Re: Antisemitismus (was Re: [ox] 7 Thesen zum "Krieg gegen Amerika")
- From: Horibbeck t-online.de (H.R.)
- Date: Mon, 22 Oct 2001 01:15:53 +0200
Benni Bärmann schrieb:
Tach,
On Sun, Oct 21, 2001 at 07:00:45PM +0200, H.R. wrote:
Ist da irgendwo auch nur im Entferntesten
ein allgemein menschlich emanzipatorisches Potenzial in Sicht?
Wenn keiner der Kontrahenten hier was zu bieten hat,
dann sollten wir auf der Hut sein.
Um es vorsichtig auszudrücken: Ich hatte bisher nicht den Eindruck, dass
"allgemein menschlich emanzipatorisches Potenzial" Hartmuts Ding ist.
Ich meinte nicht die beiden Kontrahenten hier auf der Liste,
sondern Fundamentalislamismus (a la BinLaden) contra USA
Übrigens glaube ich daß der Anhang "Manhattan Transfer"
irgendwie (technisch) nicht durchgekommen ist.
Stimmt das?
Anhänge gehen (zum Glück) prinzipiell nicht über die Liste. Schick den Text
einfach nochmal als Extramail.
Das mache ich hiermit.
Sind nur 3,5 Seiten und hoffentlich
nicht Antideutsch.
Ein ganz interessanter Text aus der neuen
Konkret...
von Günther Jacob
Manhattan Transfer
Wie der Kampf gegen den US-Imperialismus die Linke überlebt hat
ANTIIMPERIALISMUS HEUTE
"Wer ist der wahre Schuldige an der
Zerstörung des World Trade Centers?" Diese Frage stellte sich am 28. September
in einem einflußreichen deutschen Organ antiimperialistischer und kulturlinker
Strömungen die linke indische Schriftstellerin Arundhati Roy. Ihr Essay enthält
eine umfassende Anklage gegen den US-Imperialismus sowie gegen die anmaßende
Abgrenzung der "westlichen Zivilisation" von der "orientalischen Barbarei".
Gerade im Moment der Trauer der Amerikaner möchte die Autorin unangenehme Fragen
stellen und über die Schmerzen sprechen, die Amerika den Menschen in den armen
und in Abhängigkeit gehaltenen Ländern zugefügt hat und zufügt. Anhand vieler
gut gewählter Beispiele beschreibt sie eine Welt, "die durch die amerikanische
Außenpolitik verwüstet wurde, durch ihre Kanonenbootpolitik, ihr
Atomwaffenarsenal, ihre unbekümmerte Politik der unumschränkten Vorherrschaft,
ihre kühle Mißachtung aller nicht-amerikanischen Menschenleben, ihre
barbarischen Militärinterventionen, ihre Unterstützung für despotische und
diktatorische Regimes und ihre wirtschaftlichen Bestrebungen, die sich gnadenlos
wie ein Heuschreckenschwarm durch die Wirtschaft armer Länder gefressen haben".
Sodann erinnert die Autorin, die den Nachrichtentüffel Wickert so hübsch in
Schwierigkeiten gebracht hat, daran, daß die USA seit dem Einmarsch der Roten
Armee in Afghanistan im Jahr 1979 alles getan haben, um in den muslimischen
Sowjetrepubliken eine islamische Erhebung gegen die Kommunisten zu fördern und
daß in diesem Zusammenhang auch Osama Bin Laden und etwa 100.000 radikale
Mudjaheddin aus vierzig Ländern finanziert wurden. "Der Djihad griff über nach
Tschetschenien, in den Kosovo und schließlich nach Kaschmir." Schließlich
erinnert sie an die Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki sowie an "die
Millionen Toten" in Korea, Vietnam und Kambodscha, Chile, Nicaragua, El
Salvador, Panama, Dominikanische Republik, Somalia und Jugoslawien.
AM ENDE DES ESSAYS KOMMT
die Schriftstellerin auf ein weiteres Verbrechen des
US-Imperialismus zu sprechen. Denn zu erinnern sei auch an "die 17.500 Toten,
als Israel 1982 im Libanon einmarschierte, und die Tausende Palästinenser, die
im Kampf gegen die israelische Besetzung des Westjordanlandes den Tod fanden".
Diese Anklage unterstützt auch der Pekinger Professor Han Deqiang. Zwei Tage vor
Erscheinen des Aufsatzes von Arundhati Roy wird in derselben Zeitung dessen
Antwort auf die Frage nach den "wahren Schuldigen" gemäß einer dpa-Meldung
zitiert: "Die Amerikaner selbst. Amerika wollte erstens über die Welt herrschen
und sich zweitens die Ölquellen sichern. Deshalb hat man jahrzehntelang die
jüdischen Chauvinisten in Israel unterstützt. Die amerikanische Bevölkerung
erfährt von diesen Verbrechen des Imperialismus am arabischen Volk nichts."
Das antiimperialistische Zentralorgan,
das diese Texte
publizierte, ist die "Frankfurter Allgemeine Zeitung". Wie kommt sie dazu, und
wie kommen eine linke indische Schriftstellerin und ein kommunistischer Pekinger
Professor dazu, eine zunächst durchaus zutreffende Charakterisierung des
US-Imperialismus in eine Anklage gegen den "jüdischen Chauvinismus" münden zu
lassen und diesen den "Verbrechen des Imperialismus" zuzuschlagen? Wie ist es
möglich, daß zwei Autoren, die immerhin beanspruchen, im Namen derer zu
sprechen, deren Hoffnungen von Amerika mißachtet werden, zu Schlußfolgerungen
gelangen, deren Nähe zur Propaganda von Islamisten und Neonazis unübersehbar
ist? War nicht gerade von Bin Ladens Organisation Al-Qaida, die auch
"Islamistische Weltfront gegen Juden und Kreuzfahrer" genannt wird, in diesen
Tagen ständig zu hören, die Vereinigten Staaten stünden unter jüdischer
Kontrolle, und bezeichnete nicht der NPD-Funktionär Steffen Hupka am 3. Oktober
während der Berliner Kundgebung seiner Partei zum "Tag der Deutschen Einheit"
die Anschläge von New York und Washington als "Widerstand der unterdrückten
Völker gegen den US-Imperialismus"
"Unterdrückte Völker, vereinigt Euch"
Die USA sind nach dem von
ihnen erfolgreich betriebenen Untergang der Sowjetunion und ihres assoziierten
Staatenbündnisses die einzig verbliebene Weltmacht. Und als solche demonstrieren
sie nach den Attentaten ihre Handlungsfähigkeit. Das "Bündnis gegen den Terror",
das die USA durch eine gekonnte Kombination aus militärischen Drohungen und
Diplomatie im September erzwungen haben, relativiert die konkurrierenden
europäischen pro-arabischen Ambitionen im Nahen Osten, vergrößert Amerikas
Einfluß in Zentralasien und schwächt die vielfältigen Widerstände gegen das
National-Missile-Defense-Programm, das nicht nur gegen Langstreckenraketen von
"Schurkenstaaten" und Regionalmächten wie Indien und Pakistan gerichtet ist,
sondern vor allem gegen die von Rußland und China.<BR><B>Man benötigt keine
ausgefeilte</B> Imperialismustheorie, um in den USA die einzige verbliebene
Weltmacht zu erkennen. Es liegt aber nahe - besonders in kriegsträchtigen Zeiten
-, daß eine derartige Machtkonstellation nicht nur benannt, sondern auch nach
ihren Voraussetzungen befragt wird. In der Linken wurde die ökonomische und
politische Konkurrenz der kapitalistischen Staaten und die Herausbildung von
Großmächten meistens auf der Grundlage von Imperialismustheorien beurteilt, von
denen die bekannteste die Leninsche ist, die später im Kontext des
Marxismus-Leninismus kanonisiert wurde. Zu den Essentials dieser Theorie gehört
unter anderem die Annahme, daß der Kapitalismus der Konkurrenz sich zum
Imperialismus der Monopole und des Finanzkapitals entwickelt hat. Davon
ausgehend wurde seinerzeit von der kommunistischen Bewegung eine
"imperialistische Epoche" definiert, eine "Niedergangsperiode" des Kapitalismus,
in der antiimperialistische Kämpfe von unterdrückten "Völkern" die Funktion von
bürgerlich-nationalen Revolutionen haben, die prinzipiell zum Sozialismus führen
können (s. KONKRET 5/94).<BR><B>Diese Sichtweise hatte trotz ihrer</B>
offensichtlich fragwürdigen werttheoretischen Grundannahmen ("Monopol") und
Substantialisierungen ("Völker") bis in die Zeiten des Kalten Krieges so viele
Anhaltspunkte in der Realität, daß sie selbst durch die Beteiligung der USA an
der Anti-Hitler-Koalition nicht wesentlich modifiziert wurde. Schließlich war es
wiederum nach 1945 der US-Imperialismus, der als entschiedenster Gegner der
realsozialistischen Staaten, Chinas, verschiedener linker Bewegungen und vieler
Befreiungsbewegungen den "Weltimperialismus" verkörperte. Mit anderen Worten:
Welche Fehler dabei auch gemacht worden sind - der Kampf gegen den
"Weltimperialismus" wurde immer mehr ein Kampf gegen den US-Imperialismus, und
als solcher wurde er zum Bestandteil einer mit den linken Biographien und
Gefühlswelten fest verknüpften "Weltanschauung". Der linke Antiimperialismus
unterschied sich überdies von allen anderen linken Positionen durch seinen
immensen Einfluß auf andere Strömungen und Bewegungen. Liberale
Metropolenbewohner sympathisierten mit dieser Weltsicht, und Millionen
Aktivisten der "unterdrückten Völker und Nationen" in Asien, Afrika,
Lateinamerika und in den arabischen Ländern begründeten mit ihr die
antikolonialen Kämpfe. Man kann sagen, daß der marxistisch-leninistische
Antiimperialismus über Jahrzehnte die weltgeschichtlich einflußreichste linke
Position war und daß der "Kampf gegen den US-Imperialismus" die Linke
schließlich sogar überlebt hat.
Zionisten und Imperialisten
Durch die Selbstverständlichkeit, mit
der der linke Antiimperialismus positiv auf "Völker" und "Nationen" wie auf
"organisch" gewachsene Gegebenheiten Bezug nahm und mit der er die ganz und gar
unkommunistischen Interessen von Bauern und "patriotischen" Aristokraten in
instrumentalisierender Absicht als "progressiv" bewertete, entwickelte sich der
Antiimperialismus schon bald zu einem Konglomerat aus nationalistischen Mythen,
verschwörerischen Praktiken und fragwürdigen Bündnissen mit reaktionären
politischen Kräften. Hinzu kam, daß in den zentralen Kategorien dieser
Weltanschauung - "Finanzkapital", "Parasitismus" etc. - ein antisemitisches
Potential steckt, das nach Lenins Tod auch wirksam wurde, das jedoch
gewissermaßen eingegrenzt blieb, solange und soweit der Antiimperialismus noch
auf Klassenkampf und Antifaschismus verpflichtet blieb.<BR><B>Zum festen
Bestandteil des</B> Antiimperialismus wurde der Antisemitismus erst durch die
Nutzanwendung des Konzepts der "nationalen Befreiung" auf die Situation im Nahen
Osten nach der Gründung Israels, und dies nicht zuletzt, weil die
realsozialistischen Staaten in den "Völkern des Nahen Ostens" eine Klientel
sahen, die sich gegen den US-Imperialismus mobilisieren ließe. Deshalb stellte
sich die Sowjetunion, nachdem sie zunächst für Israel votiert hatte, auf die
Seite der palästinensischen "nationalen Befreiung", weshalb Israel in der
damaligen bipolaren Welt gar keine Wahl blieb, als sich an den Westen zu halten
und damit ein "Bündnis mit dem Imperialismus einzugehen". Für einen
Antiimperialismus, dem Lenins naive Warnungen vor nationalistischen Tendenzen
schon nichts mehr bedeuteten, gehörten von nun an Zionismus und US-Imperialismus
zusammen, wobei Israel als eine besonders perfide Variante des imperialistischen
Kolonialismus galt - als rassistischer Siedlerstaat, der vom US-Imperialismus
erfunden wurde, um eine ölreiche Region militärisch kontrollieren zu können. Die
antiisraelische Propaganda wurde nun zum Schatten, der den Antiimperialismus
begleitet. Diese Propaganda hat sich in dem Maße antisemitisch radikalisiert wie
der Antiimperialismus zum kulturell begründeten Antiamerikanismus wurde.
Antiimperialismus in Namen Gottes
In der den Holocaust
relativierenden Variante nahm der "antiimperialistische Kampf" synchron zum
Zerfallsprozeß der Neuen Linken und der weiteren Erosion des Realsozialismus
mehr und mehr wahnhafte Züge an. Die Agitation gegen "Zionismus und
US-Imperialismus", zunächst mitgetragen vor allem von deutschen und japanischen
Linken, wurde nach deren endgültiger Marginalisierung schließlich zur Sache von
Islamisten und Neonazis. Ehemalige Linke in den arabischen Ländern, in Europa
und natürlich in Deutschland waren und sind daran direkt beteiligt. Zu den
bekanntesten deutschen Figuren gehört der NPD-Anwalt Horst Mahler, der während
seiner RAF-Jahre in palästinensischen Lagern eine Ausbildung im "bewaffneten
Kampf" erhalten hatte. Daß es sich bei der US-Regierung um ein "Zionist
Occupation Government" handelt und US-Imperialismus und "jüdisches
Finanzkapital" zusammengehören, ist heute für islamistische und rechtsradikale
Antiimperialisten gleichermaßen eine Selbstverständlichkeit.<BR><B>Die
politischen</B> (Camp David), militärischen (Pentagon) und
ökonomisch-kulturellen (World Trade Center) Zielobjekte der Anschläge vom 11.
September belegen, daß die Attentäter die USA umfassend treffen wollten. Die
Zahl der Opfer und das Ausmaß der Zerstörung weisen aber darauf hin, daß das
World Trade Center und damit New York ihr Hauptziel war. Auch von vielen
US-Amerikanern mit Mißtrauen beobachtet, stellt New York in der symbolischen
Ordnung der westlichen Kultur eine eigenständige Größe dar, die mit Urbanismus,
Kommerz und Populärkultur identifiziert wird und weniger mit der militärischen
Größe Amerikas. Vor allem aber ist New York die Stadt, in der die meisten Juden
außerhalb Israels leben. Für das islamistische Ziel, weltweit "alle Amerikaner
und Juden" anzugreifen, stellt das "multikulturelle" New York daher ein ideales
Angriffsobjekt dar. Diese Motive des "antizionistischen Antiimperialismus" und
seines Anschlags auf das World Trade Center sind so unübersehbar, daß es schon
auffällt, wie wenig in Deutschland und wie wenig in Flugblättern der deutschen
Linken davon die Rede ist - und das, obwohl die Attentäter als ihren
Vorbereitungsraum nicht zufällig Deutschland gewählt hatten.
Beim Sichten der Erbschaft
Nach den Attentaten auf das Pentagon und
das World Trade Center muß die Kritik am Wirken der einzig verbliebenen
Weltmacht nicht zurückgenommen werden. Aber die historische Transformation des
linken Antiimperialismus zum antisemitischen "heiligen Antiimperialismus" macht
es unmöglich, dabei das alte Kategoriensystem weiterzuverwenden. Auch der
verschwörungstheoretisch raunende "neue Antiimperialismus" der
"Globalisierungsgegner", die behaupten, es gäbe nun "keine nationale Macht mehr,
die die Kontrolle über die gegenwärtige globale Ordnung ausübt", weshalb der
"Protest nicht mehr antiamerikanisch" sein sollte, sondern sich "gegen eine
andere, größere Machtstruktur" (Antonio Negri) richten müsse, muß wegen seiner
antisemitischen Konnotationen abgelehnt werden.<BR><B>Für Linke ist das eine
aus</B> mehreren Gründen unkomfortable Situation.
Erstens:
Die Kontrolle über
die gegenwärtige militärische, politische und ökonomische globale Ordnung wird
zweifellos nicht von der "Weltbank" (wie bei Negri), sondern von der einzig
verbliebenen Weltmacht ausgeübt, zu der sich ambitionierte imperialistische
Mächte wie Deutschland bei jedem Machtzuwachs aufs neue ins Verhältnis setzen
müssen. Jede antikapitalistische und antideutsche Bestrebung stößt daher auch
auf die Machtpolitik des US-Imperialismus, der die gegenwärtige Weltordnung am
effektivsten garantiert, der zugleich aber als einzige Macht auch die Existenz
Israels garantiert, selbst dann, wenn er Israels Interessen - wie derzeit - dem
"Bündnis gegen den Terrorismus" unterordnet.
Zweitens:
Die USA waren
über vierzig Jahre lang der Hauptveranstalter der atomkriegsträchtigen
Feindschaft mit der Sowjetunion und ihrem realsozialistischen Staatenbündnis.
Die USA haben das "Reich des Bösen" schließlich zur Kapitulation gezwungen und
die deutsche "Wiedervereinigung" möglich gemacht. Alle
geschichtsrevisionistischen Tendenzen und Praktiken der Gegenwart gehen auf
dieses Ereignis zurück, auch der wachsende Druck auf Israel. Ein Attentat wie
das vom 11. September hat es erst nach dem Ende der bipolaren Ost/West-Welt
geben können, deren Regulierungsmechanismus die USA nun durch ihr
Raketenabwehrsystem und das Anti-Terror-Bündnis ersetzen will.
Drittens:
Die der Linken durch die USA besonders 1990 zugefügte
Demütigung produziert beinahe zwangsläufig das Gefühl, daß diese Supermacht eine
Erniedrigung verdient hat. Diese mit den linken Biographien verbundene Emotion
gerät für einen Moment in das Kraftfeld jenes wahnhaften "heiligen
Antiimperialismus", der für das Attentat auf das World Trade Center
verantwortlich ist, eines Antiimperialismus, der ganz offensichtlich nicht der
unsere ist, der uns aber an eigene Irrtümer und Niederlagen erinnert.
Viertens:
Die alten Argumentationsfiguren des
antikapitalistischen Antiimperialismus behalten so lange mehr oder weniger stark
ihre Bedeutung für die Groborientierung in der sozialen Welt, wie sie nicht
durch "handelnde Selbstkritik" überwunden werden. Bei bestimmten Analysen von
weltpolitischen Machtkonstellationen greifen wir vorerst noch auf klassische
antiimperialistische Kategorien zurück. Das seit 1990 unter dem Schock der
"Wiedervereinigung" erarbeitete Wissen steht häufig noch unverbunden neben dem
älteren (zum Beispiel über die "Ausbeutung der Dritten Welt"). Gleiches gilt für
die Mentalitäten. Es gibt nach all dem eine Diskrepanz zwischen emotionaler
Disposition (linke Tradition) und dem politischen Wissen über Holocaust,
Antisemitismus und die Gefährdung Israels.
Fünftens:
Es ist davon
auszugehen, daß der linke politische Habitus im Verhältnis zu den geführten
Debatten ein eigenes Gewicht hat. Diskurse und Verhalten fallen sogar meistens
auseinander. Die expliziten Normen des "politisch korrekten" Sprechens stimmen
nicht unbedingt überein mit jenen, die tatsächlich in den "politischen
Mentalitäten" zum Vorschein kommen, meistens aber implizit bleiben. Das
Bewußtsein, welches nötig ist, damit die üblichen politischen Praktiken
vollzogen werden können, ist nicht kongruent mit demjenigen, das Rechenschaft
über das Tun abgibt.
Beispielhaft zeigt das die Literatur über das
politische Denken von jüdischen Kommunisten. Konfrontiert mit der bitteren
Tatsache, daß die Bewegung, der sie angehörten, zwar antifaschistische Arbeit
geleistet, letztlich aber wenig gegen Antisemitismus und zur Verhinderung der
Vernichtung der europäischen Juden unternommen hatte, können sie meistens das
"kommunistische Lebensgefühl" nicht überwinden, in dem beispielsweise beim
Stichwort "sowjetische Lager" automatisch der Verdacht im Raum steht, daß sich
jetzt der Antikommunismus äußert. Und solche Gefühle sind nicht einfach
vergangenheitsselig, weil die Abwertung aller linken Bemühungen ja weitergeht.
Hazel Rosenstrauch schreibt in ihrem Buch Beim Sichten der Erbschaft (Heidelberg
1992) unter anderem über die Kinder von New Yorker jüdischen Kommunisten: "Für
sie waren die russische Revolution mit dem Ende der Pogrome und das
kommunistische Lebensgefühl nicht mit Stalin, sondern der Hexenjagd gegen ihre
Eltern in der McCarthy-Zeit verbunden."
Formen der Verleugnung der Erbschaft
Die schlechten Alternativen
zur "handelnden Selbstkritik" sind seit dem 11. September notorischer
Antisemitismus ("Junge Welt"-Milieu), linke Kriegsbegeisterung
("Bahamas"-Milieu) und Lobgesänge auf die aufgeklärte Zivilgesellschaft ("Jungle
World"-Milieu). Für ersteren ist der islamische Terrorismus Symptom einer
Krankheit, die Zionismus und US-Imperialismus heißt. In dieser Vorstellung ist
niemand mehr für etwas verantwortlich: "Irgendwann mußte es so kommen.
Irgendwann mußte dem Labor Frankensteins ein Monster entspringen, das sich gegen
seinen Schöpfer wenden würde" ("Junge Welt", 17.9.).<BR>Diese
Krankheit/Symptom-Metaphorik scheint für viele die letzte argumentative Zuflucht
zu sein, die sich aus unterschiedlichen Gründen mit dem Attentat nicht
identifizieren, aber darauf beharren wollen, daß die USA sich nicht wundern
sollten. Indem man aber sagt, die Attentäter hätten trotz "falschen Bewußtseins"
die Richtigen getroffen, verschweigt man ihre antisemitischen Motive. Und auf
die Titelseite schreibt man dann Headlines wie "Sharon blockt Nahost-Dialog"
oder "Britischer Soldat getötet: Intifada in Skopje".<BR><B>Aus der
begrifflichen Konstruktion</B> der Wirklichkeit - nach Adorno das "Urbild der
Lösungen" - folgt notwendig die Forderung nach ihrer realen Veränderung. Nur die
Handelnden sind frei, in der Welt etwas Neues anzufangen und einen neuen
Sachverhalt herbeizuführen. Diese Freiheit kann sich die amerikanische Regierung
leisten, und auch die Attentäter haben gehandelt. Die Handlungsmöglichkeiten von
Linken sind hingegen derzeit eingeschränkt. Einige wollen daher wenigstens in
ihrer Einbildung Handelnde sein. Die Zeitschrift "Bahamas" fordert von den USA
nicht weniger als die militärische "Beseitigung islamischer Herrschaft" und das
Ende des "moslemischen Götzendienstes", was einem Ruf nach Kriegsverbrechen
gleichkommt, weil dieses Ziel nur durch Massenmord zu erreichen wäre. Außerdem
würde ein solcher Krieg eine maximale Gefährdung Israels bedeuten. Hier führt
offensichtlich die völlige Verleugnung der eigenen Demütigungen und des Wunsches
nach Revanche direkt in den Wahn der Identifizierung. Das hat den Totalverlust
des angelesenen Wissens (Adorno, Wertkritik) zur Folge. Der Begriff, den man
sich "vom Kapitalismus" machte, soll nun mit Hegel in den Krieg ziehen. Ohne es
zu wissen, so nimmt man wohl an, könne die US-Army den Stoßtrupp des Weltgeistes
abgeben und in den arabischen Ländern "den Wunsch nach kommunistischer Aneignung
aufkeimen lassen".<BR><B>Auch weniger kriegsbegeisterte</B> Linke glauben seit
dem 11. September wieder an eine "zivilisatorische Mission des Westens" (sie
meinen natürlich Deutschland). Leute, die es den Sowjets vermutlich einst
verübelten, als sie tatsächlich, aber ohne westlichen Dünkel, das Licht der
Aufklärung nach Afghanistan brachten, entdecken trotz der westlichen
"Ethnien"-Förderung auf dem Balkan nun die angeblich objektiv "emanzipatorische"
Funktion der USA und der Nato. Noch nie wurden so viele linke Schwüre auf die
Aufklärung, auf die "Menschenrechte" und die "Zivilität unserer Gesellschaften"
geschworen. "Aber wenn etwas am amerikanischen Imperialismus positiv zu bewerten
ist, dann ist es genau das amerikanische Element: die globale Zerstörung
ethnischer und religiöser Identität, die Vernichtung des (oft gewalttätigen)
Idylls der Doofen und Zurückgebliebenen" ("Jungle World", 26.9). Engagiert
vergleicht man das Taliban-Regime mit dem Schröder/Fischer/Scharping-Regime, um
dann erleichtert feststellen zu können: "In diesem Falle ist der Kapitalismus
seinen Feinden vorzuziehen." Na Bravo! "In einer solchen Welt wäre der Gedanke
der Emanzipation endgültig abgeschafft. Das muß verhindert werden. Wenn nötig,
auch mit Gewalt." Sehr gut! Kritik am Kapitalismus ist gut und schön, aber
wenn's drauf ankommt, weiß man doch, was man an ihm hat.
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