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Re: [ox] notizen zur keimform



Hi DiskutantInnen und stille MitleserInnen!

Zunächst: Der hier bezogene Workshop war wohl parallel zu meinem
Vortrag. Daher war ich nicht auf dem Workshop und kenne bislang nur
das Echo hier und gleichzeitig waren alle die dort waren, wohl nicht
bei mir. Schade, denn es gibt da einige Querbezüge. Aber mein Paper
dazu kommt noch.

Last week (10 days ago) Glatz wrote:
1.
das konzept der keimform, die Freie Software für eine neue gesellschaft
darstelle, ist auf der konferenz von Sabine und Michael H. explizit
kritisiert worden. Norbert T. sprach davon, dass eine neue gesellschaft nur
"negatorisch" auf die wertvergesellschaftung bezug nehmen könne.

Das klingt mir aber sehr nach dem sehr Negativen der Frankfurter
Schule. Auch wenn ich von denen auch viel gelernt habe, bin ich doch
der Meinung, daß diese Sicht der Dinge das Kind mit dem Bade
ausschüttet. Nach dieser Sicht kann der Übergang eigentlich nur als
großer Knall stattfinden und hinterher ist alles anders. Ich sage mal
so: Wenn das passiert geht's schief.

Aber der Satz von Norbert T. kann ja in unserem Kontext auch noch
anders gelesen werden. Wenn einige hier sagen, daß die Freie Software
eine Keimform ist, dann *ist* sie ja schon nur noch eingeschränkt Teil
der Wertvergesellschaftung. Das versuchen einige hier ja auch zu
begründen.

Allerdings bezieht sich die Freie Software m.E. nicht im engeren Sinne
negatorisch auf die Wertvergesellschaftung - dann wäre sie nur eine
(langweilige) Antithese. Vielmehr - und das finde ich das wirklich
Spannende - bildet die Freie Software die Synthese aus dem
Kapitalismus und einigen seiner Negationen.

2.
"keimform" beinhaltet im wort eine analogie zur biologie, legt einen
entwicklungsprozess zumindest nahe, der bei allen veränderungen im ablauf
einem bauplan, sozusagen einer DNA, folgt.

Ich mag den unterstellten Determinismus jedenfalls nicht. Umgekehrt
scheint es mir übrigens auch Geschichtsdeterminismus zu sein, wenn
behauptet wird, daß es keine Keimform geben könne.

3.
das unterschlägt aber die von Stefan Mz. sonst betonte wesentliche differenz
eines offenen gesellschaftlichen vorgangs zu einem determiniert biologischen
prozess. vielleicht kommt das daher, dass der begriff aus dem historischen
materialismus zu stammen scheint, nach dem ja der kapitalismus trotz aller
greuel die historische mission hat, die vorbedingungen einer Freien
Gesellschaft zu schaffen, die sich aus der alten "entwickeln" lässt. Marx
selbst spricht ja in diesem zusammenhang von naturgeschichte der menschheit.
dieser meinung bin ich nicht (mehr), sondern stimme dem von Norbert T. auf
der konferenz referierten gedanken zu, dass die produktivkraftentwicklung
als entscheidende determinante der gesellschaftlichen entwicklung nur für
die vom wert beherrschte gesellschaft gilt, aber nicht exprapoliert werden
darf (so jedenfalls hab ichs verstanden).

Das klingt ja auch plausibel. Ich habe in meinem Vortrag u.a. klar
machen wollen, daß die Menschheit viele verschiedene Facetten
bereithält, die in verschiedenen geschichtlich-kulturellen Situationen
dominant sein können. Vor dem Kapitalismus dürfte die Religion die
große Dominante gewesen sein. Religion gibt's heute auch noch, aber
nur Kirchen-ParanoikerInnen halten diese für die heutige Dominante.

Im Kapitalismus ist die Wertvergesellschaftung die Dominante und in
der GPL-Gesellschaft wird m.E. die menschliche Selbstentfaltung und
(mindestens) Freie Information die Dominante sein. Hat es alles schon
vorher gegeben und nach diesen Überlegungen könnte es sogar auch noch
kapitalistische Reste geben ähnlich den heutigen
Religionsüberbleibseln. Ob die Produktivkraftentwicklung, die für die
Wertvergesellschaftung eine wichtige Größe war, in der
GPL-Gesellschaft eine ebenso wichtige Rolle spielt, darf dabei
durchaus bezweifelt werden. Sie wird es noch geben, aber sie wird
nicht mehr die Menschheit dominieren.

4.
dass Freie Software entwickelt wird, ist nicht ergebnis davon, dass
"information wants to be free",

"Information wants to be free" ist selbstredend pure Ideologie - hatte
ich vor längerem schon mal was dazu gesagt.

sondern dass menschen das vielleicht sein
wollen.

Das gerade nicht - zumindest nicht in Bezug auf eine Freie
Gesellschaft. Das individuelle Wollen, das zu Freier Software führt,
liegt auf einer ganz anderen Ebene als ein irgendwie geartetes
gesellschaftliches Wollen. Und daß dieses individuelle Wollen ganz
unterschiedlich gesellschaftliche Ideologisierungen erhalten kann, das
siehst du an den ziemlich unterschiedlichen Positionen des
Dreigestirns RMS / ESR / LT.

für Open Source reichen auch rentabilitätserwägungen. wenn diese von
manchen subjektiv als befreiend empfunden werden, ändert das nichts an ihrer
objektiven funktion unter der herrschaft des werts.

Ja, aber umgekehrt ist auch gefahren: Ihre objektive Funktion unter
der Herrschaft des Werts ändert auch nichts an der unterstellten
Keimformeigenschaft. Wenn schon Schließen, dann in beide Richtungen!

5.
freie selbstentfaltung ist kein letztlich uneingelöstes versprechen der
produktivkraftentwicklung in der wertgesellschaftlichen form (wie ich Stefan
Mz. [miss?]verstanden habe). sie ist eine zielvorgabe, die mit der logik des
werts nichts zu tun hat. Sie ist ein von menschen empfundenes bedürfnis, das
(seit langem) in widerspruch zu den gesellschaftlichen verhältnissen steht.

Ja - seit der Aufklärung in Europa.

wenn das von diesen menschen so gesehen wird, können sie sich dazu stellen
(bewusst anpassen, ausweichen, konfrontieren, einen mix daraus).

Aber nicht im luftleeren Raum sondern in der immer vorhandenen
gesellschaftlichen Einbettung. Und die ändert sich.

6.
die Freien Software-Bewegung kann nur dann ein beitrag zu einer Freien
Gesellschaft sein, wenn die beteiligten menschen das wollen, wenn sie sich
bewusst dazu entscheiden.

Hier wäre zu fragen, wer genau die Beteiligten sein sollen. M.E.
müssen es jedenfalls nicht die EntwicklerInnen sein. Was die wollen
ist relativ egal, wenn sie denn tatsächlich eine Produktivkraft
erfunden haben, die eine Überwindung des Kapitalismus auf einem Niveau
möglich scheinen läßt, das nach meiner Kenntnis historisch neu ist.

Jetzt wieder politischer gesehen würde ich denken, daß es eine
GPL-Gesellschaft durchaus einer Bewegung bedarf, die dann auch u.U.
ganz neue Bedürfnisse formuliert, eigene Interessen durchsetzt -
vielleicht mit manchen Kapitalfraktionen oder halt auch gegen.

Und ich denke, daß aus Freier Software und ihrer im Produktionsprozeß
bereits fest verankerten fundamentalen Andersartigkeit durchaus eine
ganze Reihe von Bedürfnissen wachsen.

ich denke, es handelt sich nicht um "keim"formen, sondern um
handlungsmöglichkeiten, um potenzen, die wir heute vorfinden, die wir, wenn
wir eine Freie Gesellschaft erreichen wollen, aus der analyse (auflösung)
der welt des werts gewinnen können.

Das sehe ich nicht so beliebig. Ich denke schon, daß - um's
chaostheoretisch zu sagen - wir an einem Bifurkationspunkt stehen und
die Prinzipien der Freien Software eine Handlungsmöglichkeit sind, die
vielen Leuten hier auf der Liste und im (mittlerweile beträchtlichen)
Umfeld attraktiv erscheint. Die Geschichte steht m.E. aber nicht immer
an Bifurkationspunkten und es gibt auch eher selten attraktive
Handlungsmöglichkeiten.

Solche gibt es vermutlich viele, die
mehr oder weniger bedeutung haben und mehr oder weniger tiefe der
veränderung zulassen.

In meinem Vortrag habe ich umgekehrt versucht anzureißen, wo die
entscheidenden Momente der Keimform anderswo auch vorkommen.

die potenzen der Freien Software" sind recht groß und eröffnen viele
perspektiven von veränderung. sozusagen sprengkraft bekommen sie, glaub ich,
wenn sie sich mit vielen anderen möglichkeiten und anliegen kombinieren -
mit der "benachbarten" "Free Hardware", mit den von Franz N. immer wieder
vorgebrachten ansätzen, mit den von Flo L. unlängst genannten fragen und
anderem, wovon ich (noch) gar nichts weiß - aber das wenigstens weiß ich
;-).

Ja, der Cross-Over und die (gegenseitige) Befruchtung ist mir auch
wichtig.

Last week (9 days ago) Benni Baermann wrote:
On Mon, May 07, 2001 at 11:22:01PM [PHONE NUMBER REMOVED], Joost Klüßendorf wrote:
Ansonten weiß ich nicht, ob es Sinn macht, sich an dem Wort "Keimform"
aufzuhängen. Vielleicht paßt dieses Wort nicht hundprozentig, aber da sich
kein besseres durchgesetzt hat, und ein Schlagwort ganz praktisch ist, kann
man es doch nehmen, oder ?

Ich hatte auf dem Kongress den Eindruck, dass das Wort "Keimform"
viele Missverstaendnisse provoziert.

Mein Eindruck ist, daß wir so ziemlich sagen können was wir wollen -
Mißverständnisse gibt es immer. Das ist zwar leider so, aber dennoch
ist es so.

Das liegt vermutlich daran, daß wir in diesem Diskussionsprozeß hier
unablässig an einem neuen Sprachspiel basteln, das in der Tiefe nur
für Leute verständlich ist, die die Liste eine Weile verfolgen. Das
ist m.E. auch der Grund, warum es mittlerweile leicht ist, mal kurz
das eine oder andere Stichwort herauszugreifen, es gar nicht, ein
wenig oder kräftig aus dem Zusammenhang zu reißen um dann auf das neu
Geschaffene einzudreschen. Wohlfeil aber m.E. weder hilfreich noch
spannend.

Das es sich als Schlagwort
durchgesetzt hat, könnte auch genauso ein Hinweis darauf sein, dass
ein falsches Verstaendnis der Keimform-These zumindestens sehr weit
verbreitet ist.

Auch wenn diese Situation bedauerlich ist, weil wir damit natürlich
die Zugangshürden erhöhen, so fürchte ich doch, daß es da keinen
Ausweg gibt. Wir müssen ja schließlich irgendwelche Worte für die
Begriffe benutzen, die wir hier entwickeln. Und so wäre ich auch für
eine möglichst treffende Wortwahl - und bemühe mich darum -,
gleichzeitig ist das aber bei so neuen Begriffen nicht einfach so
möglich: Wir müssen ja selbst erst mal wissen, über was wir reden.

Es geht dabei nicht so sehr um Wörter sondern um unterschiedliche
Bewertungen. Die Keimform-These liegt näher an der
klassisch-marxistischen These von der Produktivkraftentwicklung,
wärend die Potential-These die Subjekte höher bewertet. Das sind
vielleicht nur Nuancen, aber ich denke, wichtige Nuancen.

Mir persönlich ist die Nähe zur Produktivkraftentwicklung schon die
wichtigere Seite.

Last week (9 days ago) Benni Baermann wrote:
Es gibt keine historische Gesetzmäßigkeit der
Produktivkraftentwicklung _außerhalb_ des Kapitalismus. Das hat N.
Trenkle gesagt und da hat er in meinen Augen völlig recht.

Der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus geschah also in keinem
Sinne zwangsläufig und der Übergang vom Kapitalismus in irgendwas
anderes ist auch in keinem Sinne zwangsläufig. Innerhalb des
Kapitalismus gibt es jedoch schon eine gewisse Zwangsläufigkeit,
weil es das kapitalistische System ja gerade auszeichnet, dass es
nach abstrakten Prinzipien funktioniert.

Natürlich gibt es historische Zusammenhänge, die haben aber nicht
nur was mit Produktivkräften zu tun, sondern auch mit kulturellen
Fragen.

Interessanter Gedanke - aber klingt plausibel. Tatsächlich ist der
Kapitalismus im europäischen Kontext entstanden und nirgendwo anders.
Daß er heute praktisch weltweit durchgesetzt ist, ist lediglich seiner
expansiven inneren Logik geschuldet. Ab und zu habe ich ich mich mal
gefragt, ob Wesen auf einem anderen Planeten auch durch eine
kapitalistische Phase gehen müssen. Das scheint mir im Lichte dieser
Überlegungen absurd. Wieder eine alte Frage abgehakt :-) .

Last week (9 days ago) Glatz wrote:
Eine weitere Folge der Auffassung ist m.E. tatsächlich eine gewisse
nachträgliche "Sinnstiftung" für die kapitalistischen Gräuel.

Na und wenn's so wäre? Selbst der Nationalsozialismus hat heftig
modernisierende Anteile in sich gehabt - macht das die Greuel
geringer?

Ich habe den Eindruck, daß da jemensch Angst um seine Unschuld hat...

Vielleicht bietet Freie Software aber auch beträchtliche
Handlungsmöglichkeiten für eine postkapitalistische Gesellschaft, die
keineswegs herrschaftsfrei ist, sondern eine neue Art quasipersonaler
Abhängigkeiten von Technokratien hervorbringt.

Kann eine Technokratie im engeren Sinne nicht nur dann bestehen, wenn
das Wissen fein säuberlich weggeschlossen und nur den Technokraten
zugänglich gemacht wird? Ist es nicht ein ganz entscheidender Witz an
Freier Software, daß jedeR, die sich ein bißchen mit der Technik
auskennt, aufgrund der offenliegenden Quellen ausrufen kann: "Der
Kaiser ist nackt!"? Schwierige Bedingungen für eine Technokratie m.E.

Last week (8 days ago) Stefan Meretz wrote:
Glatz schrieb:
6.
die Freien Software-Bewegung kann nur dann ein beitrag zu einer Freien
Gesellschaft sein, wenn die beteiligten menschen das wollen, wenn sie sich
bewusst dazu entscheiden.

Ja, auch. Für entscheidender halte ich jedoch, dass die neuen Formen
der Vergesellschaftung nicht bloss "ideell", sondern _real_ besser
sind - auch für jene Menschen, die sich dazu nicht bewusst
entscheiden (weil z.B. damit gar nix am Hut haben), sondern die die
neuen Formen einfach deswegen übernehmen, weil sie subjektiv besser
sind, als die alten. Das Neue kann nicht blosser Willensakt sein,
sondern es muss auch für je mich wirklich besser sein.

Das will ich nochmal dick unterstreichen, weil das genau der Punkt
ist, wo sich unsere Gedanken m.E. entscheidend von den meisten
bisherigen emanzipativen Überlegungen unterscheiden. Bisher ging das
immer nur über einen Appell und eher selten über ein konkret hier und
jetzt besseres Leben und dann meist in irgendwelchen
gesellschaftlichen Nischen. Wir können sagen: "Seht her, es gibt hier
und jetzt etwas, was euer Leben konkret und sofort verbessert." Ein
entscheidender Unterschied!

Last week (8 days ago) Benni Baermann wrote:
Ich denke man kann Geschichte weder nur aus den individuellen
Wünschen und Ideen noch nur aus den materiellen Widersprüchen
auffassen.

Soweit mach ich es mir natürlich erstmal einfach. Ich versuch aber
mal noch ein bisschen mehr zu erklären, wie ich mir das denke:

Ich hol mal etwas weiter aus.
...
Wozu ich diesen Exkurs hier angeführt habe, ist, weil ich denke,
dass Geschichte ganz ähnlich funktioniert. Es gibt auch da die
materiellen Grundlagen und die Ideen und beide haben ihre
Existenzberechtigung, weil beide ihre eigenen Sprachspiele benötigen
um sie zu verstehen. Allerdings gibt es einen Unterschied: Die
Verbindung zwischen beiden besteht nicht - wie im Kopf - aus dem
Umschlag von Quantität zu Qualität sondern in der zeitlichen
Dimension. Will sagen: Im Prinzip lassen sich zwar alle
geschichtlichen Bewegungen auf materielle Ursachen zurückführen doch
entwickeln sich eben mit der Zeit auch Ideen und diese
verselbstständigen sich nicht nur in dem marxschen Sinne (modulo
mein mangelhaftes Verständnis von Marx natürlich), dass sie
der eigentlichen materiellen Bewegung im Weg stehen, sondern eben
auch in dem Sinne, das sie ihre eigene Dynamik gewinnen, die eigenen
Gesetzmäßigkeiten folgt, so dass schliesslich auch eine Rückwirkung
dieser ideelen Sphäre auf die materielle Sphäre wieder möglich ist.

Konnte mir bis hierhin noch jemand folgen?

Ja, ich :-) .

Macht das Sinn?

Ja.

Vielleicht mal ein Beispiel, das jeder kennt:

Da werden wir ja sogar gerade live Zeuge davon: Die Idee der Freien
Software ist ansteckend und sie fängt bereits an, Rückwirkungen auf
die materielle Sphäre zu haben. Sei es das Engagement von IBM oder
sei es Oekonux.


So, jetzt bind ich erstmal zu und mache später noch mal mit dem Rest
des - recht anstrengenden - Threads weiter.


						Mit Freien Grüßen

						Stefan
__________________________
Unread: 80 [ox], 6 [ox-en]


________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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