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Re: [ox] zur Zukunft der Einzelinteressen



Hallo Annette und Interessierte,

 Es gibt in Freien Kooperationen keine ein für allemal festgelegten Regeln -
 sondern sie stehen immer zur Debatte. Das heißt dann: es können sich keine
 Forderungen aus angeblich "allgemeinen Interessen" verselbständigen, 
sondern
 alles allgemein für alle zur Geltung Gebrachte entsteht aus einem
 Aushandelungsprozeß "von unten" her. Was nicht wirklich aus der 
Aushandelung
 der besonderen Interessen folgt, ist nicht wirklich ein
 allgemein-kollektives oder allgemein-menschliches Interesse.

Abgesehen von der Tragfähigkeit der Vorstellung einer Gesellschaft, die (nur) 
auf "Freier Kooperation" beruht, würde ich das teilen. Also es darf keine 
unhinterfragbaren verselbständigten "Allgemeininteressen" geben, die als 
Legitimation dienen, sondern allgemeine Interessen müssen in einem "von 
unten" ausgehenden Prozess gesellschaftlich artikuliert werden als 
diejenigen, deren Realisierung die weitestgehende Realisierung der 
individuellen Interessen aller ermöglicht und insb. die Durchsetzung von 
Herrschaftsinteressen einiger zu Lasten anderer verhindert. Allerdings würde 
ich davon ausgehen, dass diese Prozesse der Verständigung in der Regel nicht 
so laufen können und müssen, dass sich dann alle einig sind, sondern dass es 
ausreicht, wenn es hinreichend breit getragene Konsense gibt, die dann 
umgesetzt werden - womit wir wieder bei den Problemen der gesellschaftlichen 
Entscheidung und Steuerung wären, die ich immer wieder angesprochen habe.

Ansonsten, wenn jedes einzelne individuell artikulierte Interesse sozusagen 
ein Vetorecht hätte, würde aus dem Satz

 Was
 individuellen Interessen unvereinbar entgegensteht - ist kein wirkliches
 allgemeines Interesse.

nur folgen, dass es eben gar keine allgemeinen Interessen gibt oder nur sehr 
wenige und abstrakt formulierte, alle praktisch relevanten Probleme und 
Konflikte aber damit in keiner Weise gelöst wären.

 >   »Menschen werden auch dann noch in vielfältiger Weise unter
 >   unterschiedlichen Bedingungen leben und unterschiedliche
 >   Lebensgeschichten haben und daraus unterschiedliche
 >   Interessen artikulieren und diese durchzusetzen versuchen,
 >   in Auseinandersetzung mit anderen. Es kommt darauf an, dies
 >   nicht wegzubehaupten, sondern davon auszugehen und das in
 >   möglichst rationalen und demokratischen Formen auszutragen.«
 
 Ja, ein lebendes Allgemeines braucht diese Vielfalt ja auch!
 Für die Aushandelung der verschiedenen Interessen sollten meiner Meinung
 nach auch hier die Bestimmungen aus Christophs Konzept beachtet werden:
 1. es gibt keine allgemeinen Regeln, wie sie das aushandeln (die können wir
 auch auch weder vorab festlegen, noch dann ein für allemal festlegen).

Das ist sehr abstrakt. Jedenfalls wäre eine Vorstellung einer Gesellschaft, 
die nicht auf ganz vielen zunächst fraglos vorausgesetzten und sozusagen 
schon "mit der Muttermilch eingesogenen" Regeln beruht, m.E. absurd. Dabei 
geht es nicht nur um die etwa in Gesetzen und Verträgen formalisierten 
Regelungen, sondern auch um alltägliche Verhaltensmuster, Einstellungen, 
Bedeutungszuweisungen etc. Ungeachtet auch meiner persönlichen Neigung, 
Regeln, die ich nicht einsehe, in Frage zu stellen, sollte man sich klar 
sein, dass wir ständig sozusagen in jeder Minute des Umgangs mit anderen 
Menschen eine Vielzahl von Regeln befolgen (die sich durchaus den 
verschiedenen nationalen Gesellschaften, aber auch z.T. zwischen 
verschiedenen sozialen Gruppen und Milieus innerhalb einer Gesellschaft 
unterscheiden), die sich historisch zumeist auf der Basis sich 
verändernderder materieller Lebensbedingungen, aber aufbauend auf allen 
Traditionen, weitgehend ungesteuert verändern und dann auch Änderungen 
formalisierter Regeln nach sich ziehen. Institutionen, Habitus, Mentalitäten 
etc. sind keine Erfindungen von SoziologInnen oder einfach willkürlich zu 
ändern, sondern soziale Realitäten, die sich die Einzelnen nicht aussuchen 
können, sondern die sozusagen sozial vererbt werden und die sich zumeist 
gesellschaftlich auch nur sehr langsam, im Verlaufe von Generationen, 
verändern. 

Und in Bezug auf formalisierte Regeln, konkret v.a. Gesetze, kann man auch 
nicht alles ständig in Frage stellen, sondern kann es immer nur darum gehen 
kann, bestimmte sich als problematisch erweisende Regeln zu kritisieren und 
zu ändern. Wobei dann neue Regeln rauskommen, die später andere vielleicht 
auch wieder ändern werden und es dabei in der Regel auch notwendig sein 
dürfte, auch für das Ändern der Regeln wiederum Regeln zu beachten, die 
selbstverändlich auch wiederum der Veränderung zugänglich sein müssen.

 2. es muß strukturell gesichert sein, daß niemand über andere verfügen 
kann,
 weder individuell, noch auf Gruppen bezogen. Wenn eine Gruppe das Bedürfnis
 hat, einen Atomreaktor zu bauen, würde sie über die Umweltsicherheit der
 anderen verfügen und das darf sie nicht dürfen.

Wenn aber diese Gruppe der Auffassung ist, Atomkraft würde die Sicherheit 
nicht wesentlich beeinträchtigen (wenn eine Gruppe z.B. die Fähigkeit hätte, 
einen zu bauen und zu betreiben und aufgrund irgendwelcher Bedingungen aus 
ihrer Sicht keine akzeptablen anderen Möglichkeiten der Energiegewinnung, 
würde sie wahrscheinlich zu dieser Auffassung neigen)? Mag uns allen hier 
absurd erscheinen, aber das kann ja nicht der Maßstab sein, der sollten doch 
die besonderen Interessen aller sein, also ggf. auch dieser Gruppe. Also was 
dann? Um ein etwas realistischeres Beispiel zu nehmen: Aufgrund 
Treibhauseffekt etc. könnte man ähnliches Diktum wie hier gegen AKW 
prinzipiell auch gegen jegliche Art von fossiler Energieerzeugung 
formulieren. Dann kämen wir aber fast alle in große Schwierigkeiten, bzw. das 
geht nicht von heute auf morgen. 

Konkret wird es unumgänglich sein, gewisse Umweltinteressen zu 
beeinträchtigen auf absehbare Zeit, um den gesellschaftlichen Lebensprozess 
am Laufen zu halten. Fragt sich dann welche und in welchem Umfang und welche 
Prioritäten werden gesetzt etc. Abwägungsprozesse sind unumgänglich. Die 
Interessen und Meinungen der Individuen dazu wären auch ohne Kapitalismus und 
auch ohne Wertvergesellschaftung sehr unterschiedlich. Noch spezieller: Wer 
z.B. in der Pampa ohne die realistische Möglichkeit eines ÖPNV-Anschlusses 
wohnt, wird zur Autonutzung wahrscheinlich andere Position entwickeln als 
eine InnenstadtbewohnerIn, Alte oder gar Behinderte andere als gut trainierte 
RadfahrerInnen etc. Ab welchem Maß von Einschränkung der körperlichen 
Leistungsfähigkeit oder von abgelegener Lage soll PKW-Nutzung und wie lange 
noch zulässig sein? Dazu sollen alle einer Meinung sein? 

 Wie das strukturell gesichert werden kann, darüber sollten wir ruhig
 diskutieren.

Hab ich klare Position zu: demokratische Mechanismen der Willensbildung und 
Entscheidung und der Durchsetzung der getroffenen Entscheidungen sollten 
dominieren.

 Inwiefern sich auch
 individuelle/teilkollektive Interessen nicht gegen andere richten können 
ist
 eine andere Frage (deshalb hier das II) und wahrscheinlich die, von der 
Ralf
 ausgegangen ist.

 Auch hier kommen wir wieder dazu, zu fragen, was wir als "individuelles
 Interesse" sehen. Hier sind wir wieder beim Thema Selbstentfaltung.

Wenn alles vorher auch nur etwas ernst gemeint gewesen sein soll, kommt es 
überhaupt nicht darauf an, was wir als "individuelles Interesse" sehen, 
sondern was die jeweiligen Individuen selbst als ihre eigenen Interessen 
sehen und zum Ausdruck bringen, ganz egal, ob wir meinen, dass sie damit 
vielleicht falsch liegen, z.B. weil wir denken:

 Das hat uns nicht daran gewöhnt zu sehen, daß wir
 unsere Interessen, vor allem unsere Selbstentfaltungsinteressen, eigentlich
 nur wirklich realisieren können, wenn wir sie innerhalb geeigneter freier
 Vereinbarung und Zusammenarbeit mit anderen realisieren und das erfordert,
 daß auch die jeweils anderen sich maximal selbst entfalten können. Wenn sie
 das nicht können, schade ich mir selber, weil mir etwas an Vielfalt, an
 Kreativität, an Kraft, an Freude etc. entgeht...

Ich sehe immer noch nicht, wieso es dann keine unterschiedlichen und z.T. 
auch widersprüchlichen Interessen verschiedener Individuen mehr geben soll 
oder gar kann, aus den mehrfach von mir genannten Gründen. Wenn es konkret 
wird, erweist sich diese behauptete quasi automatische Übereinstimmung 
individueller und allgemeiner Interessen als frommer Wunsch, und das liegt 
nicht nur am Kapitalismus oder der Wertvergesellschaftung. Der bringt 
allerdings besondere notwendige Widersprüche hervor, aber ohne die gibt es 
immer noch welche. Was ist denn das für ein Bild von Gesellschaft, im 
Endeffekt zu meinen, durch ein paar Zauberwörter wie 
"Wertvergesellschaftung", "Fetischismus", "Entfremdung", "Abstraktion" u.ä. 
wäre alles erklärt, und wenn man die wie auch immer "abschafft", ist alles 
ganz einfach und harmoniert wie von selbst. Gar nichts ist damit erklärt und 
gar nichts harmoniert und vermittelt sich wie von selbst. Die 
libertäre/anachistische Vorstellung der allgemeinen Entfaltung aller durch 
"freie Kooperation" und die liberale Vorstellung der allgemeine Entfaltung 
aller durch die Freiheit des Marktes unterscheiden sich zwar in vielem, sind 
aber beide m.E. schlicht Mythen.

Viele Grüße

Ralf Krämer
Fresienstr. 26
44289 Dortmund
Tel. 0231-3953843
Fax 0231-3953844

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Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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