun, würde ich damit die Vorstellungen von
heute in ein Morgen projizieren - was eher selten gut ist - gerade bei
solchen Fragen, die auch einen stark kulturellen Faktor haben.

Mal als offene Frage: Warum hältst du diese Entwicklung eigentlich
*konkret* für ein Problem?

Das wirkt für mich ziemlich ähnlich
wie die Parteidisziplin einzufordern um den Sozialismus zu erreichen
und dann zu behaupten, wenn das gemeinsame Ziel erstmal erreicht sei
würden alle glücklich aber auf dem Weg dahin müssten eben Opfer
gebracht werden.

Nun, das Gegenteil ist mein Motto: Schon der Weg in die
GPL-Gesellschaft muß von Selbstentfaltung dominiert sein - whatever
that may mean on an individual basis.

Und ich halte ja auch BTW die Frauendominanz bei der Kindererziehung
und ihren Selbstentfaltungsanteilen nicht für ein schlechtes Omen.

Nicht? Ich schon. Wäre aber mal ein interessanter Vergleich:

A) Verhältnis von Frauen zu Männern in der Kindererziehung.
B) Verhältnis von Frauen zu Männern bei den stärker an
Selbstentfaltung orientierten Versuchen zur Kindererziehung.

C) Verhältnis von Männern und Frauen bei der Softwareproduktion.
D) Verhältnis von Männern und Frauen bei der Produktion Freier
Software.

Wenn ich mal in meine Kristallkugel gucke, würde ich wetten, dass gilt:

                          A - B  <  C - D

Puh. Ich setze mal ein paar mehr oder weniger willkürliche Zahlen ein:

			95% - 80% < 80% - 98%

B ist sicher am strittigsten, aber irgendwie wird die rechte Seite
immer ziemlich negativ.

Kann ich natürlich nicht beweisen. Aber vielleicht können wir ja darin
einen Konsens erreichen, dass das kein gutes Zeichen für FS und die
sich möglicherweise daraus ergebenden entwickelten Formen wäre, wenn
es denn gälte?

Dazu müßte ich erst verstehen, was du eigentlich sagen willst? Daß
Männer sich (in ihren Domänen) eher selbstentfalten als Frauen?

Die passen alle nicht in diese
Kategorie.

Nein, aber zumindest die beiden letzten denken auch noch sehr in den
überkommenen Mustern - und versuchen alles in diese Muster zu pressen.
Vielleicht ist das nicht immer richtig. Vielleicht macht es Sinn, die
Welt mit anderen Mustern anzuschauen.

Nenn das mal beim Namen, was das für alte und neue Muster sein sollen.
Ist mir nicht klar.

Nun, ich hatte schon beim Thema Freie Kooperation darauf hingewiesen,
daß ich es nicht für sinnvoll halte, *alles* *nur* durch die
Machtbrille zu betrachten. Weiter hatte ich schon mehrfach versucht
anzudeuten, warum ich denke, daß die Prinzipien der Entwicklung Freier
Software Macht strukturell abschaffen. Dann wäre eine Sichtweise, die
Macht als Phänomen ins Zentrum rückt, grundsätzlich inadäquat. Eine
Forderung nach Gleichverteilung von Macht hätte dann ihre Basis
verloren.

Um mal ein Analogon aus dem Bereich der letzten Großumwälzung zu
nehmen: Die Forderung, daß dieseR oder jeneR GöttIn wichtiger werden
soll, ist in einer Welt, die i.w. ohne religiöse GöttInnen auskommt,
gegenstandslos.

Ähnliches gilt für die von dir wohl gemeinten Ziele des Feminismus.
Wenn du immer alles durch die Brille des Geschlechterproporzes
betrachtest, dann kann keine Gesellschaft was taugen, wo nicht alles
annähernd 50-50 verteilt ist. Nun stellt sich mir aber die Frage, was
das noch mit Freiwilligkeit und dann eben auch Selbstentfaltung zu tun
hat. Das ist doch im Reich der Freiheit nur noch eine absurde
Einschränkung. Und BTW würde ich denken, daß nach der Aufklärung unter
Freien Bedingungen sich in vielem eine annähernde Gleichverteilung
einstellen würde.

Für beide Fälle gilt: *Heute* sind das sinnvolle Forderungen - und
notfalls auch gegen die Selbstentfaltung Einzelner durchzusetzen. Wenn
aber meine Thesen über die GPL-Gesellschaft halbwegs Hand und Fuß
haben, dann wären das *dann* einfach substanzlose oder gar reaktionäre
Forderungen, die gegen die Selbstentfaltung der Menschen (vulgo:
Freiheit) verstoßen würden.

Mir geht es eigentlich nur am Rande darum, eine Theorie zu bauen, die
auf irgendwelche Phänomene passt. Man kann beliebig viele Theorien
bauen.

Ja, aber nicht beliebig viele interessante. Wie schon bei meiner
Kritik der Freien Kooperation: Eine Theorie beschreibt Wirklichkeit
und ist desto nützlicher, je besser sie sie beschreibt. Und BTW: Du
hast auch eine Theorie darüber, daß morgen die Sonne wieder aufgeht -
nützlich, nicht wahr?

Eine Theorie ist genau dann nützlich, wenn sie mir Antworten für meine
Praxis gibt (oder mir wenigstens hilft, die richtigen Fragen zu
stellen) _und_ zufällig auch halbwegs stimmt.

Nun kommt es natürlich ein wenig auf deine Praxis an, aber eine
Theorie, die besser stimmt (d.h. Realität abbildet), dürfte auch
bessere Antworten für deine Praxis geben können - oder?

Interessant ist für mich eher was ich will und warum und wie
man das mit anderen zusammen realisieren kann.

Und exakt dazu brauchst du eine Theorie - zumindest wenn du irgendwann
mal aus dem etwas mühsamen Trial-and-Error-Verfahren rauskommen
willst.

Ja, aber die Theorie muss halt für mich passen. Und wenn die genannten
Kritiken nicht oder nur unzureichend adressiert werden, passt sie eben
nur bedingt.

Jetzt sprichst du aber über die Passung von Theorie - wieder eine
andere Frage. Einer Theorie ist es an sich erstmal egal, ob und wer
sie nutzt.

[...]
Ja, da würde mir vermutlich auch schnell ein Haufen einfallen... Aber
es gibt ja auch schon einiges dazu. Leider steht einiges davon noch
nicht auf der Link-Liste - weil ich (u.a.) dazu nicht oft komme :-( .

Vielleicht funktioniert das besser, wenn Du die Linkliste ins Wiki
stellst. Oder zumindestens eine erweiterte Version davon.

Nur, wenn das irgendwie automatisierbar wäre. Wozu habe ich
schließlich einen Rechenknecht unter'm Schreibtisch.


						Mit Freien Grüßen

						Stefan

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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