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[ox] Re: Was ist Medienfeudalismus?



Abbe Mowshowitz: Virtual Feudalism, in Peter J. Denning, Robert M. Metcalfe
(eds.): Beyond Calculation. The next fifty years of computing, Copernicus,
1997

Mowshowitz stellt -u.a.- fest:

"The nation-state will decline in importance, sovereign power will
come to be exercised by private organizations, the welfare and
security of the individual will depend on contracts with these
organizations, and personal relationships will become ever more
evanescent."

Totgesagte leben bekanntlich laenger.

Es waere etwa denkbar, dass Nationalstaaten oder Supranationalstaaten a la
EU eine Art Haertetest durchlaufen und daraus erneut gestaerkt
hervorgehen.  Schliesslich brauchen auch jene grossen Organisationen den
Staat zur Durchsetzung zahlreicher Belange.

"Virtual feudalism is an inevitable consequence of changes in the
organization of economic activities stimulated by the deployment of computer
communication technology. Applications of information technology in factory
and office make production less dependent on human workers. Moreover,
location is transformed into just another resource, like raw materials and
labor, to be weighed in the balance of cost vs. effectiveniss."

Und seine conclusio lautet dann:

"Virtual organization makes it possible to organize human activity in new
ways. It is the children of three major innovations: information commodities,
standards for social interaction, and abstract forms of wealth. The new
paradigm carries profound social changes in its wake. Divergence of economic
from political reality [hier scheint mir der Schlüsselgedanke zu liegen] in
the industrialized world is leading to decline of nation-states. In the long
term, the social changes will crystalize in virtual feudalism, a system of
political authority centered in private, virtual organizations and based on
the management of abstract forms of wealth. [...]"

Die Metapher vom "Feudalismus" trägt nicht beliebig und verweist auf gewisse
politische und ökonomische (rechtliche, soziale etc.) Verhältnisse [eben
_feudalistische_ und nicht _kapitalistische_ in dem Sinne, wie in der
ökonomischen Literatur verwandt].
"political authority centered in private [...] organizations" paßt ganz gut,
scheint es mir.

Und derartige "organizations" bedienen sich durchaus auch des Urheberrechts,
um ihre "abstract forms of wealth" abzusichern. Der politische Prozeß, in dem
die Urheberrechtsgesetze usw. entsprechend den je eigenen Interessen geformt
werden, läßt sich -am Beispiel der US-Copyright-Gesetzgebung- sehr schön
nachlesen bei: Jessica Litman: Digital Copyright. Prometheus Books, Amherst,
NY, 2001.

Kurz zusammengefasst:  der Informationelle/Virtuelle Feudalismus entsteht
unabhaengig von Rechtschutzsystemen aber bedient sich ihrer.

Dass Rechtsschutzsysteme so ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit ruecken,
hat auch damit zu tun, dass sie in der digitalen Informationsoekonomie
vielfach extreme Formen annehmen:  entweder verschaffen sie ihrem Inhaber
eine erdrueckend starke oder eine unerstrebenswert schwache Stellung. Dies
zeigt sich insbesondere bei Datenbanken.  Das Urheberrecht an Programmen
ist hingegen ein seltener Gluecksfall.

Egal welchen Rechtsschutz der Datenbankinhaber erhaelt:  zahlreiche
Datenbanken koennen nicht als normale Marktgueter sondern nur als
Machtmittel zur Staerkung von Monopolstellungen verwertet werden. Sie
bleiben zunaechst in einigen wenigen Haenden, die viel dafuer zahlen, und
entgleiten dann allmaehlich der Kontrolle und diffundieren ueber allen
moeglichen Umwege in die Oeffentlichkeit.

In Kapitel 2, "The art of making copyright laws", liest sich das dann
z.B. so:

"In 1998, copyright lobbyists persuaded Congress to enact a
twenty-six-thousand-word, fifty-page coda to the copyright statute
setting forth a new and convoluted series of rights and exceptions for
digital copyright."

Hier geht es eigentlich nicht um das Urheberrecht sondern um die
Foerderung von verwertungsgerecht entwerteten Informationstraegern durch
allerlei Strafsanktionen.  Ob auf diesen Waren Urheberrechte oder
Patentrechte oder Datenbankrechte oder gar keine Rechte liegen ist egal:
in jedem Falle ist die Beihilfe zur Aufwertung der entwerteten Ware
strafbar, weil sie die muehsam ermoeglichte Verwertung vereitelt.

Zu den Folgen:

Der erste Satz im letzten Absatz des Buches von Jessica Litman lautet
wie folgt: "People don't obey laws that they don't believe in." Er
verweist auf ein grundlegendes Problem des ganzen Prozesses.

Abbe Mowshowitz' letzter Satz lautet: "But at the same time, these
social changes may extend and refine the accomplishments of economic
individualism and carry the values of democracy to all human beings."
Er verweist auf eine Chance.

Urheberrechtsregelungen spielen sicher eine wichtige Rolle in dem Prozeß der
-nicht notwendig erfolgreichen (s.o., die Hinweise bei Mowshowitz und
Litman)- Entwicklung eines "virtual feudalism". Welche Rolle exakt, ist m.E.
noch nicht genau bestimmbar.

Danke fuer die interessanten Hinweise.

Klar duerfte sein, dass

- bei Informationsguetern tendenziell an die Stelle des Marktes eine
  aus polaren Zweierbeziehungen beruhende feudalistische Pyramide tritt
- ein Beduerfnis danach besteht, den informellen
  Interessensicherungsmechanismen weitere auf Rechtsschutz basierende
  hinzuzufuegen
- Rechtsschutz nicht die Ursache des Feudalismus ist und je nach
  Ausgestaltung ihn verschaerfen oder vielleicht auch abschwaechen kann
- Rechtsschutz im digitalen Bereich haeufig nur unter aeusserst
  unausgewogenen Bedingungen zu haben ist
- selbst die idiotischsten Formen des Rechtsschutzes, wie Swpat, eine
  maechtige Lobby finden.  Je idiotischer desto groesser der Reiz.
- freie Software eines der Fenster darstellt, welche man bisher oeffnen,
  konnte, wenn die Luft zu stickig wurde
- die Nationalstaaten wenig getan haben, um ihre ureigene Rolle
  des Foerderers von Infrastrukturen wahrzunehmen und oft sogar in
  den Sog informations-feudalistischer Kraefte geraten
- die Nationalstaaten einem erneuten Haertetest ausgesetzt sind, den
  sie bisher nicht bestanden haben

Gruss

--
Hartmut Pilch                                      http://phm.ffii.org/
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