Re: [ox] Wettlauf mit der Zeit
- From: Robert Gehring <zoroaster snafu.de>
- Date: Thu, 20 Sep 2001 23:34:34 +0000
Guten Abend an alle Mitlesenden,
Am Donnerstag, 20. September 2001 20:26 schrieb PILCH Hartmut:
Benni schrieb:
Open-Source Polizeiarbeit? Gewagt. Demnächst fordern wir dann
Open-Source Vergeltungsschläge und Open-Source Krieg?
Was ich mir vorstellen könnte wäre die Offenlegung von allen möglichen
Informationen, die bisher als privat galten. Z.B.
Opensource-Videokontrolle auf öffentlichen Plätzen, mit offener
Gesichtserkennungssoftware uvm.
<SARCASM>
Sollte man dann nicht konsequenterweise auch für obligatorische öffentliche
Gentests und "offene" Datenbanken mit den Gensequenzen aller Bürger, mit
ihren Strafregistern und Kontoständen, den "offenen" Fingerabdruckabgleich
allerorten, usw. usf. - was eben die universelle Paranoia als Voraussetzung
für die universelle Sicherheit erfordern würde - einführen? Oder besser noch:
Gleich nach der Geburt einen Chip mit globaler ID, GPS-Empfänger und
Induktionssender unter die Haut implementieren? "Gattaca" läßt grüßen ...
</SARCASM>
Falls tatsächlich die Sicherheit brüchig und die Polizeiarbeit immer
schwieriger wird,
... darf man -muß man- vielleicht auch nach Ursachen (statt nach bloßen
Auslösern) für die Ereignisse und nach Ursachen für das Versagen der mit
exorbitanten Mitteln (ca. 20-40 Milliarden US$ allein für die NSA) und
weitreichenden Befugnissen ("großer Lauschangriff" u.a.m.) ausgestatteten
Zuständigen fragen.
[Und was könnte passieren, wenn die entsprechenden "Dienste" mehr Geld, mehr
Mitarbeiter und mehr Befugnisse erhalten? Liefe es vielleicht -aus der
Vergangenheit geschlußfolgert- darauf hinaus, daß diese "mehr" Mitarbeiter
mit "mehr" Geld und "mehr" Befugnissen nur "mehr Nicht-Wissen" produzieren
würden?]
kann sich die Alternative stellen
- Überwachungsstaat mit privilegierter allwissender Klasse
- "Hosen runter" von unten bei Waffengleichheit aller
Wenn _das_ die einzigen Alternativen sein sollten, dann hätten die
Terroristen mehr erreicht, als sie sich je zu träumen gewagt hätten.
Denn dann würden "wir" uns freiwillig einem Zustand der Unfreiheit und
Obrigkeitshörigkeit annähern, den die Terroristen -möglicherweise, man sollte
vorsichtig sein, solange keine _Beweise_ vorliegen- weltweit gerne
durchgesetzt sehen würden und in Afghanistan zu realisieren versuchen.
Ich hoffe, daß vernünftigen Menschen mehr einfällt, als solche "Alternativen".
Die Grenzen zwischen der "Sicherheit des Staates" und einer dazu ggf. zu
schaffenden und einsetzbaren "Staatssicherheit" beginnen sehr schnell zu
verschwimmen, wenn man die demokratischen Ziele und Werte vergißt, zu deren
Erreichung _Freiheit_ eine Voraussetzung und nicht bloß eine ins Belieben
populistischer Politiker gestellte Verfügungsmasse ist.
Wenn deutsche Politiker in diesen Tagen ohne Zögern zum Vollzug der
<<infinite justice>> [so lt. Spiegel
[http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,158294,00.html] der Codename
der geplanten Militäroperation] im Rahmen eines <<Kreuzzuges des Guten gegen
das Böse>> [GW Bush] die <<uneingeschränkte Solidarität>> [Joschka Fischer
lt. Spiegel a.a.O.] ausrufen, dann darf man sehr wohl die Frage nach den
Motiven, besser wohl nach den Affekten stellen, ohne deshalb Sympathie mit
_irgendwelchen_ Terroristen auszudrücken. Und man darf -man sollte- die Frage
nach den Auswirkungen für die Zukunft stellen, wenn neuerdings "infinite
revenge" mit <<infinite justice>> gleichgesetzt wird. [Frage: War es nicht
u.a. das, was den "islamistischen Fundamentalisten" vorgeworfen wurde, ihre
"steinzeitlichen Rechtsvorstellungen"?]
<<Sketching in the outline of an agressive new American foreign Policy, the
Bush administration has given the the nations of the world a stark choice:
Stand with us against terrorism, deny safe havens to terrorists or face the
certain prospect of death and destruction. ... By equating acts of terrorism
and even the harboring of terrorists with acts of war, the administration is
going well beyond traditional international practice.>> RW Apple, Jr., in
International Herald Tribune, Sat/Sun Sep 15-16, 2001
Was wird das für Konsequenzen haben? -- <<death and destruction>>? -- und für
wen alles? _Nur_ für Terroristen? So klingt es nicht. Die toten Zivilisten
werden wohl mit eingeplant sein/werden müssen. Wieviele werden es werden?
Und man darf sich daran erinnern, daß die mancherorten so leichtfertig an den
Tag gelegt Rhetorik nicht neu ist, und daran, wohin sie früher geführt hat.
Zur Erinnerung:
<<Es wäre eine verbrecherische Unvorsichtigkeit, hinfort zuzulassen, daß die
Glieder einer noch ungestalten, ganz und gar bösartigen Rasse künftig
miteinander etwas abkarten. Die Alliierten werden dieser furchtbaren Bestie
Fesseln anlegen, bis sie sich, durch die Deichsel gebändigt, den Gesetzen der
Zivilisation unterwirft. Diesen Übeltätern muß man Handschellen anlegen.
Jedermann begreift, daß es unmöglich ist, Waffen in den Händen dessen zu
dulden, der auf der Stufenleiter der Menschheit allzu tief steht ...>>
Das Zitat von Barres stammt vom 25./26. September 1914(!), aus dem Echo de
Paris. Quelle: Romain Rolland: Das Gewissen Europas, Band 1, S.71, Rütten &
Loening, 2. Aufl., Berlin 1983
Und der letzte Satz des Absatzes lautet: <<Die deutsche Rasse muß eine Zeit
der Buße durchmachen.>> Barres bezog sich auf die Deutschen im ersten
Weltkrieg.
Heute sind es eben die Fundamentalisten/Islamisten/Moslems/Araber/... Die
nächsten Tage und Wochen werden weitere Klassifizierungen hervorbringen, da
bin ich mir sicher.
Auf all' das hinzuweisen, die Ereignisse zu diskutieren, kurz: sich damit
auseinanderzusetzen, hat nicht notwendig etwas mit <<der gutmenschlichen
Gesinnung>> (s.u.) zu tun, sondern z.B. mit der fehlenden Bereitschaft das
eigene Denken auf "höhere Veranlassung hin" abzustellen - und mit dem
Bedürfnis, Einrede zu erheben, gegen eine "Nicht-Politik", die sich und "uns"
-unter Verzicht auf eine Ursachendiskussion- fast bedenkenlos auf die
Bekämpfung eventuell "virtueller" Symptome zustürzt.
Denn (1.) läßt sich mit 100 Kampfflugzeugen am Golf ganz sicher kein
terroristisches Netzwerk -so der Anschein nach den bisherigen Berichten über
Ermittlungsergebnisse- in -zig Ländern bekämpfen. Und (2.) wird man mit einem
unziviliserten Rundumschlag* gegen alle "Unzivilisierten" und "Barbaren" das
Gegenteil von Sicherheit erreichen - wenn den Sicherheit überhaupt eine
wirkliche Rolle spielen sollte.
* (etliche US-Politiker um den stellvertretenden US-Verteidigungsminister
Wolfowitz fordern, <<"eine entschlossene Anstrengung zu unternehmen, um
Saddam Hussein zu entmachten", auch wenn ihm keine Beteiligung an den
Anschlägen nachzuweisen sei>>; Spiegel v. 20.9.2001:
http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,158355,00.html)
Es könnten viele Argumente folgen, die aber schon an vielen anderen Stellen
zu Recht angeführt worden sind.
Und noch ein flashback:
<<Was heißt das, der Barbar? Mir scheint, der sogenannte Barbar ist der
Träger einer anderen Kulturauffassung als der unsrigen. Nun wohl, mag sie
auch völlig anders sein als die unsrige, es ist doch nicht ausgeschlossen,
daß sie einen ebenso großen Wert wie die unsrige enthält.>>
Strawinski am 26. September 1914 an Romain Rolland (a.a.O., S.69)
[Mit "Barbaren" waren seinerzeit die Deutschen gemeint.]
Die Reihe historischer Zitate ließe sich beliebig fortsetzen ...
[Man sollte vielleicht gründlich(er) darüber nachdenken, <<Warum der 11.
September 2001 an den 28. Juni 1914 erinnert>>, wie Volker Ullrich es in der
aktuellen ZEIT feststellt.]
Letztlich ist öffentliche Sicherheit ebenso eine kybernetische Frage wie
die Sicherheit von Computernetzen.
"Die öffentliche Sicherheit" (vor kurzem lief ein Film mit dem Titel "Die
innere Sicherheit im Kino; sollte vielleicht wieder aufgeführt werden) ist
zuallererst eine _politische_ Frage, die _politisch_ zu diskutieren ist,
zumal in einem Land, das sich als ein demokratisches bezeichnet. Und erst
dann, _wenn_ ein Konsens über ihre Ziele und Ausmaße auf demokratischem Wege
erzielt worden ist, _dann_ kann man anfangen, über ihre "Implementierung"
nachzudenken. Und erst dann wird aus dem politischen ein kybernetisches
Problem.
Man sollte die Reihenfolge nicht umkehren. Andernfalls untergräbt man die
Fundamente eines sozialen Konsenses, der m.E. nötig ist, um Terrorismus zu
verhindern.
Deshalb sind auch Kategorien wie
"security by obscurity" und "opensource" anwendbar.
In der gegenwärigen Situation der öffentlichen Gedankenlosigkeit der Politik,
um nicht von Kopflosigkeit zu reden, bekommt "security by obscurity" einen
ganz neuen Beiklang: "obskure Maßnahmen im Namen der Sicherheit" ...
Die neue Spielart des Terrors, die sich in NY gezeigt hat,
... wurde zuerst von Hollywood gezeigt. Praktisch alle Kommentare, die in den
ersten Minuten und Stunden während und nach der Katastrophe zu vernehmen
waren, lauteten unisono <<man kommt sich vor wie im Film>>. [Mir selbst
erging es genauso. Als ich die Meldung im Radio vernahm, dachte ich zuerst an
die Besprechung eines neuen Blockbusters, der demnächst anlaufen würde.] Auch
darüber sollte man nachdenken: wieso Künstler dergleichen antizipiert hatten.
Haben sie mit ihren Szenarien nicht auch die (visuellen) Schlüsse aus einem
Unbehagen gegenüber einer bestimmten Politik der Ignoranz gezogen?
Der Krieg sei die Fortsetzung der Politik <<mit anderen Mitteln>>, schrieb
Clausewitz vor 200 Jahren. Jetzt ziehen NATO-Staaten (und ev. noch andere) in
den Krieg. Welche Politik hat sie auf diesen Weg geführt? _Das_ wäre zu
(er)klären. [Welcher brutale Anlaß es war, ist klar.]
ist möglicherweise ein Produkt verbesserter globaler Vernetzung: beliebigen
Staaten steht für ihre erpresserischen Ziele ein Netzwerk heiliger Krieger
Apropos "heilige Krieger": GW Bush spricht seinerseits von einem Kreuzzug ...
Es scheint eine regelrechte Inflation der (un)heiligen "hounds of war" zu
geben.
zur Verfügung. Insoweit fände hier tatsächlich ein Krieg statt, der zu
einer stärker global vereinheitlichten Politik führt.
Der nächste Absatz kommentiert sich in seiner Wortwahl wohl hinreichend
selbst.
Auf dem Weg
dorthin werden sich möglicherweise militärische Schläge gegen einzelne
Staaten als probate Mittel erweisen.
Bei allem Respekt: _Das_ ist die Rhetorik des Kriege(r)s: <<militärische
Schläge ... als probate Mittel>>.
Dem möchte ich ein paar Sätze des in den letzten Tagen oft erwähnten, jedoch
selten vernünftig zitierten Politiologen Samuel Huntington (aus seinem "Clash
of Civilizations") entgegenstellen:
<<In der heraufziehenden Ära sind Kämpfe zwischen Kulturen die größte Gefahr
für den Weltfrieden, und eine auf Kulturen basierende internationale Ordnung
ist der sicherste Schutz vor einem Weltkrieg. Die Zukunft des Friedens und
der Zivilisation hängt davon ab, daß die führenden Politiker und
Intellektuellen der großen Weltkulturen einander verstehen und miteinander
kooperieren.>> S.531
Diese klaren Worte stammen von einem gemeinhin als "erzkonservativ"
bezeichneten US-Politologen. Dessen Analysen fallen allerdings um einiges
gründlicher aus, als was man heute oft vernehmen muß. Und die sich auf ihn
berufen, wenn sie die Quelle des Bösen ausmachen wollen, haben wahrscheinlich
kaum mehr als den Titel des Buches -irgendwo- gelesen. Andernfalls würden sie
nicht so leichtfertig (ver)urteilen.
Es ist klar, dass auf den Schock hin
zunächst alle möglichen rituellen Leiern heruntergespult werden. Zu dem
"alien-haften" Getue gehört auch das der gutmenschlichen Gesinnung, die
andere zu "Besonnenheit" aufruft, Ursachen- statt Symptombekämpfung
fordert und überhaupt meint, alles schon immer gewusst zu haben.
Im wohlverstandenen Eigeninteresse (Frieden, Freiheit in vielerlei Hinsicht,
usw.) und nicht primär aus einer <<gutmenschlichen Gesinnung>> oder etwa bloß
<<"alien-hafte[m]" Getue>> fordern eine ganze Menge Leute _zu Recht_
Ursachenforschung und -bekämpfung statt teuer zu bezahltender Augenwischerei.
Sich der vergangenen Kriege zu erinnern, kann dabei nicht schaden.
Eigentlich kann kaum jemand wissen, ob sich durch den Anschlag wirklich
das Gleichgewicht zwischen Freiheit und Übersichtlichkeit verändert hat.
Eine ganze Menge durchaus vernünftiger und intelligenter Leute sehen das
allerdings anders.
Zum besseren Verständnis der Problematik verweise ich an dieser Stelle auf
zwei Artikel:
(1.) Richard Stallman: Thousands Dead, Millions Deprived of Liberties,
17.9.2001
<<The worst damage from many nerve injuries is secondary -- it happens in the
hours after the initial trauma, as the body's reaction to the damage kills
more nerve cells. Researchers are beginning to discover ways to prevent this
secondary damage and reduce the eventual harm.
If we are not careful, the deadly attacks on New York and Washington will
lead to far worse secondary damage, if the U.S. Congress adopts "preventive
measures" that take away the freedom that America stands for.>>
http://slashdot.org/article.pl?sid=01/09/17/1758231&mode=nocomment
(2.) Declan McCullagh: Bush Submits His Laws for War, 20.9.2001
<<WASHINGTON -- President Bush sent his anti-terrorism bill to Congress
late Wednesday, launching an emotional debate that will force U.S.
politicians to choose between continued freedom for Americans or
greater security.>>
http://www.wired.com/news/politics/0,1283,47006,00.html
Man ist gut beraten, jetzt jeglichen Gesetzesänderungen energisch
entgegenzutreten,
Dem stimme ich zu.
aber zugleich sich zu überlegen, wie man eventuell einem
kommendem Bedürfnis nach mehr Übersicht
Was hat man sich denn unter "Übersicht" vorzustellen? Und für wen? Und mit
welchen Mitteln zu beschaffen? Unter welchen Umständen? Und unter welchen
nicht? Und wie lange zu speichern? Und wie einzusetzen? Und an wen
weiterzuleiten? Und ...
entgegenkommen kann, statt nur in
der Pose des "Hände weg von meiner Privatsphäre" -Aufschreis zu verharren.
_So_ undifferenziert gehen nach meinem Eindruck die allerwenigsten heran. So
undifferenziert werden sie i.A. nur von jenen abgefertigt, denen Datenschutz
und Privatsphäre und individuelle Freiheit ohnehin ein Dorn im Auge sind.
--
Hartmut Pilch http://phm.ffii.org/
[Zur weiterführenden Lektüre zu den aktuellen politischen Ereignissen kann
ich im übrigen die aktuelle Ausgabe der ZEIT sehr empfehlen - wohltuend
differenzierend.]
Und wir sollten uns vielleicht -gerade auch in diesem Rahmen hier- erinnern,
daß Richard Stallman unter "free" mehr verstand als das free in "free beer",
nämlich "freedom", als er begann, freie Software zu entwickeln. Und "open
source"-Überwachung/Krieg/Rache etc., wie oben vorgeschlagen oder befürchtet,
scheinen mir damit schlechterdings unvereinbar zu sein.
MfG, Robert Gehring
PS: "Man muß vorsichtig sein beim Wünschen; sonst bekommt man am Ende noch,
was man sich gewünscht hat."
--
Von/From: Dipl.-Inform. Robert Gehring
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