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Re(2): [ox] Re: Was ist Medienfeudalismus?



Am Sonntag, 26. August 2001 22:06 schrieben Sie:
Es waere etwa denkbar, dass Nationalstaaten oder Supranationalstaaten a la
EU eine Art Haertetest durchlaufen und daraus erneut gestaerkt
hervorgehen.  Schliesslich brauchen auch jene grossen Organisationen den
Staat zur Durchsetzung zahlreicher Belange.

Zunehmend weniger.

Wenn sich Unternehmen(skonglomerate) in der Lage sehen, vermittels 
Technologien Kontrolle (DVD, DRMS etc.) auszuüben, vermittels Datensammlungen 
Verhalten vorherzusagen und zu steuern (Registrierungsinformationen für 
Software usw. vor der "Freischaltung") und vermittels Medien, Meinungen zu 
bilden, und das alles nicht nur bei ein paar Personen, sondern bei 
zig-Millionen, unabhängig von nationalstaatlichen Grenzen (man denke an
AOL/TimeWarner und andere Medienkonglomerate), dann kann sich schon der 
Eindruck einstellen, daß Macht in der Größenordnung eines Staates (oder 
größer) ausgeübt wird - ohne Staat jedoch.

Der Staat wird dann eigentlich nur noch benötigt, um die notwendigen Gesetze 
für die Wirksamkeit der Technologien und die Durchsetzung von Vorbeuge- und 
Strafmaßnahmen gegen die "Vermeidung" der Technologien zu gewährleisten. Aber 
bald auch letzteres nicht mehr, wenn z.B. der UCITA in den USA zur 
Etablierung von Software mit integrierten "self-help"-Mechanismen führt. Bei 
Mißfallen des Softwareherstellers darüber, was mit der Software gemacht wird, 
wird diese dann einfach "per Fernbedienung" abgeschaltet. Ohne, daß der Staat 
dazu noch einen Beitrag leisten muß.

Kurz zusammengefasst:  der Informationelle/Virtuelle Feudalismus entsteht
unabhaengig von Rechtschutzsystemen aber bedient sich ihrer.

Eine Unabhängigkeit sehe ich da nicht. Da es im Kern immer um die Kontrolle 
von Informationen und ihrer Flüssen geht, kommt den Rechtsschutzsystemen eine 
Schlüsselrolle zu. Ohne Rechtsschutzsystem, das zeigt z.B. die Geschichte des 
Buchverlags- und Buchhandelswesens mit seiner jahrhudertelang wirksamen 
Nachdruckerkultur, verbreiten sich die Informationen ungehindert dorthin, wo 
Nachfrage danach besteht. Das Preis/Qualitätsverhältnis paßt sich der 
Nachfrage maximal an. Wegen der Qualitätsdifferenzierung ist quasi jeder 
potentielle Kunde in der Lage, sich die Informationen zu verschaffen. 
Allerdings kann auch jeder zum potentiellen Anbieter werden. Man kann 
niemanden vom Markt ausschließen. In der Konsequenz wird einer Monopolbildung 
eher vorgebeugt.

Mit Rechtsschutzsystem kann diese Verbreitung gesteuert werden (z.B. über den 
Preis der Ware Information, als Preisdifferenzierung) und ggf. auch 
unterbunden werden, da alternative Informationsangebote (mit abgestufter 
Qualität) verboten werden können (so z.B. der Nachdruck von Büchern im 
19.Jhd. im Deutschen Reich). Der Zugang zum Markt für potentielle 
Konkurrenten kann -über Lizenzierung bzw. Nicht-Lizenzierung- gesteuert 
werden.

Das Urheberrecht an Programmen
ist hingegen ein seltener Gluecksfall.

In Kombination mit dem Binärvertrieb von proprietärer, urheberrechtlich 
geschützter Software, führt aber z.B. das Verbot des Reverse Engineering und 
der "Reparatur" eventueller Schwachstellen dazu, daß man mit unsicherer, 
unzuverlässiger Software zu leben hat. (Falls es keine vergleichbaren 
Alternativen im Bereich freie/Open Source Software gibt.)

Das Urheberrecht an Software ist eine zweischneidige Angelegenheit, weil es 
als Recht des geistigen Eigentums (übrigens ein Begriff, den schon Hegel 
verwandt hat, der mithin relativ alt ist) im Gegensatz zum dinglichen 
Eigentumsrecht als eine Sammlung von Rechten ausgeprägt ist. Ein Teil der 
Kontrolle verbleibt also -potentiell, bei den droits morales tatsächlich- 
immer beim Urheber bzw. der Person, der die Rechte zugeordnet wurden. Ich 
bleibe "Abhängiger".

Beim Autokauf z.B. erlange ich die volle Kontrolle (abgesehen von der 
Software in den Steuerungen), somit auch "Unabhängigkeit".

Und wie es mit Kontrollmechanismen in Abhängigkeitsverhältnissen immer ist: 
Die Art und Weise ihres Gebrauchs entscheidet letztlich, ob man von 
Glücksfall oder Unglücksfall sprechen kann. Und diese Bewertung hängt 
ihrerseits wieder von der Perspektive des Urteilenden und seinen Erfahrungen 
ab.

"In 1998, copyright lobbyists persuaded Congress to enact a
twenty-six-thousand-word, fifty-page coda to the copyright statute
setting forth a new and convoluted series of rights and exceptions for
digital copyright."

Hier geht es eigentlich nicht um das Urheberrecht sondern um die
Foerderung von verwertungsgerecht entwerteten Informationstraegern durch
allerlei Strafsanktionen.  Ob auf diesen Waren Urheberrechte oder
Patentrechte oder Datenbankrechte oder gar keine Rechte liegen ist egal:
in jedem Falle ist die Beihilfe zur Aufwertung der entwerteten Ware
strafbar, weil sie die muehsam ermoeglichte Verwertung vereitelt.

Das ist zwar richtig; aber es ging eigentlich um die Akteure: _Wer_ 
entscheidet darüber, welche Gesetze (Regeln) in der Gesellschaft gelten 
sollen?

Wenn private Organisationen über den Prozeß der Gesetzgebung verfügen können 
(wie es Jessica Litman darstellt), dann wandert die "Souveränität" faktisch 
zu diesen privaten Organisationen und gleichzeitig weg von Staat bzw. den 
Bürgern, die ja oft als Souverän definiert sind. Genau das ist ein 
Charakteristikum für Feudalismus, wenn die faktische Souveränität 
-aufgespalten- nicht bei dem liegt, was wir als Staat bezeichnen. "L'etat, 
c'est moi!" könnte zu neuen Ehren gelangen.

Klar duerfte sein, dass

- bei Informationsguetern tendenziell an die Stelle des Marktes eine
  aus polaren Zweierbeziehungen beruhende feudalistische Pyramide tritt

Eben nicht nur an die Stelle des Marktes und nicht nur bei 
Informationsgütern. Auch andere soziale Funktionen, die bisher vom Staat 
definiert, verwaltet und gewährleistet wurden, gehen an private 
Organisationen über.

Man denke z.B. an die Frage des Namens-/Markenrechts. Im Internet übernimmt 
die Schiedsgerichtsbarkeit der ICANN die Rolle der Justiz und die ICANN 
selbst die der Exekutive.

Oder man denke an die zunehmende Privatisierung im Bildungssektor. Wer 
entscheidet da über die "Bildungsstandards"? Nicht mehr der Staat in der 
Regel. Es gibt viele weitere Beispiele.

- ein Beduerfnis danach besteht, den informellen
  Interessensicherungsmechanismen weitere auf Rechtsschutz basierende
  hinzuzufuegen

... und technische "Interessensicherungsmechanismen".

- Rechtsschutz nicht die Ursache des Feudalismus ist und je nach
  Ausgestaltung ihn verschaerfen oder vielleicht auch abschwaechen kann

Wenn aber die Ausgestaltung ihrerseits bereits in privater Hand liegt (und in 
der Geschichte des Urheberrechts lag sie das zum überwiegenden Teil schon 
immer, jedenfalls was die materiellen Rechte anging), dann wird sich die 
Waage zugunsten der privaten Interessen neigen. Zu einer Abschwächung wird es 
daher m.E. wenig Ambitionen geben.

- Rechtsschutz im digitalen Bereich haeufig nur unter aeusserst
  unausgewogenen Bedingungen zu haben ist

Was sich aus dem vorangehend Gesagten ergibt.

- selbst die idiotischsten Formen des Rechtsschutzes, wie Swpat, eine
  maechtige Lobby finden.  Je idiotischer desto groesser der Reiz.

Das hat mit Idiotie nichts, aber auch gar nichts zu tun. Die rationalen 
wirtschaftlichen Interessen bilden die Ursache, nicht etwa die Idiotie der 
Interessenten.

Aus einer anderen, gesamtgesellschaftlichen Warte mag das unerfreulich sein, 
aber das ändert nichts an den Ursachen.

Allenfalls läßt sich von ökonomischer Kurzsichtigkeit sprechen, aber auch die 
ist nicht irrational: Kurzfristige Gewinnen verlocken mehr als Langfristige, 
wenn der Shareholder-Value davon abhängt.

- freie Software eines der Fenster darstellt, welche man bisher oeffnen,
  konnte, wenn die Luft zu stickig wurde
- die Nationalstaaten wenig getan haben, um ihre ureigene Rolle
  des Foerderers von Infrastrukturen wahrzunehmen und oft sogar in
  den Sog informations-feudalistischer Kraefte geraten
- die Nationalstaaten einem erneuten Haertetest ausgesetzt sind, den
  sie bisher nicht bestanden haben

Könnte man so sehen.

Daß allerdings Staaten die Aufgabe haben, Infrastruktur zu fördern, ist eine 
relativ junge Auffassung, die eigentlich erst mit der Herausbildung der 
Nationalstaaten -und damit der Aufgabe der Herstellung einer "Nation" mit 
relativ homogenem Charakter- entstand und zu ihrer Blüte mit der 
Industrialisierung kam. Der Wirkungsbereich dieser Auffassung war von Land zu 
Land sehr unterschiedlich groß und hing eigentlich davon ab, welcher 
Stellenwert der Praxis einer "Nationalökonomie" (gerade auch ggü. anderen 
Nationen als Konkurrenten) zugemessen wurde.

Wenn statt Nationalökonomie zunehmend privatwirtschaftliche "Empires" zum 
Leitbild -und zur Praxis- werden, dann werden diese die Aufgabe übernehmen, 
Infrastruktur -gemäß ihren Interessen- herzustellen. Man denke an 
Hardware-Vernetzung und Software-Vernetzung mit je proprietären Standards. 
(Ein klassisches historisches Beispiel für solch ein privates Empire war die 
"East India Company".)

Gruß,
Robert

-- 
Von/From: Dipl.-Inform. Robert Gehring
E-Mail:   rag cs.tu-berlin.de
privat:   zoroaster snafu.de
________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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