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Re: [ox] Wettlauf mit der Zeit



Guten Abend an alle Mitlesenden,

Am Donnerstag, 20. September 2001 20:26 schrieb PILCH Hartmut:

Benni schrieb:
Open-Source Polizeiarbeit? Gewagt. Demnächst fordern wir dann
Open-Source Vergeltungsschläge und Open-Source Krieg?

Was ich mir vorstellen könnte wäre die Offenlegung von allen möglichen
Informationen, die bisher als privat galten.  Z.B.
Opensource-Videokontrolle auf öffentlichen Plätzen, mit offener
Gesichtserkennungssoftware uvm.

<SARCASM>
Sollte man dann nicht konsequenterweise auch für obligatorische öffentliche 
Gentests und "offene" Datenbanken mit den Gensequenzen aller Bürger, mit 
ihren Strafregistern und Kontoständen, den "offenen" Fingerabdruckabgleich 
allerorten, usw. usf. - was eben die universelle Paranoia als Voraussetzung 
für die universelle Sicherheit erfordern würde - einführen? Oder besser noch: 
Gleich nach der Geburt einen Chip mit globaler ID, GPS-Empfänger und 
Induktionssender unter die Haut implementieren? "Gattaca" läßt grüßen ...
</SARCASM>

Falls tatsächlich die Sicherheit brüchig und die Polizeiarbeit immer
schwieriger wird, 

... darf man -muß man- vielleicht auch nach Ursachen (statt nach bloßen 
Auslösern) für die Ereignisse und nach Ursachen für das Versagen der mit 
exorbitanten Mitteln (ca. 20-40 Milliarden US$ allein für die NSA) und 
weitreichenden Befugnissen ("großer Lauschangriff" u.a.m.) ausgestatteten 
Zuständigen fragen.

[Und was könnte passieren, wenn die entsprechenden "Dienste" mehr Geld, mehr 
Mitarbeiter und mehr Befugnisse erhalten? Liefe es vielleicht -aus der 
Vergangenheit geschlußfolgert- darauf hinaus, daß diese "mehr" Mitarbeiter 
mit "mehr" Geld und "mehr" Befugnissen nur "mehr Nicht-Wissen" produzieren 
würden?]

kann sich die Alternative stellen

- Überwachungsstaat mit privilegierter allwissender Klasse
- "Hosen runter" von unten bei Waffengleichheit aller

Wenn _das_ die einzigen Alternativen sein sollten, dann hätten die 
Terroristen mehr erreicht, als sie sich je zu träumen gewagt hätten.

Denn dann würden "wir" uns freiwillig einem Zustand der Unfreiheit und 
Obrigkeitshörigkeit annähern, den die Terroristen -möglicherweise, man sollte 
vorsichtig sein, solange keine _Beweise_ vorliegen- weltweit gerne 
durchgesetzt sehen würden und in Afghanistan zu realisieren versuchen.

Ich hoffe, daß vernünftigen Menschen mehr einfällt, als solche "Alternativen".

Die Grenzen zwischen der "Sicherheit des Staates" und einer dazu ggf. zu 
schaffenden und einsetzbaren "Staatssicherheit" beginnen sehr schnell zu 
verschwimmen, wenn man die demokratischen Ziele und Werte vergißt, zu deren 
Erreichung _Freiheit_ eine Voraussetzung und nicht bloß eine ins Belieben 
populistischer Politiker gestellte Verfügungsmasse ist.

Wenn deutsche Politiker in diesen Tagen ohne Zögern zum Vollzug der 
<<infinite justice>> [so lt. Spiegel 
[http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,158294,00.html] der Codename 
der geplanten Militäroperation] im Rahmen eines <<Kreuzzuges des Guten gegen 
das Böse>> [GW Bush] die <<uneingeschränkte Solidarität>> [Joschka Fischer 
lt. Spiegel a.a.O.] ausrufen, dann darf man sehr wohl die Frage nach den 
Motiven, besser wohl nach den Affekten stellen, ohne deshalb Sympathie mit 
_irgendwelchen_ Terroristen auszudrücken. Und man darf -man sollte- die Frage 
nach den Auswirkungen für die Zukunft stellen, wenn neuerdings "infinite 
revenge" mit <<infinite justice>> gleichgesetzt wird. [Frage: War es nicht 
u.a. das, was den "islamistischen Fundamentalisten" vorgeworfen wurde, ihre 
"steinzeitlichen Rechtsvorstellungen"?]

<<Sketching in the outline of an agressive new American foreign Policy, the 
Bush administration has given the the nations of the world a stark choice: 
Stand with us against terrorism, deny safe havens to terrorists or face the 
certain prospect of death and destruction. ... By equating acts of terrorism 
and even the harboring of terrorists with acts of war, the administration is 
going well beyond traditional international practice.>> RW Apple, Jr., in 
International Herald Tribune, Sat/Sun Sep 15-16, 2001

Was wird das für Konsequenzen haben? -- <<death and destruction>>? -- und für 
wen alles? _Nur_ für Terroristen? So klingt es nicht. Die toten Zivilisten 
werden wohl mit eingeplant sein/werden müssen. Wieviele werden es werden?

Und man darf sich daran erinnern, daß die mancherorten so leichtfertig an den 
Tag gelegt Rhetorik nicht neu ist, und daran, wohin sie früher geführt hat.

Zur Erinnerung:

<<Es wäre eine verbrecherische Unvorsichtigkeit, hinfort zuzulassen, daß die 
Glieder einer noch ungestalten, ganz und gar bösartigen Rasse künftig 
miteinander etwas abkarten. Die Alliierten werden dieser furchtbaren Bestie 
Fesseln anlegen, bis sie sich, durch die Deichsel gebändigt, den Gesetzen der 
Zivilisation unterwirft. Diesen Übeltätern muß man Handschellen anlegen. 
Jedermann begreift, daß es unmöglich ist, Waffen in den Händen dessen zu 
dulden, der auf der Stufenleiter der Menschheit allzu tief steht ...>>

Das Zitat von Barres stammt vom 25./26. September 1914(!), aus dem Echo de 
Paris. Quelle: Romain Rolland: Das Gewissen Europas, Band 1, S.71, Rütten & 
Loening, 2. Aufl., Berlin 1983

Und der letzte Satz des Absatzes lautet: <<Die deutsche Rasse muß eine Zeit 
der Buße durchmachen.>> Barres bezog sich auf die Deutschen im ersten 
Weltkrieg.

Heute sind es eben die Fundamentalisten/Islamisten/Moslems/Araber/... Die 
nächsten Tage und Wochen werden weitere Klassifizierungen hervorbringen, da 
bin ich mir sicher.

Auf all' das hinzuweisen, die Ereignisse zu diskutieren, kurz: sich damit 
auseinanderzusetzen, hat nicht notwendig etwas mit <<der gutmenschlichen 
Gesinnung>> (s.u.) zu tun, sondern z.B. mit der fehlenden Bereitschaft das 
eigene Denken auf "höhere Veranlassung hin" abzustellen - und mit dem 
Bedürfnis, Einrede zu erheben, gegen eine "Nicht-Politik", die sich und "uns" 
-unter Verzicht auf eine Ursachendiskussion- fast bedenkenlos auf die 
Bekämpfung eventuell "virtueller" Symptome zustürzt. 

Denn (1.) läßt sich mit 100 Kampfflugzeugen am Golf ganz sicher kein 
terroristisches Netzwerk -so der Anschein nach den bisherigen Berichten über 
Ermittlungsergebnisse- in -zig Ländern bekämpfen. Und (2.) wird man mit einem 
unziviliserten Rundumschlag* gegen alle "Unzivilisierten" und "Barbaren" das 
Gegenteil von Sicherheit erreichen - wenn den Sicherheit überhaupt eine 
wirkliche Rolle spielen sollte.

* (etliche US-Politiker um den stellvertretenden US-Verteidigungsminister 
Wolfowitz fordern, <<"eine entschlossene Anstrengung zu unternehmen, um 
Saddam Hussein zu entmachten", auch wenn ihm keine Beteiligung an den 
Anschlägen nachzuweisen sei>>; Spiegel v. 20.9.2001: 
http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,158355,00.html)

Es könnten viele Argumente folgen, die aber schon an vielen anderen Stellen 
zu Recht angeführt worden sind.

Und noch ein flashback:

<<Was heißt das, der Barbar? Mir scheint, der sogenannte Barbar ist der 
Träger einer anderen Kulturauffassung als der unsrigen. Nun wohl, mag sie 
auch völlig anders sein als die unsrige, es ist doch nicht ausgeschlossen, 
daß sie einen ebenso großen Wert wie die unsrige enthält.>>

Strawinski am 26. September 1914 an Romain Rolland (a.a.O., S.69)

[Mit "Barbaren" waren seinerzeit die Deutschen gemeint.]

Die Reihe historischer Zitate ließe sich beliebig fortsetzen ...

[Man sollte vielleicht gründlich(er) darüber nachdenken, <<Warum der 11. 
September 2001 an den 28. Juni 1914 erinnert>>, wie Volker Ullrich es in der 
aktuellen ZEIT feststellt.]

Letztlich ist öffentliche Sicherheit ebenso eine kybernetische Frage wie
die Sicherheit von Computernetzen.  

"Die öffentliche Sicherheit" (vor kurzem lief ein Film mit dem Titel "Die 
innere Sicherheit im Kino; sollte vielleicht wieder aufgeführt werden) ist 
zuallererst eine _politische_ Frage, die _politisch_ zu diskutieren ist, 
zumal in einem Land, das sich als ein demokratisches bezeichnet. Und erst 
dann, _wenn_ ein Konsens über ihre Ziele und Ausmaße auf demokratischem Wege 
erzielt worden ist, _dann_ kann man anfangen, über ihre "Implementierung" 
nachzudenken. Und erst dann wird aus dem politischen ein kybernetisches 
Problem.

Man sollte die Reihenfolge nicht umkehren. Andernfalls untergräbt man die 
Fundamente eines sozialen Konsenses, der m.E. nötig ist, um Terrorismus zu 
verhindern.

Deshalb sind auch Kategorien wie
"security by obscurity" und "opensource" anwendbar.

In der gegenwärigen Situation der öffentlichen Gedankenlosigkeit der Politik, 
um nicht von Kopflosigkeit zu reden, bekommt "security by obscurity" einen 
ganz neuen Beiklang: "obskure Maßnahmen im Namen der Sicherheit" ...

Die neue Spielart des Terrors, die sich in NY gezeigt hat,

... wurde zuerst von Hollywood gezeigt. Praktisch alle Kommentare, die in den 
ersten Minuten und Stunden während und nach der Katastrophe zu vernehmen 
waren, lauteten unisono <<man kommt sich vor wie im Film>>. [Mir selbst 
erging es genauso. Als ich die Meldung im Radio vernahm, dachte ich zuerst an 
die Besprechung eines neuen Blockbusters, der demnächst anlaufen würde.] Auch 
darüber sollte man nachdenken: wieso Künstler dergleichen antizipiert hatten. 
Haben sie mit ihren Szenarien nicht auch die (visuellen) Schlüsse aus einem 
Unbehagen gegenüber einer bestimmten Politik der Ignoranz gezogen? 

Der Krieg sei die Fortsetzung der Politik <<mit anderen Mitteln>>, schrieb 
Clausewitz vor 200 Jahren. Jetzt ziehen NATO-Staaten (und ev. noch andere) in 
den Krieg. Welche Politik hat sie auf diesen Weg geführt? _Das_ wäre zu 
(er)klären. [Welcher brutale Anlaß es war, ist klar.] 

ist möglicherweise ein Produkt verbesserter globaler Vernetzung:  beliebigen
Staaten steht für ihre erpresserischen Ziele ein Netzwerk heiliger Krieger

Apropos "heilige Krieger": GW Bush spricht seinerseits von einem Kreuzzug ... 

Es scheint eine regelrechte Inflation der (un)heiligen "hounds of war" zu 
geben.

zur Verfügung.  Insoweit fände hier tatsächlich ein Krieg statt, der zu
einer stärker global vereinheitlichten Politik führt.  

Der nächste Absatz kommentiert sich in seiner Wortwahl wohl hinreichend 
selbst.

Auf dem Weg
dorthin werden sich möglicherweise militärische Schläge gegen einzelne
Staaten als probate Mittel erweisen.  

Bei allem Respekt: _Das_ ist die Rhetorik des Kriege(r)s: <<militärische 
Schläge ... als probate Mittel>>.

Dem möchte ich ein paar Sätze des in den letzten Tagen oft erwähnten, jedoch 
selten vernünftig zitierten Politiologen Samuel Huntington (aus seinem "Clash 
of Civilizations") entgegenstellen:

<<In der heraufziehenden Ära sind Kämpfe zwischen Kulturen die größte Gefahr 
für den Weltfrieden, und eine auf Kulturen basierende internationale Ordnung 
ist der sicherste Schutz vor einem Weltkrieg. Die Zukunft des Friedens und 
der Zivilisation hängt davon ab, daß die führenden Politiker und 
Intellektuellen der großen Weltkulturen einander verstehen und miteinander 
kooperieren.>> S.531

Diese klaren Worte stammen von einem gemeinhin als "erzkonservativ" 
bezeichneten US-Politologen. Dessen Analysen fallen allerdings um einiges 
gründlicher aus, als was man heute oft vernehmen muß. Und die sich auf ihn 
berufen, wenn sie die Quelle des Bösen ausmachen wollen, haben wahrscheinlich 
kaum mehr als den Titel des Buches -irgendwo- gelesen. Andernfalls würden sie 
nicht so leichtfertig (ver)urteilen.

Es ist klar, dass auf den Schock hin
zunächst alle möglichen rituellen Leiern heruntergespult werden.  Zu dem
"alien-haften" Getue gehört auch das der gutmenschlichen Gesinnung, die
andere zu "Besonnenheit" aufruft, Ursachen- statt Symptombekämpfung
fordert und überhaupt meint, alles schon immer gewusst zu haben.

Im wohlverstandenen Eigeninteresse (Frieden, Freiheit in vielerlei Hinsicht, 
usw.) und nicht primär aus einer <<gutmenschlichen Gesinnung>> oder etwa bloß 
<<"alien-hafte[m]" Getue>> fordern eine ganze Menge Leute _zu Recht_ 
Ursachenforschung und -bekämpfung statt teuer zu bezahltender Augenwischerei. 

Sich der vergangenen Kriege zu erinnern, kann dabei nicht schaden.

Eigentlich kann kaum jemand wissen, ob sich durch den Anschlag wirklich
das Gleichgewicht zwischen Freiheit und Übersichtlichkeit verändert hat.

Eine ganze Menge durchaus vernünftiger und intelligenter Leute sehen das 
allerdings anders.

Zum besseren Verständnis der Problematik verweise ich an dieser Stelle auf 
zwei Artikel:

(1.) Richard Stallman: Thousands Dead, Millions Deprived of Liberties, 
17.9.2001

<<The worst damage from many nerve injuries is secondary -- it happens in the 
hours after the initial trauma, as the body's reaction to the damage kills 
more nerve cells. Researchers are beginning to discover ways to prevent this 
secondary damage and reduce the eventual harm. 

If we are not careful, the deadly attacks on New York and Washington will 
lead to far worse secondary damage, if the U.S. Congress adopts "preventive 
measures" that take away the freedom that America stands for.>>

http://slashdot.org/article.pl?sid=01/09/17/1758231&mode=nocomment

(2.) Declan McCullagh: Bush Submits His Laws for War, 20.9.2001

<<WASHINGTON -- President Bush sent his anti-terrorism bill to Congress
late Wednesday, launching an emotional debate that will force U.S.
politicians to choose between continued freedom for Americans or
greater security.>>

http://www.wired.com/news/politics/0,1283,47006,00.html

Man ist gut beraten, jetzt jeglichen Gesetzesänderungen energisch
entgegenzutreten, 

Dem stimme ich zu.

aber zugleich sich zu überlegen, wie man eventuell einem
kommendem Bedürfnis nach mehr Übersicht 

Was hat man sich denn unter "Übersicht" vorzustellen? Und für wen? Und mit 
welchen Mitteln zu beschaffen? Unter welchen Umständen? Und unter welchen 
nicht? Und wie lange zu speichern? Und wie einzusetzen? Und an wen 
weiterzuleiten? Und ...

entgegenkommen kann, statt nur in
der Pose des "Hände weg von meiner Privatsphäre" -Aufschreis zu verharren.

_So_ undifferenziert gehen nach meinem Eindruck die allerwenigsten heran. So 
undifferenziert werden sie i.A. nur von jenen abgefertigt, denen Datenschutz 
und Privatsphäre und individuelle Freiheit ohnehin ein Dorn im Auge sind.


--
Hartmut Pilch                                      http://phm.ffii.org/

[Zur weiterführenden Lektüre zu den aktuellen politischen Ereignissen kann 
ich im übrigen die aktuelle Ausgabe der ZEIT sehr empfehlen - wohltuend 
differenzierend.]

Und wir sollten uns vielleicht -gerade auch in diesem Rahmen hier- erinnern, 
daß Richard Stallman unter "free" mehr verstand als das free in "free beer", 
nämlich "freedom", als er begann, freie Software zu entwickeln. Und "open 
source"-Überwachung/Krieg/Rache etc., wie oben vorgeschlagen oder befürchtet, 
scheinen mir damit schlechterdings unvereinbar zu sein.

MfG, Robert Gehring

PS: "Man muß vorsichtig sein beim Wünschen; sonst bekommt man am Ende noch, 
was man sich gewünscht hat."

-- 
Von/From: Dipl.-Inform. Robert Gehring
E-Mail:   rag cs.tu-berlin.de
privat:   zoroaster snafu.de
________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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