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[ox] Der wilde Dschungel der Kooperation



Hi alle,

hier nun der angekündigte Textentwurf von mir zur Theorie der Freien
Kooperation von Christoph Spehr - gleichzeitig Grundlage für die
Diskussion aus der WOS am 14.10. Online findet ihr den Text unter
http://www.opentheory.org/dschungel - als Unterprojekt von Oekonux.

Lasst euch nicht allzusehr durch die Seitenreferenzen auf Christophs
Text verwirren - meine Papierversion ist offensichtlich etwas anders
nummeriert als die PDF-Version der RLS.

Ich freue mich über Kommentare, hier oder bei opentheory. Hier lasse ich
die <i>Hervorhebungen</i> und die Absatznummern drin.

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Der wilde Dschungel der Kooperation

Stefan Meretz

Version 1, 04.10.2001

(1) Christoph Spehr hat eine postmoderne große Erzählung vorgelegt, eine
Theorie der Freien Kooperation. Noch vor einigen Jahre hätte ich seinen
Text schnell beiseite gelegt: zu unscharfe Begriffe, zu unanalytisch, zu
unökonomisch. Heute erkenne ich, dass diese Schwäche auch seine Stärke
ist, denn der Text vermag Menschen anzusprechen, die eher scharfe,
analytische und ökonomisch begründete Texte beiseite legen. Er spricht
auch mich an, denn ich <i>bin</i> das nicht, was ich als <i>Form der
Erkenntnis</i> bevorzuge.

(2) Wir reden über die gleiche Welt in unterschiedlichen Sprachen. Diese
Sprachen vermögen je unterschiedliche Dinge besonders und andere weniger
gut sichtbar zu machen. Sie sind potenziell transformierbar, sicherlich
in Grenzen. Hätte ich früher die Unterschiede und Defizite
hervorgehoben, um die Schärfe und Stärke meiner eigenen Sprachwelt
hervorzuheben, so kann ich heute die Gemeinsamkeiten herausholen und
dadurch ein gemeinsames Lernen einleiten. Wenigstens bei mir. Mir wird
dabei klar, dass der alte, abgrenzende Modus strukturell dem Modus der
warenproduzierenden Gesellschaft entspricht, in der sich der Einzelne
stets auf Kosten anderer behauptet. Ein integrierender Modus hingegen
guckt erst einmal auf die gemeinsame Schnittmenge, Er erfordert viel
mehr Anstrengung, die Übersetzung zu leisten, weil beim Übersetzen das
eigene Gedachte in einer anderen Weise herausgefordert wird, als in der
bloße Abgrenzung. Von dort aus werden auch die Unterschiede und Defizite
wesentlich deutlicher. Das ist der Modus einer Freien Gesellschaft, in
der die Entfaltung des Anderen die Voraussetzung für je meine Entfaltung
ist. Dazu später mehr. Zunächst ein wenig »Übersetzung«.

Kooperation

(3) Kooperation darf nicht normativ verstanden werden. Kooperation ist
weder gut noch schlecht, Kooperation ist Kooperation. Was ist aber
Kooperation? Kooperation ist eine bestimmte Form interpersonaler
Aktivität. Nicht jede interpersonale Aktivität ist Kooperation
(Beispiel: Sexualität). Kooperation nutzt und bezieht sich auf
gesellschaftlich geschaffene Mittel und Strukturen (Beispiele: zusammen
Abwaschen, zur Schule gehen, lohnarbeiten gehen, alle uns knechtenden
Verhältnisse umstürzen). Die Reichweite solcher Kooperationen ist
unterschiedlich. Wo in der Freien Kooperation Aufzählungen stehen - von
der Beziehung zwischen Zweien bis zur gesamten Gesellschaft -, dort
bringe ich eine qualitative Differenzierung an. Nicht alle Kooperationen
sind selbstähnlich. Ich will deutlich machen, dass ich im Nichterkennen
der qualitativen Unterschiede von <i>personalen</i> Kooperationen und
der <i>gesamtgesellschaftlichen</i> Kooperation in der Theorie der
Freien Kooperation den wesentlichen blinden Fleck erblicke.

(4) Die Freie Kooperation wendet sich zurecht gegen die verbreitete
Vorstellung, Gesellschaft sei komplex, während eine Kooperation in
kleinem Rahmen einfach sei. Jede Kooperation hat die ihr eigene
Komplexität, danach kann man die unmittelbare Kooperation in der Küche
und gesamtgesellschaftliche Kooperation in der Tat nicht unterscheiden.
Daraus aber abzuleiten, alle Kooperationen seien im Sinne der
Selbstähnlichkeit prinzipiell nicht unterschiedlich, ist kurzschlüssig.
Den Unterschied zwischen personaler und gesamtgesellschaftlicher
Kooperation versteht man, wenn man versteht, was Gesellschaft ist.

Gesellschaft als Kooperation

(5) Menschen reproduzieren sich, in dem sie Stoffwechsel mit der
(äußeren) Natur betreiben. Das tun Tiere auch. Doch im Unterschied zu
Tieren geschieht der Stoffwechsel nicht unmittelbar, sondern vermittelt.
Unmittelbar meint hier die Abwesenheit einer überdauernden, außerhalb
der jeweiligen Individuen bestehenden Instanz, die für den Stoffwechsel
genutzt wird. Vermittelt meint demgegenüber die Anwesenheit einer
solchen Instanz. Das ist die Gesellschaft. Zwischen den individuellen
Menschen und der Welt schiebt sich die Gesellschaft als Ebene, die
allgegenwärtig ist. Sie ist zwar konkret präsent - etwa als
gesellschaftliches Produkt »Buch« - und doch abstrakt: Niemand kann sie
anfassen. Deswegen entgleitet sie dem Denken leicht. Sie muss aktiv in
der Erkenntnis reproduziert, <i>erkannt</i> werden.

(6) Folgende Aspekte von Gesellschaft, die <i>gleichzeitig</i> gelten,
sind wichtig:
- Gesellschaft wird von Menschen gemacht, ist in ihrer Existenz und
Entwicklung aber nicht von konkreten Einzelnen determinierbar: sie
entwickelt sich nach eigenen Gesetzen;
- die Gesetze beschreiben die Eigenlogik der gesellschaftlicher
Entwicklung, nicht aber ein »Ziel«: die Entwicklungsrichtung ist genuin
offen;
- die Gesellschaft ist das Medium, in dem sich alle Menschen bewegen:
die je individuelle Existenz ist gesamtgesellschaftlich vermittelt;
- die Fähigkeit, sich individuell in die Gesellschaft
hineinzuentwickeln, sich zu vergesellschaften, ist Teil der menschlichen
Natur: nicht der ungesellschaftliche Mensch wird »sozialisiert«, sondern
der gesellschaftliche Mensch schafft das Soziale.

(7) Die Gesellschaft ist demnach ein besonderer kooperativer
Zusammenhang, der sich von anderen Kooperationen unterscheidet. Es ist
der abstrakte Zusammenhang, in dem sich die konkreten kooperativen
Zusammenschlüsse der Menschen bewegen. Oder wie Klaus Holzkamp es
formuliert: »Wir müssen unterscheiden zwischen gesamtgesellschaftlicher
Kooperation als Wesensbestimmung der menschlichen Lebensgewinnungsform
überhaupt und Kooperationen auf Handlungsebene als interpersonalem
Prozess zwischen Individuen.« (1983, 325)

(8) Es ist u.U. verwirrend, dass beides, der personale Zusammenschluss
und der übergreifende und überdauernde Zusammenhang, als »Kooperation«
bezeichnet werden. Wenn ich den Begriff der <i>gesamtgesellschaftlichen
Kooperation</i> verwende, dann meine ich diesen abstrakten und sich
eigengesetzlich reproduzierenden Zusammenhang der Gesellschaft.
Demgegenüber bezeichne ich die konkreten personalen Zusammenschlüsse als
<i>personale Kooperationen</i> oder schlicht auch nur als
<i>Kooperationen</i>. Erkenntnistheoretisch handelt es sich hier mithin
um zwei unterschiedliche analytische Bezugsebenen: um die
<i>gesellschaftstheoretische</i> und die <i>individualtheoretische</i>
Ebene.

Gesamtgesellschaftliche Kooperation

(9) Die gesamtgesellschaftliche Kooperation ist überindividuell
andauernd. Sie ist nicht verhandelbar. Sie kann nicht verlassen werden,
die je individuelle Beteiligung unterscheidet sich nur in ihrem
Vermittlungsgrad. Der individuelle Ausstieg ist identisch mit dem Ende
der eigenen Existenz - ein einseitiger, hoher »Preis«. Dies gilt
genauso, wenn ich an die Stelle der Individuen personale Kooperationen
setze. Das Ende gesamtgesellschaftlicher Kooperation ist identisch mit
dem Ende der Menschheit.

(10) Die Unverhandelbarkeit gesamtgesellschaftlicher Kooperation hat für
den Einzelnen einen eminenten Vorteil. Da sie überindividuell und
überdauernd besteht, wird meine Existenz auch dann miterhalten, wenn ich
mich an der gesamtgesellschaftlichen Kooperation nicht beteilige. Diese
allgemeine Aussage ist nicht zu verwechseln mit dem konkreten,
tausendfach realen Existenzentzug. Dies ist keine Eigenschaft
gesamtgesellschaftlicher Kooperation überhaupt, sondern Ausfluss
historisch konkreter gesellschaftlicher Kooperations<i>formen</i>. Aus
der prinzipiellen Eigenschaft, die je eigene Existenz
bedingungsunabhängig erhalten zu können, leitet sich die grundsätzliche
Möglichkeit ab, eine gesellschaftliche Form zu finden, in der die
grundsätzliche Potenz gesellschaftlicher Kooperation auch konkret und
für jeden Einzelnen wirksam entfaltet wird. Die Entfaltung aller
Menschen ist also keine bloß utopische Idee, sondern genuine Potenz
gesamtgesellschaftlicher Kooperation.

(11) Mir ist hier folgendes wichtig: Durch die Entkopplung eigener
Existenz von der Beteiligung an gesamtgesellschaftlicher Kooperation
verfügt der Mensch über eine unhintergehbare Möglichkeitsbeziehung zur
Realität. Sein Handeln ist nicht determiniert, er bewegt sich stets in
Möglichkeitsräumen. Der Mensch kann Wollen. Das gilt auch für personale
Kooperationen. Der Möglichkeitsraum wird ganz entscheidend durch die
jeweilige gesellschaftliche Form bestimmt. Sie bildet das Medium, in dem
wir uns bewegen: handelnd, denkend, fühlend. Dieses Medium nicht zu
thematisieren in einer Theorie vom Handeln der Menschen, ist in etwa so
blindfleckig wie über das Schwimmen zu theoretisieren, ohne über das
Wasser zu sprechen. Die gesamtgesellschaftliche Kooperation ist das
Wasser, in dem die personalen Kooperationen schwimmen - so sie das
Schwimmen gelernt haben. Die Theorie der Freien Kooperation kann eine
Theorie vom Schwimmen-lernen werden.

(12) Die Stärke der Theorie der Freien Kooperation ist, dass sie sich
mit einem blinden Fleck anderer emanzipatorischer Theorien sehr
ausführlich befasst: Sie spricht über die Sphäre des gesellschaftlich
vermittelten Handelns, über den so schwierig thematisierbaren
Vermittlungsraum zwischen dem Einzelnen, dem Individuum, und dem großen
Ganzen, der Gesellschaft. Sie diskutiert den je konkreten
Möglichkeitsraum, also all die Handlungsmöglichkeiten, über die ich
verfüge auch ohne eine befreite Gesellschaft vorauszusetzen. Sie spielt
heute und verweist nicht auf ein imaginiertes Morgen. Sie ist dabei
weder normativ (»du sollst...«) noch moralisierend (»sei ein guter
Mensch...«), sondern sie spricht über den Alltag, den ganz persönlichen
und den emanzipatorischer Bewegung. Sie würde jedoch ein Mehr an Kraft
gewinnen, redete sie auch über das Wasser, in dem sie schwimmt. Das will
ich nun versuchsweise skizzieren.

Der kybernetische Dschungel der Warenproduktion

(13) Die heutige gesamtgesellschaftliche Kooperation hat die Form einer
Warenproduktion - aka Kapitalismus. Das ist ein ziemlich hinterhältiges
Konstrukt. Obwohl »eigentlich« die gesellschaftliche Kooperation jedem
die Möglichkeit der freien Entfaltung bieten könnte, geschieht
Entfaltung in der Warenproduktion auf Kosten Anderer. Ursache und
Antrieb ist kein böser Wille, obwohl selbiger nicht selten auftritt,
sondern ist die spezifische Eigengesetzlichkeit des Kapitalismus. Das
Win-Loose-Prinzip ist dieser gesellschaftlichen Kooperationsform
eingeschrieben. Das fiese ist: weil ich mein Leben nur vermittels
<i>dieser</i> Kooperationsform erhalten kann, <i>muss</i> ich sie
gleichzeitig reproduzieren: »Wir nehmen unser Gefängnis überall hin mit,
wohin wir auch gehen, in jedes konkrete Verhältnis. Und das Ausmaß, in
dem wir in Wirklichkeit versklavt sind, ist weit totaler als das jeder
antiken oder bürgerlichen Sklavenhaltergesellschaft vor uns« (S. 16)

(14) Produkte werden im Kapitalismus als Wertdinge hergestellt, denn im
Tausch interessiert nicht ihre konkrete Sinnlichkeit, sondern nur ihr
Wertsein. Das produktive Tun nimmt folglich die Gestalt abstrakter
Arbeit an. Ware - Wert - Geld - Arbeit sind unsinnliche Abstrakta, die
sich selbst organisierend bewegen, wobei jede Bewegungsrunde auf
erweitertem Niveau stattfinden muss. Die Arbeitenden, gleich, ob als
Funktionäre der Wert-Selbstbewegung oder als Verkäufer ihrer
Arbeitskraft, exekutieren die unerbittliche Eigenlogik dieser Form
gesellschaftlicher Kooperation in der Konkurrenz. Die
Eigengesetzlichkeit ist nicht verhandelbar, und ob ich rausgehe, ist
zwar meine Wahl, einen Einfluss auf die Gesetze der Kooperationsform
habe ich damit jedoch nicht. Die Logik ist: Ich behaupte mich nur dann,
wenn sich andere nicht behaupten. Meine Durchsetzung erfolgt notwendig
auf Kosten Anderer. Das gilt für Einzelne wie für personale
Kooperationen. Was uns heute als Win-Win-Kooperationen präsentiert
werden, sind doch auch nur Win-Win-Loose Verhältnisse.

(15) Es ist der klassische Fall einer erzwungenen personalen
Kooperation: »Herrschaft ist erzwungene soziale Kooperation. Die
Kooperation ist erzwungen, weil die eine Seite sich nicht aus ihr lösen
kann, weil sie nicht darüber bestimmen kann, was sie einbringt und unter
welchen Bedingungen, weil sie keinen oder nur geringen Einfluss auf die
Regeln der Kooperation hat.« (S. 16) Nur leider kann ich der
gesamtgesellschaftlichen Zwangskooperation nicht entkommen. Es fehlt
gewissermaßen der Adressat meines Widerstands: Der Ober-Erzwinger, der
Meta-Herrscher, ist keine Person, sondern eine sich selbst
reproduzierende und totalisierende »kybernetische Maschine« - und mit
»Maschinen« ist schlecht zu verhandeln.

(16) Im kybernetischen Dschungel der Warenproduktion ist der wilde
Dschungel der Freien Kooperation am Ende angelangt, weil es um die Wurst
geht. Wie in keiner anderen historischen gesellschaftlichen
Kooperationsform, ist hier die je individuelle Reproduktion mit der
Reproduktion der totalitären Warenproduktion verkoppelt. Wenn ich »drin«
bin, muss ich die Logik denkend und handelnd reproduzieren - oder ich
bleibe nicht länger »drin«. Die Logik rückt mir auf den Pelz, ich muss
sie alltäglich nachvollziehen, mitdenken, erfühlen, ausführen. Sich nur
denkend dort herauszubegeben, ist ein heroischer Widerstandsakt. Viele
verzweifeln vorher oder werden zynisch.

(17) Dennoch: Das Herausbegeben ist möglich, teilweise, schrittweise,
nicht nur denkend, sondern auch fühlend und handelnd. Es geht darum, die
Möglichkeiten aufzumachen, um die je eigene und die gemeinsame
Handlungsfähigkeit zu erweitern - auch unterhalb der totalen Änderung
des totalitären Zusammenhangs kybernetischer Warenproduktion. Die Freie
Kooperation stärkt einem dabei den Rücken. Wie tut sie das?

Allgemein- und Partialinteressen

(18) Die Freie Kooperation beginnt hier und heute. Eine Kooperation muss
sich jetzt als besser erweisen, es muss sich in und mit ihr besser leben
als ohne sie, es muss sich »lohnen«: »Unter Gleichen definieren wir 'es
lohnt sich' als: 'Diese Kooperation ist besser für mich als wenn ich sie
nicht hätte'. Wir definieren 'es lohnt sich' <i>nicht</i> als: 'Diese
Kooperation lohnt sich, weil ich dir weniger gebe als du mir'« (S. 14).
Dennoch handelt es sich nicht einen »Tausch«, der etwa »gerecht« sein
solle. Darum geht es nicht. Es geht nur darum, dass die Kooperation so
beschaffen ist, dass sich niemand auf je meine Kosten durchsetzt. Ob das
gelingt, ist Sache der Kooperation und der Vereinbarungen in ihr.

(19) Freie Kooperationen basieren auf gemeinsamen Eigeninteressen,
während erzwungene Kooperationen in Partialinteressen gründen. Die
Gemeinsamkeit in einer freien Kooperation basiert nicht darauf, dass
sich alle die gleichen Interessen verfolgen, sondern darauf, dass die je
eigenen Interessen sich in der Kooperation bewegen und entfalten lassen.
Nicht die Übereinstimmung ist wichtig, sondern die Bewegung in der
Unterschiedlichkeit. Damit das geht, müssen die 3 Kriterien freier
Kooperationen erfüllt sein: »In einer freien Kooperation kann über
<i>alles</i> verhandelt werden; es dürfen <i>alle</i> verhandeln; und es
<i>können</i> alle verhandeln, weil sie es sich in ähnlicher Weise
<i>leisten</i> können, ihren Einsatz in Frage zu stellen.« (S. 22).

(20) Die beiden Bewegungsmodi personaler kooperativer Zusammenschlüsse
lassen sich noch schärfer formulieren: Freie Kooperationen sind solche,
in denen die Entfaltung des Einzelnen die Entfaltung der Anderen
erfordert. Erzwungene Kooperationen sind solche, in der Durchsetzung des
Einzelnen auf Kosten der Anderen funktioniert. Auch dies ist wieder
nicht normativ oder statisch zu verstehen, sondern als Grundtendenz
ihrer jeweiligen Entwicklung.

(21) Ich will es noch ein Schritt weiterdenken: In erzwungenen
Kooperationen werde ich mir selbst zum Feinde, denn der Andere bin ich,
und das Durchsetzen-auf-Kosten-Anderer ist immer reziprok ein
Durchsetzen auf meine Kosten. Das ist eine mögliche Erkenntnis, die ich
in erzwungenen Kooperationen nicht zulassen kann, die ich
personalisierend auf Andere schieben und verdrängen muss. Mit der freien
Kooperation als Alternative werden Handlungsoptionen sichtbar: Welche
Regeln und Bedingungen kann, will und muss ich ändern, damit ich mich
entfalten kann? Denn die Bedingungen sind es, die mir Entfaltung
ermöglichen oder nicht. Welche Ausstiegssicherheit brauche ich, um
Vertrauen in die Stabilität der Kooperation zu gewinnen? Denn nur die
Kooperation, die ich ohne Beschädigung verlassen kann, will ich
erhalten. Die Freie Kooperation lenkt den Blick auf Situationen und
nicht auf Personen. Es ist eine Ermöglichungs- und keine
Verhinderungsperspektive.

(22) Gute Kooperationen machen automatisch das, was Freie Kooperation
als Theorie formuliert. Sie ist gleichsam ihr Extrakt. Doch Theorie geht
darin nicht auf, sie wäre nur affirmativ. Theorie muss provozieren, muss
das best-practice Gerede der new-economy Propagandisten überschreiten.
Der gesunde Menschenverstand ist oftmals gar nicht gesund und verständig
schon gar nicht. Die entscheidende Grenze - praktisch und in der Theorie
- ist die gesamtgesellschaftliche Kooperation in warenproduzierender
Form, die <i>als solche nicht</i> in eine gesamtgesellschaftliche
<i>freie</i> Kooperation überführbar ist. Sie ist nur als Ganzes
aufhebbar, denn ihre Regeln sind nicht Ergebnis einer Verhandlung,
sondern setzen sich gleichsam als zweite Natur hinter dem Rücken der
Beteiligten durch. Die Tatsache des »hinter-dem-Rücken-Durchsetzens«
muss als Ganzes zur Disposition gestellt werden. Eine
gesamtgesellschaftliche freie Kooperation, eine freie Gesellschaft,
wirft noch ganz andere Fragen auf, als dies Kooperationen unterhalb der
gesamtgesellschaftlichen Ebene tun.

Der wilde Dschungel der Freiheit

(23) Die auf der Warenform basierende gesamtgesellschaftliche
Kooperation, dieser sich selbst regulierende und reproduzierende und
alles beherrschende Mechanismus, leistet in jedem Fall eines: Er
vermittelt. Er stellt ein Medium bereit, in dem wir uns und den
vermittelnden Zusammenhang dieser Form reproduzieren. Diese Form der
Vergesellschaftung, so erzwungen und alles verschlingend sie auch sein
mag, hat - wie jede überdauernde Vermittlungsform - eine individuell
entlastende Funktion. Es ist gut, wenn sich Dinge auch ohne mein
Mitdenken und Mitmachen hinter meinem Rücken fügen. Fatal an der
»unsichtbaren Hand des Marktes« ist, dass sie Resultat eines
entfremdeten, genuin inhumanen Verwertungsprozesses ist, dass die
Verwertung nur ihrer eigenen Logik, aber nicht meinen Bedürfnissen genügt.

(24) Die Warenform der gesellschaftlichen Kooperation aufzuheben,
bedeutet Zerstörung und Bewahrung gleichzeitig. Zerstört werden muss die
»subjektlose Herrschaft« der kybernetischen Verwertungsmaschine. Bewahrt
werden muss die Funktion der entlastenden Vermittlung. Das ist
»eigentlich« selbstverständlich, denn wie ich vorher darstellte, ist das
ein Kennzeichen von Gesellschaft überhaupt. Dennoch ist es notwendig,
sich das Selbstverständliche immer wieder klar zu machen, um die
zunächst theoretisch zu beantwortende Frage klar formulieren zu können:
Wie muss ein gesellschaftlicher Vermittlungsmechanismus beschaffen sein,
der einerseits individuell entlastend, also selbstorganisierend ist,
andererseits aber von den Menschen nach ihren Kriterien, Regeln und
Bedürfnissen gesteuert wird?

(25) Diese Frage liest sich auf den ersten Blick wie ein nicht
aufzulösender Widerspruch. Ist es nicht so, dass nur eine umfassende
Kontrolle (gar durch je mich) gewährleistet, dass die Kriterien
gesellschaftlicher Kooperation im Interesse der Menschen (also von je
mir) erfüllt werden? Ist also gesamtgesellschaftliche Planung und
zentrale Steuerung unumgehbar? - Nein, das hat sich nicht nur als real
gewesenes Experiment erledigt, sondern es widerspricht auch fundamental
den Prinzipien freier Kooperation: Jede zentrale Planung und Steuerung
schafft sakrosankte Regeln, bedeutet Herumpfuschen in je meinem Leben.

(26) Ist es aber andererseits nicht so, dass jeder »sich
selbstorganisierende Mechanismus«, sich irgendwann stets gegen die
Menschen verselbstständigt? - Nein, das ist ein Kurzschluss. Das gilt
nur für erzwungene Kooperationen, insbesondere natürlich für die der
»subjektlosen Herrschaft« der warenproduzierenden Gesellschaft. Das gilt
nicht für freie Kooperationen. Ich will zeigen, dass gerade hier die
systemsprengende Kraft der Theorie Freier Kooperation liegt: Sie
ermöglicht es, eine Vergesellschaftung jenseits von Ware, Wert, Geld,
Markt und Staat zu denken.

Die freie Gesellschaft als freie gesamtgesellschaftliche Kooperation

(27) Ich hatte dargestellt, dass die freie Kooperation auf der
gesamtgesellschaftlichen Ebene an eine unverhandelbare Grenze stößt. Im
Kapitalismus ist dies die subjekt- und endlose Verwertung des Werts, die
den »selbstreproduktiven Kern« der warenproduzierenden Gesellschaft
ausmacht. Auch in einer freien Gesellschaft wird es - wie in jeder
Gesellschaft - einen solchen »selbstreproduktiven Kern« geben, nur wird
seine Dynamik anders beschaffen sein. Die Fragen lauten nun also: Was
kann ein solcher »selbstreproduktiver Kern« sein? Wie ist dann das
Verhältnis der personalen Kooperationen zur dieser
gesamtgesellschaftlichen Kooperation beschaffen?

(28) Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass durchaus auch
personal-konkrete Vergesellschaftungsformen eine solche Dynamik
konstituieren können. So war die »naturale Epoche« vor der Dominanz der
warenproduzierenden Gesellschaften durch personale
Abhängigkeitsverhältnisse bestimmt. Die Gesellschaft reproduzierte sich
und ihre Herrschaftsform über diese personalen Abhängigkeitsgeflechte.
Diese hatten durchaus sehr verschiedene Formen (Sklaven/Sklavenhalter,
Leibeigene/Feudale, Freie/Bürger etc.). Davon unterscheidet sich
qualitativ die Epoche abstrakter, »subjektloser Herrschaft«
warenproduzierender Gesellschaften wie ich sie  vorher beschrieben habe.

(29) Gewalt spielte in all diesen Formen der Vergesellschaftung eine
zentrale »Vermittlungsrolle«, wobei die »Gewalt des Sachzwangs« z.B. der
Märkte ungleich schwerer zu bekämpfen ist, als die Unterdrückung durch
sinnlich erfahrbare Personen. So ist es kein Zufall, dass die
personifizierende »Schuldzuweisung« mit all seinen rassistischen und
auch antisemitischen Konnotationen in Gesellschaften »subjektloser
Herrschaft« der gängige Modus der Konfliktaustragung ist.

(30) Daraus ziehe ich für eine freie Gesellschaft folgende Schlüsse:
- die gesamtgesellschaftliche Vermittelung ist personal-konkret strukturiert
- Träger der gesellschaftlichen Vermittlung ist die freie Kooperation
- Kern der freien Kooperation ist die Selbstentfaltung des konkreten
einzelnen Menschen
- die Sphärentrennungen (Arbeit-Freizeit, Produktion-Konsum,
Wissenschaft-Kultur etc.) sind aufgehoben - eine freie Kooperation kann
alles sein, alles kann freie Kooperation sein

(31) Welche konkrete Ausprägungsform die Kooperationen haben, wie groß
sie sind, wie sie ihre interne Struktur bilden, welche Regeln sie sich
geben, wie sie sich mit anderen vernetzen - all das ist Sache der
Kooperationen und der in ihnen tätigen Menschen. Die drei Prinzipien
freier Kooperationen kommen erst in einer freien Gesellschaft voll zum
Tragen, da erst hier die individuelle Existenz bedingungslos, also ohne
Kopplung an eine zu erbringende Leistung erhalten wird. Erst dadurch
wird die je individuelle Entfaltung auch angstfrei möglich, erst dadurch
können die je individuellen Potenzen zum Tragen kommen, erst dadurch
gewinnen Konflikte ihre Eigenschaft als Anstoß zu neuen Entwicklungen
zurück.

(32) »Wir brauchen keine utopische Gesellschaft, um damit anfangen zu
können. In gewissem Sinne ist es egal, wo wir anfangen. Die Frage ist
nur, wie weit wir gehen.« (S. 40)

Literatur

(33) Gruppe Gegenbilder (2000), Freie Menschen in freien Vereinbarungen,
Saasen: Eigenverlag. Internet: www.opentheory.org/gegenbilder
Holzkamp, Klaus (1993), Grundlegung der Psychologie, Frankfurt/M.: Campus.

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