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Thread: oxdeT03493 Message: 11/27 L10 [In index]
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Re: [ox] Wettlauf mit der Zeit



Benni schrieb:
Open-Source Polizeiarbeit? Gewagt. Demnächst fordern wir dann
Open-Source Vergeltungsschläge und Open-Source Krieg?

Was ich mir vorstellen könnte wäre die Offenlegung von allen möglichen
Informationen, die bisher als privat galten.  Z.B.
Opensource-Videokontrolle auf öffentlichen Plätzen, mit offener
Gesichtserkennungssoftware uvm.

<SARCASM>
Sollte man dann nicht konsequenterweise auch für obligatorische öffentliche
Gentests und "offene" Datenbanken mit den Gensequenzen aller Bürger, mit
ihren Strafregistern und Kontoständen, den "offenen" Fingerabdruckabgleich
allerorten, usw. usf. - was eben die universelle Paranoia als Voraussetzung
für die universelle Sicherheit erfordern würde - einführen? Oder besser noch:
Gleich nach der Geburt einen Chip mit globaler ID, GPS-Empfänger und
Induktionssender unter die Haut implementieren? "Gattaca" läßt grüßen ...
</SARCASM>

Es waere immerhin mit dem Begriff "Opensource" erklaerbar.
Natuerlich waere es nicht nur ein schwerwiegender Zivilisationsbruch
sondern auch zumindest unter derzeitigen Umstaenden eine Gefahr fuer die
Personen, die dann noch viel leichter zur Zielscheibe von Verbrechern
werden koennten.
Allerdings wuerde eine solche Art der Uebersichtlichkeit nicht unbedingt
in ein unfreies Staatswesen fuehren.  Man bedenke auch, dass in vielen
wichtigen Bereichen wie etwa beim Finanzwesen das Prinzip "Hosen runter"
weitgehend Wirklichkeit ist, ohne dass deshalb die Demokratie vom
Zusammenbruch bedroht waere.

Falls tatsächlich die Sicherheit brüchig und die Polizeiarbeit immer
schwieriger wird,

... darf man -muß man- vielleicht auch nach Ursachen (statt nach bloßen
Auslösern) für die Ereignisse und nach Ursachen für das Versagen der mit
exorbitanten Mitteln (ca. 20-40 Milliarden US$ allein für die NSA) und
weitreichenden Befugnissen ("großer Lauschangriff" u.a.m.) ausgestatteten
Zuständigen fragen.

In meinem "falls .. schwieriger wird" war die Ursachensuche bereits als
abgeschlossen vorausgesetzt.  Natuerlich kann man immer noch andere
Ursachen finden.  Aber Sicherheit ist ein Mosaik aus vielen Faktoren, und
falls in ein paar Jahren trotz vielseitiger Bemuehungen ueberall
Katastrophen passieren (Virenaussetzung in Paris, Atombombe in Muenchen,
...), wird man vielleicht zu dem Eindruck gelangen, dass auch am
Gleichgewicht zwischen Uebersichtlichkeit und Privatsphaere geschraubt
werden muss.

[Und was könnte passieren, wenn die entsprechenden "Dienste" mehr Geld, mehr
Mitarbeiter und mehr Befugnisse erhalten? Liefe es vielleicht -aus der
Vergangenheit geschlußfolgert- darauf hinaus, daß diese "mehr" Mitarbeiter
mit "mehr" Geld und "mehr" Befugnissen nur "mehr Nicht-Wissen" produzieren
würden?]

Was koennte daraus dann folgen?

Denn dann würden "wir" uns freiwillig einem Zustand der Unfreiheit und
Obrigkeitshörigkeit annähern, den die Terroristen -möglicherweise, man sollte
vorsichtig sein, solange keine _Beweise_ vorliegen- weltweit gerne
durchgesetzt sehen würden und in Afghanistan zu realisieren versuchen.

Wir muessen uns nicht daran orientieren, was die Terroristen vielleicht
wollen.

Ich hoffe, daß vernünftigen Menschen mehr einfällt, als solche "Alternativen".

Die Grenzen zwischen der "Sicherheit des Staates" und einer dazu ggf. zu
schaffenden und einsetzbaren "Staatssicherheit" beginnen sehr schnell zu
verschwimmen, wenn man die demokratischen Ziele und Werte vergißt, zu deren
Erreichung _Freiheit_ eine Voraussetzung und nicht bloß eine ins Belieben
populistischer Politiker gestellte Verfügungsmasse ist.

Wenn deutsche Politiker in diesen Tagen ohne Zögern zum Vollzug der
<<infinite justice>> [so lt. Spiegel
[http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,158294,00.html] der Codename
der geplanten Militäroperation] im Rahmen eines <<Kreuzzuges des Guten gegen
das Böse>> [GW Bush] die <<uneingeschränkte Solidarität>> [Joschka Fischer
lt. Spiegel a.a.O.] ausrufen, dann darf man sehr wohl die Frage nach den
Motiven, besser wohl nach den Affekten stellen, ohne deshalb Sympathie mit
_irgendwelchen_ Terroristen auszudrücken. Und man darf -man sollte- die Frage
nach den Auswirkungen für die Zukunft stellen, wenn neuerdings "infinite
revenge" mit <<infinite justice>> gleichgesetzt wird. [Frage: War es nicht
u.a. das, was den "islamistischen Fundamentalisten" vorgeworfen wurde, ihre
"steinzeitlichen Rechtsvorstellungen"?]

<<Sketching in the outline of an agressive new American foreign Policy, the
Bush administration has given the the nations of the world a stark choice:
Stand with us against terrorism, deny safe havens to terrorists or face the
certain prospect of death and destruction. ... By equating acts of terrorism
and even the harboring of terrorists with acts of war, the administration is
going well beyond traditional international practice.>> RW Apple, Jr., in
International Herald Tribune, Sat/Sun Sep 15-16, 2001

Dennoch trifft diese Gleichsetzung moeglicherweise den Kern.
Wir leben heute in einer Situation, wo ein Heer heiliger Krieger von jedem
beliebigen staatlichen Geheimdienst fuer erpresserische Zwecke eingesetzt
werden kann.  VIelleicht ist das ein Ergebnis besserer globaler
Vernetzung, welches zu einer neuen ARt des Krieges gefuehrt hat.  Denn
wenn Staaten fuer die Ziele ihrer Politik Terrorismus einsetzen, dann
handelt es sich um Krieg.  Es ist dann schwer vorherzubestimmen, welches
das geeignetste Druckmittel ist, um dem entgegenzuwirken.  Jedenfalls
koennen militaerische Mittel nicht von vorneherein ausscheiden.  Und ueber
die Wahl dieser Mittel werden m.E. Fachleute nach kuehler Ueberlegung
entscheiden.  Was Bush vielleicht in irgendwelchen Reden gesagt hat,
ist eigentlich von sekundaerer Bedeutung.

...
Auf all' das hinzuweisen, die Ereignisse zu diskutieren, kurz: sich damit
auseinanderzusetzen, hat nicht notwendig etwas mit <<der gutmenschlichen
Gesinnung>> (s.u.) zu tun, sondern z.B. mit der fehlenden Bereitschaft das
eigene Denken auf "höhere Veranlassung hin" abzustellen - und mit dem
Bedürfnis, Einrede zu erheben, gegen eine "Nicht-Politik", die sich und "uns"
-unter Verzicht auf eine Ursachendiskussion- fast bedenkenlos auf die
Bekämpfung eventuell "virtueller" Symptome zustürzt.

Eine erfolgreiche Politik wird immer auf allen Ebenen mit
unterschiedlichen Mitteln arbeiten.

Denn (1.) läßt sich mit 100 Kampfflugzeugen am Golf ganz sicher kein
terroristisches Netzwerk -so der Anschein nach den bisherigen Berichten über
Ermittlungsergebnisse- in -zig Ländern bekämpfen. Und (2.) wird man mit einem
unziviliserten Rundumschlag* gegen alle "Unzivilisierten" und "Barbaren" das
Gegenteil von Sicherheit erreichen - wenn den Sicherheit überhaupt eine
wirkliche Rolle spielen sollte.

Man wird damit moeglicherweise einigen Staaten und Bevoelkerungen das
Interesse an der Foerderung und Beherbergung von Terroristen in ihren
Reihen verleiden.  Die Gegenargumente, das wuerde eher Trotz erzeugen,
kenne ich.  Hier wird oft ein Konflikt der Menschenbilder und
Wertvorstellungen ausgetragen, in dem die konkrete politische Situation
nur der Illustration dient.  Aber letztlich kommt es auf letztere an, und
die kann kaum jemand einschaetzen.  Auch Bush verlaesst sich da vermutlich
auf den CIA und nicht auf irgendwelche Vergeltungsrhetorik.

Letztlich ist öffentliche Sicherheit ebenso eine kybernetische Frage wie
die Sicherheit von Computernetzen.

"Die öffentliche Sicherheit" (vor kurzem lief ein Film mit dem Titel
"Die innere Sicherheit im Kino; sollte vielleicht wieder aufgeführt
werden) ist zuallererst eine _politische_ Frage, die _politisch_ zu
diskutieren ist, zumal in einem Land, das sich als ein demokratisches
bezeichnet. Und erst dann, _wenn_ ein Konsens über ihre Ziele und
Ausmaße auf demokratischem Wege erzielt worden ist, _dann_ kann man
anfangen, über ihre "Implementierung"  nachzudenken. Und erst dann
wird aus dem politischen ein kybernetisches Problem.

Man sollte die Reihenfolge nicht umkehren. Andernfalls untergräbt man
die Fundamente eines sozialen Konsenses, der m.E. nötig ist, um
Terrorismus zu verhindern.

Sicherlich sollte die Implementierung sich innerhalb der Vorgaben eines
politischen Konsenses bewegen.  Dennoch laesst sich das Problem als ein
kybernetisches analysieren, und es ist jederzeit denkbar, dass das System
aus den Fugen geraet.  Deshalb waere es ganz gut, sich fuer alle Faelle
Gedanken darueber zu machen, wo bei Bedarf geschraubt werden kann.

Der Krieg sei die Fortsetzung der Politik <<mit anderen Mitteln>>, schrieb
Clausewitz vor 200 Jahren. Jetzt ziehen NATO-Staaten (und ev. noch andere) in
den Krieg. Welche Politik hat sie auf diesen Weg geführt? _Das_ wäre zu
(er)klären. [Welcher brutale Anlaß es war, ist klar.]

Gut gefragt.  Eine Politik gegen den internationalen Terrorismus gibt es
schon seit einigen Jahren.  Ganz uneingebettet kaemen eventuell derzeit
vorbereitete Schlaege nicht.

ist möglicherweise ein Produkt verbesserter globaler Vernetzung:  beliebigen
Staaten steht für ihre erpresserischen Ziele ein Netzwerk heiliger Krieger

Apropos "heilige Krieger": GW Bush spricht seinerseits von einem Kreuzzug ...

Es scheint eine regelrechte Inflation der (un)heiligen "hounds of war" zu
geben.

Da gibt es allerdings einen klaren Unterschied.  "Heiliger Krieg" ist eine
Fiktion.  Es geht darum, durch Verweis auf die Regeln der Notwehr jegliche
Skrupel ueber Bord zu werfen.  Dergleichen praktizieren CIA und
US-Militaer sicher nicht.  Ihnen geht es darum, kriegerische Mittel
insoweit einzusetzen, wie sie ein bestimmtes Ergebnis zu erreichen
geeignet sind.

zur Verfügung.  Insoweit fände hier tatsächlich ein Krieg statt, der zu
einer stärker global vereinheitlichten Politik führt.

Der nächste Absatz kommentiert sich in seiner Wortwahl wohl hinreichend
selbst.

Auf dem Weg
dorthin werden sich möglicherweise militärische Schläge gegen einzelne
Staaten als probate Mittel erweisen.

Bei allem Respekt: _Das_ ist die Rhetorik des Kriege(r)s: <<militärische
Schläge ... als probate Mittel>>.

Wiegesagt halte ich es fuer recht wahrscheinlich, dass hier tatsaechlich
eine Art Krieg vorliegt, der nach den Regeln der Politik einschliesslich
ihrer Fortsetzung mit kriegerischen Mitteln zu fuehren ist.  Einerseits
muss die Oeffentlichkeit darauf vorbereitet werden, andererseits darf man
nicht sich von kriegsluesterner Rhetorik leiten lassen.  Das ist ein
schwieriger Balanceakt, den die USA meiner Einschaetzung nach im Golfkrieg
recht gut bewaeltigt haben.

Dem möchte ich ein paar Sätze des in den letzten Tagen oft erwähnten, jedoch
selten vernünftig zitierten Politiologen Samuel Huntington (aus seinem "Clash
of Civilizations") entgegenstellen:

<<In der heraufziehenden Ära sind Kämpfe zwischen Kulturen die größte Gefahr
für den Weltfrieden, und eine auf Kulturen basierende internationale Ordnung
ist der sicherste Schutz vor einem Weltkrieg. Die Zukunft des Friedens und
der Zivilisation hängt davon ab, daß die führenden Politiker und
Intellektuellen der großen Weltkulturen einander verstehen und miteinander
kooperieren.>> S.531

Diese klaren Worte stammen von einem gemeinhin als "erzkonservativ"
bezeichneten US-Politologen. Dessen Analysen fallen allerdings um
einiges gründlicher aus, als was man heute oft vernehmen muß. Und die
sich auf ihn berufen, wenn sie die Quelle des Bösen ausmachen wollen,
haben wahrscheinlich kaum mehr als den Titel des Buches -irgendwo-
gelesen. Andernfalls würden sie nicht so leichtfertig (ver)urteilen.

Sicherlich waere auch einiges fuer die USA zu gewinnen, wenn sie gewisse
Posen vermeiden wuerden, die den Stolz anderer Nationen/Kulturen unnoetig
verletzen.  In China gab es auf Seiten der Bevoelkerung (nicht im
geringsten auf Anstachelung der Regierung) einige Schadenfreude. Die USA
werden zwangslaeufig Missgunst und Hass auf sich ziehen, auch wenn sie in
der Welt die ihrem Gewicht entsprechende politische Rolle in einer noch so
fairen Weise spielen.

Eigentlich kann kaum jemand wissen, ob sich durch den Anschlag wirklich
das Gleichgewicht zwischen Freiheit und Übersichtlichkeit verändert hat.

Eine ganze Menge durchaus vernünftiger und intelligenter Leute sehen das
allerdings anders.

Ich meinte: ob der Anschlag wirklich als ein Zeichen dafuer zu werten ist,
dass die oeffentliche Sicherheit dauerhaft zerbrechlicher geworden ist und
in manchen Bereichen ein Umdenken erzwingen wird.  M.E. kann das jetzt
niemand beurteilen.  Weder diejenigen, die schnell andere Gesetze wollen,
noch diejenigen, die sich dagegen stemmen.  Meine Forderung waere,
gefaelligst an die dringend anstehende Arbeit zu gehen und Debatten ueber
langfristige Regelaenderungen nur langfristig und unabhaengig vom jetzigen
Ereignis zu fuehren.

aber zugleich sich zu überlegen, wie man eventuell einem
kommendem Bedürfnis nach mehr Übersicht

Was hat man sich denn unter "Übersicht" vorzustellen? Und für wen? Und mit
welchen Mitteln zu beschaffen? Unter welchen Umständen? Und unter welchen
nicht? Und wie lange zu speichern? Und wie einzusetzen? Und an wen
weiterzuleiten? Und ...

Zur Diskussion wird immer wieder stehen, ob gewisse Auskuenfte und Daten
(1) niemandem (2) irgendwie befugten Sicherheitsbehoerden (3) der
Oeffentlichkeit zugaenglich gemacht werden.  Kompliziert wird das dadurch,
dass technische Revolutionen staendig die Grenzen verschieben.  Oft stellt
sich vor allem die Frage, ob man sich einer solchen Grenzverschiebung
widersetzt, wenn sie etwa zuungunsten der Privatsphaere verlaeuft, wie das
etwa beim Aufbau von persoenlichen Identitaeten im Netz (etwa zur
digitalen Signatur) leicht der Fall sein kann.  Soll man das kuenftig
bekaempfen oder als willkommenen Ausgleich zu gegenteiligen
Grenzverschiebungen (z.B. zugunsten der Privatsphaere bei starker
Kryptographie) hinnehmen?

entgegenkommen kann, statt nur in
der Pose des "Hände weg von meiner Privatsphäre" -Aufschreis zu verharren.

_So_ undifferenziert gehen nach meinem Eindruck die allerwenigsten heran. So
undifferenziert werden sie i.A. nur von jenen abgefertigt, denen Datenschutz
und Privatsphäre und individuelle Freiheit ohnehin ein Dorn im Auge sind.

Umgekehrt erheben auch die wenigsten auf der anderen Seite ein so
undifferenziertes Kriegsgeschrei, wie das von den eher
friedens/buergerrechtsorientierten Leuten dargestellt wird.  Es stehen
sich eben verschiedene Reflexe und Temperamente und Glaubenssaetze
gegenueber.

Viele Gruesse

--
Hartmut Pilch                                      http://phm.ffii.org/
Schutz der Innovation vor der Patentinflation:   http://swpat.ffii.org/
89000 Stimmen gegen Logikpatente:            http://www.noepatents.org/

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Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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