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[ox] Robert Kurz zum WTC-Terror



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TOTALITÄRE ÖKONOMIE UND PARANOIA DES TERRORS
Der Todestrieb der kapitalistischen Vernunft

   Große und symbolische Katastrophen sind in der Geschichte der
Menschheit immer wieder Anlaß zu einer Besinnung gewesen, in der die
Mächtigen der Welt ihre Hybris ablegen, Gesellschaften sich selbst
reflektieren und ihre Grenzen erkennen. Nichts dergleichen ist nach dem
Kamikaze-Angriff auf die Nervenzentren der USA in der kapitalistischen
Weltgesellschaft zu beobachten. Fast scheint es so, als hätte der
barbarische Angriff aus dem Dunkeln der Irrationalität nicht nur das World
Trade Center platt gemacht, sondern auch den letzten Rest von
Urteilsvermögen der weltdemokratischen Öffentlichkeit. Diese Gesellschaft
will sich im Spiegel des Terrors nicht selbst erkennen, sondern sie wird
unter dem Eindruck des Grauens sogar noch selbstgefälliger, bornierter und
unreflektierter als zuvor. Je gewaltsamer sie auf ihre Grenzen hingewiesen
wird, desto heftiger pocht sie auf ihre Macht und desto sturer kultiviert
sie ihre Eindimensionalität. 

   Nach dem Terrorschlag verhalten sich die Funktionseliten, die Medien
und das Fußvolk des globalen Systems von ?Marktwirtschaft und Demokratie?,
als wären sie allesamt Schauspieler und Statisten in einer
Realinszenierung des Films ?Independence Day?. Hollywood ahnte ein
apokalyptisches Ereignis voraus und verfilmte es als Darstellung von
patriotischem Kitsch und hinterwäldlerischer Moral. So hat die
Kulturindustrie die Wirklichkeit der Katastrophe banalisiert und
entwirklicht, bevor sie überhaupt wirklich wurde. Die spontane Trauer und
Fassungslosigkeit wird überlagert von den falschen Ritualen eines
programmierten Reaktionsmusters, das jedes Verständnis für den inneren
Zusammenhang von Terrorismus und herrschender Ordnung unmöglich macht. 

   Die Verhärtung des offiziellen demokratischen Bewußtseins zur wütenden
Besinnungslosigkeit wird deutlich, wenn der Laiendarsteller des
US-Präsidenten einen ?monumentalen Kampf des Guten gegen das Böse?
beschwört. Durch dieses naive Weltbild werden die eigenen inneren
Widersprüche nach außen projiziert. Es ist das elementare Schema aller
Ideologie: Statt den Komplex der Zusammenhänge aufzudecken, in die man
selbst verwickelt ist, muß eine fremde Ursache für die Ereignisse gefunden
und ein externer Feind definiert werden. Aber im Unterschied zu den
pubertären Traumwelten Hollywoods wird es in der harten Wirklichkeit der
zerbrechenden Weltgesellschaft kein happy end geben.

   In dem Film ?Independence Day? sind es sinnigerweise Außerirdische, die
?Gottes eigenes Land? angreifen und natürlich heroisch zurückgeschlagen
werden. Diesen Part des außerweltlichen, außerkapitalistischen und
außervernünftigen Aliens soll nun offenbar der militante Islamismus
übernehmen, als handle es sich um eine soeben entdeckte fremde Kultur, die
sich als finstere Bedrohung entpuppt. Auf der Suche nach dem Ursprung des
Bösen blättert man im Koran, als ließen sich dort die Motive für die sonst
unerklärlichen Taten finden. 

   Aufgestörte westliche Intellektuelle entblöden sich nicht, den
Terrorismus als Ausdruck eines ?vormodernen? Bewußtseins zu bezeichnen,
das die Epoche der Aufklärung verpasst habe und deshalb die wunderbare
westliche ?Freiheit zur Selbstbestimmung?, den freien Markt, die liberale
Ordnung und überhaupt alles Gute und Schöne der westlichen Zivilisation in
Akten des blinden Hasses ?verteufeln? müsse. Als hätte es nie eine
intellektuelle Reflexion über die ?Dialektik der Aufklärung gegeben? und
als hätte sich der liberale Begriff des Fortschritts in der katastrophalen
Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht längst blamiert, kehrt in der
Verwirrung über den neuartigen Akt des Wahnsinns die ebenso arrogante wie
ignorante bürgerliche Geschichtsphilosophie des 18. und 19. Jahrhunderts
als Gespenst zurück. Im krampfhaften Versuch, die neue Dimension des
Terrors einem fremden Wesen zuzuschreiben, fällt das
westlich-demokratische Räsonnement endgültig unter jedes intellektuelle
Niveau.

   Aber die Tatsache des inneren Zusammenhangs aller Erscheinungen in der
globalisierten Gesellschaft läßt sich so billig nicht wegdefinieren: Nach
fünfhundert Jahren blutiger Kolonial- und Imperialismusgeschichte, nach
hundert Jahren einer gescheiterten staatsbürokratischen Industrialisierung
und nachholenden Modernisierung, nach fünfzig Jahren destruktiver
Integration in den Weltmarkt und zehn Jahren unter der absurden Herrschaft
des neuen transnationalen Finanzkapitals gibt es in Wahrheit keinen
exotischen orientalischen Raum mehr, den man als fremd und äußerlich
begreifen könnte. Alles, was heute geschieht, ist unmittelbar oder
vermittelt ein Produkt des zwanghaft vereinheitlichten Weltsystems. Die
One World des Kapitals ist selber der Schoß, der den Mega-Terror gebiert.

   Es war die militante Ideologie des westlichen ökonomischen
Totalitarismus, die den ebenso militanten neo-ideologischen
Wahnvorstellungen den Weg geebnet hat. Das Ende der staatskapitalistischen
Ära und ihrer Ideen wurde zum Anlaß genommen, die kritische Theorie
überhaupt zum Schweigen zu bringen. Die Widersprüche der kapitalistischen
Logik durften nicht mehr zur Sprache kommen, sie wurden für nicht existent
und die Frage der sozialen Emanzipation jenseits des warenproduzierenden
Systems für irrelevant erklärt. Mit dem vermeintlich endgültigen Sieg des
Markt- und Konkurrenzprinzips begann die intellektuelle
Reflexionsfähigkeit der westlichen Gesellschaften zu erlöschen. Die
Menschen dieser Welt sollten identisch werden mit kapitalistischen
Funktionen, obwohl die Mehrheit bereits als ?überflüssig? abgestempelt
war. 

   Während die finanzkapitalistischen Krisenmechanismen des Shareholder
Value Milliarden von Menschen in Armut und Verzweiflung stürzten, sang die
Mehrheit der globalen Intelligentsia wie zum Hohn das Lied des
marktwirtschaftlich-demokratischen Optimismus. Sie haben jetzt die
Quittung bekommen: Wenn die kritische Vernunft verstummt, tritt an ihre
Stelle der mörderische Hass. Die objektive Unhaltbarkeit der herrschenden
Produktions- und Lebensweise macht sich dann nicht mehr auf rationale,
sondern auf irrationale Weise geltend. So folgte auf den Rückzug der
kritischen Theorie der Vormarsch des religiösen und ethno-rassistischen
Fundamentalismus. Solange sich die grundsätzliche emanzipatorische
Kapitalismuskritik nicht neu formiert, werden die Ausbrüche von sozialer
und ideologischer Paranoia zum alleinigen Gradmesser für das Ausmaß, in
dem die Widersprüche der Weltgesellschaft herangereift sind. Unter diesen
Bedingungen bedeutet die neue Qualität des Mega-Terrros in den USA, daß
die offiziell ignorierte und heruntergeredete Krise des globalisierten
kapitalistischen Systems eine neue Dimension angenommen hat. 

   Was als fremdartige Furie des Terrors erscheint, ist aber nicht nur auf
dem Nährboden der marktwirtschaftlichen One World herangewachsen, sondern
auch von den repressiven Machtapparaten der westlichen Demokratien selber
gezüchtet worden, die jetzt ihre Hände in Unschuld waschen. Es handelt
sich um Irrläufer des Kalten Krieges und der daran anschließenden
demokratischen Weltordnungskriege. Saddam Hussein wurde vom Westen gegen
das iranische Mullah-Regime aufgerüstet, das seinerseits aus der
Modernisierungs-Ruine des Schah-Regimes gekrochen war. Die Taliban wurden
von den USA gepäppelt, geschult und mit effizienten Flugabwehrraketen
ausgerüstet, weil damals alles zum Reich des ?Guten? zählte, was gegen die
Sowjetunion gerichtet war. Und der jetzt zur mythischen Figur des Bösen
aufgeblasene Wirrkopf Usama bin Laden betrat aus demselben Grund
ursprünglich als ?baby? der westlichen Geheimdienste die Weltarena der
bewaffneten Paranoia. Der ?Sicherheits?-Imperialismus der NATO, der die
vom Kapital nicht mehr reproduzierbare Menschheit gewaltsam unter
Kontrolle halten will, bedient sich auch aktuell befreundeter
Folter-Regimes und diverser Gestalten des Wahnsinns in der Türkei, in
Saudi-Arabien, Marokko, Pakistan, Kolumbien und anderswo. Aber weil diese
Welt aus den Fugen geht, verselbständigt sich ein Wechselbalg nach dem
anderen. Das ?baby? von heute ist immer schon das ?unbegreifliche Monster?
von morgen.

   Die Fürsten des Terrors, die Gotteskrieger und Clan-Milizen sind
allerdings keineswegs nur äußerlich vom Westen instrumentalisierte Kräfte,
die ihm nun zu entgleiten beginnen. Auch ihr Geisteszustand ist nicht
?mittelalterlich?, sondern postmodern. Die strukturellen Ähnlichkeiten
zwischen dem Bewußtsein der marktwirtschaftlichen ?Zivilisation? und dem
Bewußtsein der islamischen Terroristen können nicht allzu sehr erstaunen,
wenn man bedenkt, daß es sich bei der Logik des Kapitals um einen
irrationalen Selbstzweck handelt, der nichts anderes als säkularisierte
Religion darstellt. Auch der ökonomische Totalitarismus teilt die Welt in
?Gläubige? und ?Ungläubige?. Die herrschende ?Zivilisation? des Geldes
kann die Abkunft des Terrors nicht rational analysieren, weil sie sonst
sich selbst in Frage stellen müßte. So definiert der angeblich aufgeklärte
Westen den Islamismus ebenso als ?Werk des Teufels? wie dieser umgekehrt
den Westen. Die irrationalen dichotomischen Bilder von ?Gut? und ?Böse?
gleichen sich bis zur Lächerlichkeit.

   Was in den Köpfen der Chefterroristen vorgeht, ist seiner Natur nach
nicht bizarrer als die Art und Weise, wie die Chefmanager der globalen
Marktwirtschaft Mensch und Natur unter dem destruktiven Zwang des
abstrakten betriebswirtschaftlichen Kalküls wahrnehmen und zurichten. Der
religiöse Terror schlägt ebenso blind und sinnlos zu wie die ?unsichtbare
Hand? der anonymen Konkurrenz, unter deren Regiment permanent Millionen
von Kindern verhungern ? um nur ein Beispiel zu nennen, das den angesichts
der Opfer von Manhattan zelebrierten Kult der Betroffenheit in ein
seltsames Licht taucht. 

   Wenn die Medien zwischen den Zeilen eine heimliche Bewunderung für die
ungeahnten technischen und logistischen Fähigkeiten der Terroristen
erkennen lassen, wird auch in dieser Hinsicht die Verwandtschaft der
Seelen deutlich: 
Beide Seiten gehören gleichermaßen der modernen ?instrumentellen Vernunft?
an. Denn auf beide trifft zu, was in Melvilles ?Moby Dick?, dieser großen
Parabel auf die Moderne, der unheimliche Kapitän Ahab sagt: Alle meine
Mittel sind vernünftig, nur mein Zweck ist wahnsinnig. Die Ökonomie des
Terrors entspricht spiegelbildlich dem Terror der Ökonomie. So erweist
sich der Selbstmord-Attentäter als die logische Fortsetzung des einsamen
Individuums in der universellen Konkurrenz unter den Bedingungen der
Aussichtslosigkeit. Was hier zum Vorschein kommt, ist der Todestrieb des
kapitalistischen Subjekts. Daß dieser Todestrieb dem westlichen Bewußtsein
selbst inhärent ist und nicht nur durch die soziale, sondern auch durch
die geistige Trostlosigkeit des totalitären Marktsystems ausgelöst wird,
beweisen die periodischen Amokläufe von Mittelstandskindern in den Schulen
der USA und das Attentat von Oklahoma, das bekanntlich ein authentisches
Produkt des inneren Wahnsinns der USA war. Der auf ökonomische Funktionen
reduzierte Mensch wird ebenso verrückt wie der Mensch, den der
Verwertungsprozeß als ?überflüssige Existenz? ausspuckt. Die
instrumentelle Vernunft entläßt ihre Kinder. 

   Weil der irrationale Kern seiner Ideologie dem islamischen
Fundamentalismus gleicht wie ein Ei dem anderen, kann der Kapitalismus nur
noch zum Kreuzzug aufrufen, zum ?heiligen Krieg? der westlichen
?Zivilisation?. Allein solche Opfer, die Star-Kolumnistinnen der USA,
Broker in Manhattan und Bürger der westlichen Freiheit sind, gelten als
wirkliche Opfer und werden in Gedenkgottesdiensten beweint. Der Tod von
irakischen Zivilisten und serbischen Kinder dagegen, die von Bomben aus
zehn Kilometer Höhe zerfetzt wurden, weil die kostbare Haut der US-Piloten
nicht geritzt werden durfte, erschienen nicht als Menschenopfer, sondern
als ?Kollateralschaden?. Sogar vor den Toten macht die globale Apartheid
nicht halt. Der westliche Begriff der Menschenrechte enthält als stumme
Voraussetzung die Verkäuflichkeit der Person und die Zahlungsfähigkeit.
Wer diese Kriterien nicht erfüllen kann, ist eigentlich kein Mensch mehr,
sondern ein Stück Biomasse. So teilt der westliche Fundamentalismus die
Welt auf in das angeblich zivilisierte ?Reich? einerseits und die ?neuen
Barbaren? andererseits, wie der französische Publizist Jean Rufin schon
Anfang der 90er Jahre feststellte.

   Das Imperium wankt. Innerhalb weniger Monate hat sich der Mythos der
ökonomischen Unverwundbarkeit durch den Zusammenbruch der ?New Economy?
blamiert. Jetzt ist der Mythos der militärischen Unverwundbarkeit zusammen
mit dem Pentagon in Flammen aufgegangen. Das utilitaristische Denken der
Funktionseliten versucht sogar aus dieser Katastrophe noch Nutzen zu
schlagen. Denn mitten im Absturz der Finanzmärkte hat man plötzlich den
Stoff für eine Dolchstoßlegende: Nicht die herrschende Ordnung ist
obsolet, wenn weitere Finanzblasen platzen und womöglich die
Weltmarktwirtschaft kollabiert, sondern der ?externe Schock? des
Terrorschlags soll dann die Ursache gewesen sein ? so Wim Duisenberg,
Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB). Das Systemversagen wird in
die externe Bosheit der fremdartigen ?Ungläubigen? umdefiniert, aber
dadurch nicht ungeschehen gemacht. 

   Gleichzeitig rollt eine Welle der ebenso hysterischen wie schmalzigen
Kriegspropaganda, als schrieben wir den August 1914. Überall melden sich
zuhauf Freiwillige, mitten im Crash steigen die Aktien der
Rüstungsindustrie, fast schon macht sich Hoffnung auf eine
Kreuzzugs-Konjunktur breit. Aber klandestine Gruppen von Männern, die mit
Messern und Teppichschneidern bewaffnet sind, fordern nicht die
Massenmobilisierung und Bündelung aller gesellschaftlichen Kräfte heraus.
Der Terror stellt kein äußeres Gegenimperium auf derselben Ebene von
Staatlichkeit und Kriegswirtschaft dar. Er ist die innere Nemesis des
globalisierten Kapitals selbst. Deshalb kann er keinen neuen Rüstungsboom
hervorrufen. Auch militärisch wird der Kreuzzug ins Leere gehen. Ob
mögliche ?Vergeltungsschläge? der USA wie gehabt aus zehn Kilometern Höhe
irgendeine Zivilbevölkerung dezimieren oder ob Bodentruppen unter hohen
Verlusten durch entlegene Bergregionen irren, wie es die Armee der
Sowjetunion in Afghanistan erfahren mußte: Aus dem Pseudo-Krieg gegen die
von ihm selbst hervorgebrachten Dämonen der Weltkrise wird der
Kapitalismus keine Nahrung für sein Fortleben mehr saugen können.   

   Es sind auch Stimmen der Vernunft zu hören, von Feuerwehrleuten in New
York bis zu einzelnen Journalisten und Politikern, die wenigstens sagen,
daß ein Krieg völlig sinnlos wäre. Aber diese Vernunft droht hilflos zu
bleiben und von der Welle der Irrationalität weggeschwemmt zu werden, wenn
sie nicht zu einer Analyse der Krisenverhältnisse findet. Es gibt nur
einen Weg, dem Terror wirklich den Nährboden zu entziehen: die
emanzipatorische Kritik am globalen Totalitarismus der Ökonomie. 

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Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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