Re: [ox] zur Zukunft der Einzelinteressen
- From: RalfKrae aol.com
- Date: Thu, 7 Jun 2001 05:24:04 EDT
Hallo Annette und Interessierte,
Es gibt in Freien Kooperationen keine ein für allemal festgelegten Regeln -
sondern sie stehen immer zur Debatte. Das heißt dann: es können sich keine
Forderungen aus angeblich "allgemeinen Interessen" verselbständigen,
sondern
alles allgemein für alle zur Geltung Gebrachte entsteht aus einem
Aushandelungsprozeß "von unten" her. Was nicht wirklich aus der
Aushandelung
der besonderen Interessen folgt, ist nicht wirklich ein
allgemein-kollektives oder allgemein-menschliches Interesse.
Abgesehen von der Tragfähigkeit der Vorstellung einer Gesellschaft, die (nur)
auf "Freier Kooperation" beruht, würde ich das teilen. Also es darf keine
unhinterfragbaren verselbständigten "Allgemeininteressen" geben, die als
Legitimation dienen, sondern allgemeine Interessen müssen in einem "von
unten" ausgehenden Prozess gesellschaftlich artikuliert werden als
diejenigen, deren Realisierung die weitestgehende Realisierung der
individuellen Interessen aller ermöglicht und insb. die Durchsetzung von
Herrschaftsinteressen einiger zu Lasten anderer verhindert. Allerdings würde
ich davon ausgehen, dass diese Prozesse der Verständigung in der Regel nicht
so laufen können und müssen, dass sich dann alle einig sind, sondern dass es
ausreicht, wenn es hinreichend breit getragene Konsense gibt, die dann
umgesetzt werden - womit wir wieder bei den Problemen der gesellschaftlichen
Entscheidung und Steuerung wären, die ich immer wieder angesprochen habe.
Ansonsten, wenn jedes einzelne individuell artikulierte Interesse sozusagen
ein Vetorecht hätte, würde aus dem Satz
Was
individuellen Interessen unvereinbar entgegensteht - ist kein wirkliches
allgemeines Interesse.
nur folgen, dass es eben gar keine allgemeinen Interessen gibt oder nur sehr
wenige und abstrakt formulierte, alle praktisch relevanten Probleme und
Konflikte aber damit in keiner Weise gelöst wären.
> »Menschen werden auch dann noch in vielfältiger Weise unter
> unterschiedlichen Bedingungen leben und unterschiedliche
> Lebensgeschichten haben und daraus unterschiedliche
> Interessen artikulieren und diese durchzusetzen versuchen,
> in Auseinandersetzung mit anderen. Es kommt darauf an, dies
> nicht wegzubehaupten, sondern davon auszugehen und das in
> möglichst rationalen und demokratischen Formen auszutragen.«
Ja, ein lebendes Allgemeines braucht diese Vielfalt ja auch!
Für die Aushandelung der verschiedenen Interessen sollten meiner Meinung
nach auch hier die Bestimmungen aus Christophs Konzept beachtet werden:
1. es gibt keine allgemeinen Regeln, wie sie das aushandeln (die können wir
auch auch weder vorab festlegen, noch dann ein für allemal festlegen).
Das ist sehr abstrakt. Jedenfalls wäre eine Vorstellung einer Gesellschaft,
die nicht auf ganz vielen zunächst fraglos vorausgesetzten und sozusagen
schon "mit der Muttermilch eingesogenen" Regeln beruht, m.E. absurd. Dabei
geht es nicht nur um die etwa in Gesetzen und Verträgen formalisierten
Regelungen, sondern auch um alltägliche Verhaltensmuster, Einstellungen,
Bedeutungszuweisungen etc. Ungeachtet auch meiner persönlichen Neigung,
Regeln, die ich nicht einsehe, in Frage zu stellen, sollte man sich klar
sein, dass wir ständig sozusagen in jeder Minute des Umgangs mit anderen
Menschen eine Vielzahl von Regeln befolgen (die sich durchaus den
verschiedenen nationalen Gesellschaften, aber auch z.T. zwischen
verschiedenen sozialen Gruppen und Milieus innerhalb einer Gesellschaft
unterscheiden), die sich historisch zumeist auf der Basis sich
verändernderder materieller Lebensbedingungen, aber aufbauend auf allen
Traditionen, weitgehend ungesteuert verändern und dann auch Änderungen
formalisierter Regeln nach sich ziehen. Institutionen, Habitus, Mentalitäten
etc. sind keine Erfindungen von SoziologInnen oder einfach willkürlich zu
ändern, sondern soziale Realitäten, die sich die Einzelnen nicht aussuchen
können, sondern die sozusagen sozial vererbt werden und die sich zumeist
gesellschaftlich auch nur sehr langsam, im Verlaufe von Generationen,
verändern.
Und in Bezug auf formalisierte Regeln, konkret v.a. Gesetze, kann man auch
nicht alles ständig in Frage stellen, sondern kann es immer nur darum gehen
kann, bestimmte sich als problematisch erweisende Regeln zu kritisieren und
zu ändern. Wobei dann neue Regeln rauskommen, die später andere vielleicht
auch wieder ändern werden und es dabei in der Regel auch notwendig sein
dürfte, auch für das Ändern der Regeln wiederum Regeln zu beachten, die
selbstverändlich auch wiederum der Veränderung zugänglich sein müssen.
2. es muß strukturell gesichert sein, daß niemand über andere verfügen
kann,
weder individuell, noch auf Gruppen bezogen. Wenn eine Gruppe das Bedürfnis
hat, einen Atomreaktor zu bauen, würde sie über die Umweltsicherheit der
anderen verfügen und das darf sie nicht dürfen.
Wenn aber diese Gruppe der Auffassung ist, Atomkraft würde die Sicherheit
nicht wesentlich beeinträchtigen (wenn eine Gruppe z.B. die Fähigkeit hätte,
einen zu bauen und zu betreiben und aufgrund irgendwelcher Bedingungen aus
ihrer Sicht keine akzeptablen anderen Möglichkeiten der Energiegewinnung,
würde sie wahrscheinlich zu dieser Auffassung neigen)? Mag uns allen hier
absurd erscheinen, aber das kann ja nicht der Maßstab sein, der sollten doch
die besonderen Interessen aller sein, also ggf. auch dieser Gruppe. Also was
dann? Um ein etwas realistischeres Beispiel zu nehmen: Aufgrund
Treibhauseffekt etc. könnte man ähnliches Diktum wie hier gegen AKW
prinzipiell auch gegen jegliche Art von fossiler Energieerzeugung
formulieren. Dann kämen wir aber fast alle in große Schwierigkeiten, bzw. das
geht nicht von heute auf morgen.
Konkret wird es unumgänglich sein, gewisse Umweltinteressen zu
beeinträchtigen auf absehbare Zeit, um den gesellschaftlichen Lebensprozess
am Laufen zu halten. Fragt sich dann welche und in welchem Umfang und welche
Prioritäten werden gesetzt etc. Abwägungsprozesse sind unumgänglich. Die
Interessen und Meinungen der Individuen dazu wären auch ohne Kapitalismus und
auch ohne Wertvergesellschaftung sehr unterschiedlich. Noch spezieller: Wer
z.B. in der Pampa ohne die realistische Möglichkeit eines ÖPNV-Anschlusses
wohnt, wird zur Autonutzung wahrscheinlich andere Position entwickeln als
eine InnenstadtbewohnerIn, Alte oder gar Behinderte andere als gut trainierte
RadfahrerInnen etc. Ab welchem Maß von Einschränkung der körperlichen
Leistungsfähigkeit oder von abgelegener Lage soll PKW-Nutzung und wie lange
noch zulässig sein? Dazu sollen alle einer Meinung sein?
Wie das strukturell gesichert werden kann, darüber sollten wir ruhig
diskutieren.
Hab ich klare Position zu: demokratische Mechanismen der Willensbildung und
Entscheidung und der Durchsetzung der getroffenen Entscheidungen sollten
dominieren.
Inwiefern sich auch
individuelle/teilkollektive Interessen nicht gegen andere richten können
ist
eine andere Frage (deshalb hier das II) und wahrscheinlich die, von der
Ralf
ausgegangen ist.
Auch hier kommen wir wieder dazu, zu fragen, was wir als "individuelles
Interesse" sehen. Hier sind wir wieder beim Thema Selbstentfaltung.
Wenn alles vorher auch nur etwas ernst gemeint gewesen sein soll, kommt es
überhaupt nicht darauf an, was wir als "individuelles Interesse" sehen,
sondern was die jeweiligen Individuen selbst als ihre eigenen Interessen
sehen und zum Ausdruck bringen, ganz egal, ob wir meinen, dass sie damit
vielleicht falsch liegen, z.B. weil wir denken:
Das hat uns nicht daran gewöhnt zu sehen, daß wir
unsere Interessen, vor allem unsere Selbstentfaltungsinteressen, eigentlich
nur wirklich realisieren können, wenn wir sie innerhalb geeigneter freier
Vereinbarung und Zusammenarbeit mit anderen realisieren und das erfordert,
daß auch die jeweils anderen sich maximal selbst entfalten können. Wenn sie
das nicht können, schade ich mir selber, weil mir etwas an Vielfalt, an
Kreativität, an Kraft, an Freude etc. entgeht...
Ich sehe immer noch nicht, wieso es dann keine unterschiedlichen und z.T.
auch widersprüchlichen Interessen verschiedener Individuen mehr geben soll
oder gar kann, aus den mehrfach von mir genannten Gründen. Wenn es konkret
wird, erweist sich diese behauptete quasi automatische Übereinstimmung
individueller und allgemeiner Interessen als frommer Wunsch, und das liegt
nicht nur am Kapitalismus oder der Wertvergesellschaftung. Der bringt
allerdings besondere notwendige Widersprüche hervor, aber ohne die gibt es
immer noch welche. Was ist denn das für ein Bild von Gesellschaft, im
Endeffekt zu meinen, durch ein paar Zauberwörter wie
"Wertvergesellschaftung", "Fetischismus", "Entfremdung", "Abstraktion" u.ä.
wäre alles erklärt, und wenn man die wie auch immer "abschafft", ist alles
ganz einfach und harmoniert wie von selbst. Gar nichts ist damit erklärt und
gar nichts harmoniert und vermittelt sich wie von selbst. Die
libertäre/anachistische Vorstellung der allgemeinen Entfaltung aller durch
"freie Kooperation" und die liberale Vorstellung der allgemeine Entfaltung
aller durch die Freiheit des Marktes unterscheiden sich zwar in vielem, sind
aber beide m.E. schlicht Mythen.
Viele Grüße
Ralf Krämer
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