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[ox] P.M. zum WTC Terror



.

Sie versuchen es noch einmal

Wenn einmal der Horror verdaut ist, dann müssen wir uns sagen: ja, es ist
so, diese Dinge können geschehen. Wir leben in einer
Hochrisikozivilisation.
Die nur prekär gebändigten Technologien und die Wut der Unterdrückten
können
jederzeit und ungezielt explodieren. Diese Welt ist eine technologische und
soziale Bombe, in zweihundert Jahren  gebastelt vom globalen Kapitalismus.
Sie muss entschärft werden.

Wir haben schon Seveso, Tschernobyl, Flugzeugabstürze, Oklahoma City usw.
gehabt. Wir haben noch einen Unfall oder Angriff mit biologischen Waffen,
eine Atombombe in einer Grossstadt, den ultimativen Hackerangriff aufs
Netz,
vor uns. Wir sind im Prinzip alle schon markierte Opfer, schon tot. 

Sie haben inzwischen Vietnam, Ruanda, Shatila, unzählige Kriege und
Massaker
und dazu noch die schleichende Hungerkatastrophe, der jeden Tag 35 000
Kinder zum Opfer fallen, gehabt. Nur schon seit dem Ende des Kalten Krieges
sind bei ihnen 40 bis 50 Millionen Menschen in 200 Kriegen umgekommen. Sie
sind noch töter als wir. Auch mit diesem Horror haben sie und wir gelebt. 

Das World Trade Center ist schon dutzende von Malen in Filmen, Romanen und
auch in unseren Wutphantasien gegen die USA explodiert, bevor es nun
wirklich geschehen ist. Manhattan war immer schon das Symbol des Imperiums
und die Bühne seines Untergangs. ("Ich rauchte meine letzte Zigarette und
langsam zog die eingestürzte Manhattan-Bridge an mir vorbei, im
freundlichen
Sonnenschein jenes warmen Septembernachmittags." So begann 1980 mal mein
erster Roman.) Solange die Wut auf Symbole beschränkt war, konnte das
Weltkapital gut schlafen. Es hat keine Angst vor Katastrophen, Kriegen, ja
nicht einmal vor Crashes. Schliesslich ist nur etwas Bürofläche verloren
gegangen, und die Arbeitskräfte sind bei zunehmender Arbeitslosigkeit
leicht
zu ersetzen. Die Gebäude sind versichert, amortisiert (1973-2001), die
Bauindustrie schon in den Startpflöcken. Der Ökonom Krugman schätzt, dass
nur etwa 0.1 des US-Bruttosozialprodukts verloren gingen ? ein Kratzer.
Auch
die Kriegskredite, die Bush bewilligt bekommen hat ? 40 Milliarden $ - sind
ein Klacks, nicht einmal eine wirksame Konjunkturspritze. Es standen da
zwei
Penisse (Menhire, Obelisken, Siegessäulen) in Zentrum des Imperiums, zwei
Einladungen, doch bitte Symbole eines grössenwahnsinnigen, patriarchalen,
lebensfeindlichen Systems anzugreifen. Und nicht es selbst. Symbole sind
nichts, Gegensymbole auch nichts.

Angesichts der Macht und Arroganz des vom US-Kapital angeführten
Weltsystems
und unserer Ohnmacht ist das Setzen von Zeichen eine grosse Versuchung.
Noch
grösser ist die Versuchung bei jenen, denen nicht einmal einige Brosamen
(Sozialstaat) zufallen. Es gibt im planetarischen Süden einige hundert
Millionen junge Frauen und Männer, die realisieren, dass ihr Leben keine
Perspektive haben wird. Sie sind blockiert durch die Platzzuweisungen des
Weltkapitals, durch die von diesem subventionierten autoritären Regimes,
durch die von diesen konservierten patriarchalen Strukturen. Sie sind
beherrscht von alten Männer, die Angst haben, und die alles Interesse daran
haben, diese Wut der Enttäuschten auf andere Ebenen ? religiöse,
symbolische, militärische ? zu leiten. Weil sie den Kampf gegen ihre
Machtcliquen nicht führen können, begehen die Jungen Selbstmord. (Das
geschieht auch bei uns. Und der Tod ist für jede/n der einzige, auch wenn
tausende sterben.) Bush hat unrecht, wenn er meint, dass nun ein Krieg des
Guten gegen das Böse begonnen habe. Nein, es ist viel schlimmer: der Krieg
der Guten gegen die Guten geht weiter. Im Namen absurder religiöser
Symbolsysteme werden blutige Schaukämpfe abgehalten, die zwar viele Gute in
dem Himmel bringen, aber für alle jene, die nur mal anständig leben wollen,
verlängertes Elend bedeuten. Es geht weder um den Islam noch um die
westliche Zivilisation. Beide haben sich schon lange selbst desavouiert.
Die
angekündigten Vergeltungsmassnahmen Bushs können seine "Feinde" nicht
erschrecken. Sie werden benötigt, um das Spiel weiter spielen zu können.
Die
wirklich Bösen sind ganz anderswo ? und sie sind gemeint.

Was den Machteliten im Westen und ihren frustrierten Statthaltern im Süden
und Osten wirklich Sorgen bereitet, ist etwas ganz anderes. Seit Chiapas,
Seattle, Davos, Genua (das sind nur die weniger wichtigen, "symbolischen"
Ereignisse) gibt es eine schleichende Absetzbewegung von den Verlockungen
der kapitalistischen Zivilisation, und das im Süden wie im Norden bei
Jungen
und Alten. Das Credo der freien Marktwirtschaft wird nicht mehr geglaubt,
man redet wieder von Mais, Kartoffeln, vielleicht auch Hirsebier, und wie
man sie am besten mit möglichst wenig Arbeit und viel gemeinsamen Spass für
immer und ewig anbauen könnte. Dagegen ist das letzte glamouröse
Spielangebot, die elektronische Kommunikation, als dumpfer Ersatz
abgefallen. Die darauf basierende Konjunktur ist zusammengebrochen, die
Japaner wollen nicht kaufen, die Deutschen nicht arbeiten. Die Hälfte will
überhaupt nicht mitspielen.  Lustlosigkeit, Zerfaserung der Strategien,
dazu
eine Witzfigur im Weissen Haus. Es musste irgendetwas geschehen. (Jenseits
aller Verschwörungstheorien könnte man sagen, dass das seit langem
angekündigte Attentat absichtlich nicht verhindert wurde. Schon etwas
merkwürdig, dass vier Flugzeuge so lange in der Luft sein konnten, ohne
dass
eines der Abwehrsysteme reagierte.) Es brauchte einen Befreiungsschlag,
eine
Mobilisierung um ihrer selbst willen, eine Fokussierung gegen das sich
vorfressende Geschwür der Absetzbewegung. Das Attentat wird zu einem
Kriegsakt (mit Zivilflugzeugen gegen die Zivilisation?) hochstilisiert,
damit das Machtzentrum die ohnehin knappen rechtlichen Garantien (Genua
reichte noch nicht) abschütteln und gegen jeden und jedes vorgehen kann,
der
nicht "für uns" ist. Und unsere guten alten rezyklierten Trotzkisten,
Spontis und Sozialisten von Jospin bis Schröder stehen schon stramm wie
Gouverneure von US-Bundesstaaten.

Was wir heute wieder einmal erleben, ist die Strategie der Spannung.
Langweilig, lebensgefährlich, reaktionär. (Wer erinnert sich noch an die
70er und 80er Jahre?) Die Trauer und der Horror, den wir angesichts des
sinnlosen Sterbens unserer Mitproletarierinnen in den Bürotürmen (Geht
nicht
mehr zu solchen Orten hin! Brecht sie langsam und kontrolliert ab!)
empfinden, sollen umgemünzt werden in bedingungslosen Gehorsam gegenüber
unseren Rächern und Rettern. Doch es gibt keine Rettung, und Rache ist ein
Spiel ohne Ende (wie stand es denn mit der sogenannten Abschreckung durch
die Todessstrafe? ? Die Attentäter haben sich schon gerichtet, bevor sie
losflugen. Sie haben Bushs texanische Logik schon vorweggenommen. Sie waren
der makabre Witz auf seine Exekutionen.) Der Versuchung von Gegensymbolik
müssen wir widerstehen. Schon einen Tag nach dem Attentat sah man in der
Wallstreet das Schild "Business as usual". Natürlich ist ihr Business nicht
unser Business, aber warum sollen wir nicht mit unserem Business ?
geduldiges Stricken an nachhaltigen Lebensweisen, Weiterführen der
Diskussion über globale Alternativen ? weiterfahren? Es wäre das beste
Gegengift gegen jene Welle verzweifelter Begeisterung des "endlich einmal
Losschlagens", auf der nun Bush und seine Leutnants reiten wollen. Und
vergessen wir endlich die Symbole ? es ist Zeit für das natürlich weit
weniger grandiose wahre Ding.

P.M.16.9.2001  

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Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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