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Integrierbarkeit der Keimform (was: [ox] Konferenz in Berlin)



Hi Sabine!

Hast du ja wichtige Inhalte gut versteckt ;-) . Aber das mache ich ja
auch gerne ;-) .

Ich würde gerne Lutz' Bemerkungen noch ein bißchen stärker zuspitzen.

Last week (9 days ago) sabine nuss wrote:
BTW: In dem Workshop zu Eigentum und Wissen wurde in einem Redebeitrag
auch positiv auf die Oekonux-Konferenz in Dortmund verwiesen. Einige
Gesichter aus Dortmund habe ich auch auf dieser Konferenz wieder gesehen.
Der "Geist" von Oekonux strahlte also noch ein bisschen in die Berliner
Konferenz..  ;-)

:-)

Am eindrücklichsten fand ich den Vortrag "aus der Praxis" von Dr. Norbert
Bensel, Debis AG, Berlin, Mitglied des Vorstandes - verantwortlich für Human
Resources - der DaimlerChrysler Services AG....

Er hielt einen Vortrag über "Arbeitszeit, Weiterbildung, Lebenszeit - Neue
Konzepte". Ich zitiere mal aus seinem Abstract:

"....Mitarbeiter stellen als die Wissensträger des Unternehmens neue
Anforderungen an die Gestaltung ihres beruflichen und privaten Umfeldes. Nur
in Unternehmen, in denen flexible Rahmenbedingungen für Arbeitszeit,
Weiterbildung und Lebenszeit geboten werden, kann sich das intellektuelle
Potential der Mitarbeiter voll entfalten und entwickeln. Flexible
Rahmenbedingungen beginnen mit einer flexiblen Organisationsstruktur.
Gängige Strukturmodelle mit einer festen Befehlshierarchien von oben nach
unten spiegeln die betriebliche Realität nicht mehr wieder....."

Wichtig festzuhalten ist mir hier, daß das alte fordistische Modell,
in der die Menschen als Verlängerung der Maschine betrachtet wurden,
daß dieses Modell hier weitgehend verschwunden ist - zumindest
hinsichtlich dieses Aspekts. Hier rückt die Hauptproduktivkraft Mensch
auch ganz konkret in den Fokus.

Meine Folgerung: Auch die KapitalistInnen sehen, daß die bisherige
Gestaltung der Produktion angesichts der Produktivkraftentwicklung -
im durchaus umfassenden Sinne des Wortes - mindestens mal nicht mehr
paßt. Daran versuchen sie sich anzupassen und - da die
Produktivkraftentwicklung eben in diese Richtung geht - versuchen sie
eben auch den Bedürfnissen der Menschen näher zu kommen.

Das könnte aber auch ganz anders herum gehen, wenn die
Produktivkraftentwicklung eben nicht diese selbstentfalterischen
Anteile "verlangen" würde. Es gibt auch Beispiele dafür, nämlich an
den Stellen, wo die Löhne so weit fallen, daß es sinnvoller ist,
(billige) Menschen zu beschäftigen als (teure) Maschinen zu
installieren. Das ist auch die ganze Debatte mit der Verlagerung der
Produktion in die sog. III. Welt etc. (Stichwort: Sweatshops). Hier
spielen offensichtlich andere Anteile der Produktivkraftentwicklung
eine Rolle als in den von Norbert Bensel skizzierten Bereichen.

Allerdings finde ich die Anteile der Produktion, bei denen das
überhaupt funktioniert - so viele sind es wohl de facto ohnehin nicht
- auch die weniger spannenden. An der Spitze der technischen
Entwicklung, die wir m.E. untersuchen müssen wenn wir überhaupt nach
Keimformen suchen wollen, gibt es die von Norbert Bensel skizzierten
Phänomene. Sowohl im Kapitalismus als auch in der Freien Software. Die
spannende Frage ist für mich, inwieweit den KapitalistInnen diese
Verwertung der Selbstentfaltung gelingen kann. Hier bin ich skeptisch.

Er warf verschiedene Folien an die Wand, in denen er bei den neuen
Arbeitsmodellen folgende Stichworte hervorhob:

"Spass haben" (statt Geld verdienen, als Motivation...), "Freiwillige motivieren",
"Anerkennung für cool code", "Kunden zu Mitarbeitern machen", es gab auch
Bezüge zur Open Source als Vorbild....

Ihr wißt schon, was ich damit sagen will....

Ich vermute, daß du das sagen willst, was ich eben gesagt habe - oder?
;-)

Das ist natürlich KEIN Argument GEGEN Freie Software !!!! (das wurde auch
schon beim Vortrag in Dortmund missverstanden).

Wie könnte es das sein? Aber das nur BTW.

Aber ! es ist wichtig, das
Auge darauf zu behalten. Weil: Die Entdeckung der Freien Software als
Potential für etwas wie auch immer definiertes "Emanzipatorisches" ist die
Entdeckung des Potentials, welches die gegenwärtigen
Produktionsverhältnisse modernisieren wird.

Daß es sie modernisieren wird, wäre in der Tat dringendst zu hoffen.
Ich möchte nämlich auch vor der GPL-Gesellschaft schon besser leben -
und tue es BTW auch, weil ich in genau diesem Bereich lohnarbeite und
daher dem unterliege, was wohl im kapitalistischen Kontext nur als
beispiellose Privilegierung betrachtet werden kann.

Das ist der entscheidende
Unterschied.

Das ist dann "der entscheidende Unterschied", wenn du glaubst, daß es
*im Kapitalismus* möglich ist, die Form der Selbstentfaltung wirklich
endgültig zu entfalten. Ich sage, da gibt es im Kapitalismus
strukturelle Grenzen, die der Kapitalismus nicht überspringen *kann*,
weil er dann schlicht kein Kapitalismus mehr ist.

Entscheidend scheint mir für den Kapitalismus die allseitige
Fremdbestimmung - sei es durch konkrete Personen wie ChefInnen oder
durch abstrakte Markt"gesetze". Im Kern ist das eine Folge der
kybernetischen Maschine der Wertverwertung, die eben nach abstrakten,
jedenfalls nicht menschengemäßen Gesetzmäßigkeiten läuft. Ja, die
Menschheit kommt in diesen Gesetzen sogar so wenig vor, daß deren
Ausrottung durch eine globale Umweltkatastrophe nicht nur denkbar ist,
sondern sogar täglich wahrscheinlicher wird.

Diese letztenendes in Entfremdung mündende Fremdbestimmung ist aber
genau das zentrale Problem mit dem Kapitalismus. Diese Entfremdung
bewirkt, daß die Menschen gegen ihre eigenen Interessen verstoßen
müssen - individuell (Maloche) genauso wie gesamtgesellschaftlich
(Umweltzerstörung).

Und genau hier liegt m.E. der Punkt, wo die KapitalistInnen es eben
nicht schaffen, die Selbstentfaltung sich wirklich entfalten zu
lassen. Hier müssen die KapitalistInnen den Markt"gesetzen" gehorchen
und das ist die immanente und durch nichts abzuschaffende und durch
nichts Immanentes zu überwindende Grenze.

Konkret gesprochen bedeutet das, daß Norbert Bensel *im Rahmen* seiner
Lohnverhältnisse das alles gewähren kann. Aber er kann eben nicht
gewähren, daß die Leute sagen, "Ach, jetzt mach ich mal ein halbes
Jahr Pause, danach noch ein Jahr und dann wende ich mich einem ganz
anderen Projekt zu" oder "Ich stehe ja total auf das Projekt in dem
ich hier arbeite, aber drei Stunden am Tag reichen mir voll. Danach
mag ich lieber mit meiner kleinen Tochter spielen".

Da werden die betonharten Grenzen des Systems unmittelbar sichtbar und
es wird auch sofort glasklar, wo Freie Software anders funktioniert.
Da *sind* es nämlich meine je eigenen Entscheidungen, die mein Handeln
lenken - nichts sonst. Keine abstrakten Gesetze (z.B. der Zwang zum
Geldverdienen) halten mich irgendwo fest, keine abstrakten Grenzen wie
Betriebsgeheimnisse hindern mich daran, mich für irgendetwas zu
interessieren.

Und - wie das Beispiel OSCar zeigt - kommen bei Freier Entwicklung
eben auch ökologische Gesichtspunkte zentral vor. Noch ein m.E. ganz
schlagender Beweis dafür, daß auch im ökologischen und damit einem
gesamtgesellschaftlichen Bereich die Selbstentfaltung ungeheuer viel
bringt - also nicht nur die individuelle Selbstentfaltung ist
(überlebens)wichtig!

Daher sehe ich bisher nicht, daß es dem Kapitalismus gelingen könnte,
diese Form, die in der Freien Software beispielhaft existiert,
wirklich integrieren zu können. Sie versuchen es - klar. Aber m.E.
gibt es fundamentale, immanent unüberschreitbare Grenzen.

Aber das stand hier alles schon mal und ist nicht überhaupt nicht neu.

Die andere Alternative, daß es "der entscheidende Unterschied" sein
könnte, ist, daß es der Kapitalismus schafft, einige
Selbstentfaltungsanteile zu realisieren, deren volle Entfaltung mit
einer einhergehenden gesellschaftlichen Umwälzung aber zu verhindern.

Hier betreten wir nach meiner Auffassung dann massiv die politische
Ebene, in der eben diese volle Entfaltung der Keimform dann auch
geeignet eingefordert werden muß. Dazu braucht es dann auch eine
Bewegung, die ihre Interessen in dieser Hinsicht ganz konkret
vertritt. Wie hart eine solche gesellschaftliche Auseinandersetzung
wird, ist heute schwer abzusehen - insbesondere angesichts der
komplexen Gemengelage der Interessen. Erste, frühe Formen einer
Interessenvertretung davon sind aber m.E. schon sichtbar.

Vielleicht ist es hier auch falsch von "dem Kapitalismus" zu sprechen.
Die Menschen, die im Kapitalismus funktionieren, haben ja auch noch
Interessen. Und ich komme jetzt z.B. gerade von einem (beruflichen)
Workshop, wo ich mich sehr dafür eingesetzt habe, wichtige Teile z.B.
meiner Arbeit zu Open Source zu machen (ja, da hatte ich Kreide
gefressen ;-) ). Und das aus durchaus konkreten praktischen Gründen:
Die Entwicklung als Open Source könnte durchaus genau die Synergien
freisetzen, die das BMBF sich so sehr wünscht. Und ich war nicht
allein mit meiner Meinung.

Klar, war auf der anderen Seite auch Idealismus dabei. Wie gesagt: Die
Idee steckt einfach an. Aber genau an diesem Punkt finde ich gehen
wichtige Dinge Hand in Hand. Konkrete Interessen werden immanent
bedient und gleichzeitig werden (auch) die ideellen Interessen der
Akteure befriedigt. Da gibt's ganz wilde Gemengelagen am laufenden
Band!

Wie eine Frau (ich weiß leider nicht mehr den Namen) auf der Konferenz in
Dortmund bei dem Workshop Reibung sehr schön gesagt hat, waren auch die
68er in gewisser Form Modernisierungsprozesse des Kapitalismus -

Klar waren die 68er Modernisierer - und glücklicherweise! Ich z.B. bin
megafroh, daß wir heute nicht mehr der Sexualmoral unterliegen, die in
den 50er und 60er Jahren gang und gäbe war. Ein riesiger
Befreiungsschritt - auch wenn der von aktuellen Generationen als
selbstverständlich genommen wird. Die (noch) etwas Älteren auf der
Liste können ja mal ein paar Schmankerl aus ihrer Jugend zum Besten
geben - unvorstellbar heute.

Oder wenn ich mir anschaue, was in dieser Zeit an Frauenbefreiung
gelaufen ist. Unvollendet wohl - aber immerhin. Ist das keine
Befreiung? Und eine Modernisierung ist es natürlich auch.

von den
beteiligten Individuen wurden sie aber als revolutionär, als Befreiung (!)
empfunden.

Vielleicht liegt in diesem Pseudowiderspruch, den du hier
konstruierst, der Knackpunkt: Wenn es den Kapitalismus modernisiert,
*kann* es ja gar nicht befreiend sein.

Ja warum denn nicht? Gute Teile der Kapitalismusentwicklung sind
solche immanenten Befreiungsprozesse. Sogar jeder gewerkschaftliche
Kampf ist ein solcher Befreiungsprozeß. Weitere Beispiele siehe oben.
Der Kapitalismus ist so dynamisch wie wohl keine Gesellschaft vor ihm.
Klar, daß es (auch) solche Entwicklungslinien gibt.

Aus heutiger, Oekonux-beeinflußter Sicht würde ich sagen, daß die 68er
deswegen keine Chance hatten, den Kapitalismus zu überwinden, weil sie
eben nicht auf der Produktivkraftebene ansetzen konnten. Sie waren im
Kern eine idealistische Bewegung - was sich auch an vielen Beispielen
belegen läßt. Ihre Produktivkraftvorstellungen griffen auf
(imaginierte) vorkapitalistische Bedingungen zurück (Stichwort:
Landkommune) und hatten (und für die heutigen Reste: haben) deswegen
keine Chance. Ich habe das auch lange geglaubt, daß die
Selbstverwaltungsbewegung eine tolle Sache ist, sehe aber heute, wo
sie eine unüberwindliche Schranke hat - zumindest in ihrer heutigen
Verfaßtheit.

Dies kann man nun in der Retrospektive erst sagen, aber daraus
könnte man wenigstens jetzt ein wenig lernen.....

Ich nehme an, daß du das obige meinst. ;-)


						Mit Freien Grüßen

						Stefan

PS: Ganz ehrlich: Ich würde mich freuen, wenn es gegen die oben zum
wiederholten Male ausgebreitete Argumentation mal was gäbe und nicht
nur dieses platte "Was dem Kapitalismus nutzt, das kann gar nicht gut
sein.". Wie sollen wir uns denn da weiterentwickeln?


________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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