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[ox] Glosse - Recht auf Faulheit



Eine Glosse zur aktuellen Debatte um Schröders jüngsten Sager und die
Illusionen der Fans des Rechts auf Faulheit.

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http://www.sozialismus.de/aktuell/index04-01.html
http://www.linksnet.de/artikel.cfm?id=313

Recht auf Faulheit

von Joachim Bischoff und Richard Detje

Mit Bundeskanzler Schröder hat die deutsche Republik wieder Anschluss an das
Weltniveau gefunden. Endlich ein Kanzler, der nicht nur blendend regiert,
sondern auch durch Ideen und Intellekt besticht. Auch wenn es ihm und seinem
geistigen Compagnon Tony Blair die politische Linke in Europa noch nicht
richtig gedankt hat, wächst doch die Schar derer, die neidvoll zugeben: mit
Themen wie »Zivile Bürgergesellschaft« und »Strategie des Dritten Weges«
wird das Regieren im 21. Jahrhundert auch geist- und lustvoller.

Seine jüngste Intervention hat der Vorstandsvorsitzende der Deutschland AG
über die Bild-Zeitung lanciert: »Bei uns gibt es kein Recht auf Faulheit«.
Diese Attacke auf den realexistierenden Sozialismus im Turbokapitalismus hat
gesessen.

Seit langem untergräbt eine gewisse Sorte von Systemoppositionellen die
ökonomischen und moralischen Fundamente unserer Republik. Diese Leute
behaupten doch glatt, angesichts der enormen Produktivität und des hohen
gesellschaftlichen Wohlstandsniveaus herrschten nur deshalb so trost- und
lustlose Zustände, weil die Lohnabhängigen von der Arbeitssucht nicht lassen
können. Anders ausgedrückt: nicht Alkohol, Tabak, Haschisch oder Heroin sind
die modernen Opiate für das Volk, sondern das Grundübel ist die Arbeit.
Diese Leute haben Erfolg, und der ist messbar. Schon haben sich knapp vier
Millionen Menschen in die soziale Hängematte des Arbeitslosenversicherung
fallen lassen, weitere Millionen frönen dem Recht auf Faulheit über die
Sozialhilfe und weitere leben einfach so für sich dahin, ohne
gesellschaftliche Ansprüche geltend zu machen. Tag für Tag werden es mehr.
Mittlerweile überlegen selbst »Leistungsträger«, dem Spiel »Arbeiten ohne
Ende« zu entsagen, bevor sie die deutsche Variante des japanischen Karoschi
ereilt.

Die Agitation der Systemopposition stützt sich in ihrer Kritik am
kapitalistischen Arbeitsethos auf eine Ausarbeitung von Karl Marx'
Schwiegersohn Paul Lafargue. Dieser klagte schon 1883: »Eine seltsame Sucht
beherrscht die Arbeiterklasse aller Länder, in denen die kapitalistische
Zivilisation herrscht, eine Sucht, die das in der modernen Gesellschaft
herrschende Einzel- und Massenelend zur Folge hat. Es ist dies die Liebe zur
Arbeit, die rasende, bis zur Erschöpfung der Individuen und ihrer
Nachkommenschaft gehende Arbeitssucht.«

Jahrzehntelang fand das Plädoyer für das Recht auf Faulheit kaum Gehör. Doch
rund ein hundert Jahre später zeigen sich die ersten Erfolge in der
Suchtbekämpfung. Lohnabhängige wenden sich in größerer Zahl von den
Gewerkschaften, den Brutstätten der Arbeitsliebe, ab. Zu Recht: zum
Verzichten ist man auf sie nicht angewiesen. Doch in einer Hinsicht hapert
es noch: Die Umsetzung der Forderung nach Entkoppelung von Einkommen und
Arbeit kommt nicht so recht voran, so dass sich das bürgerliche System - sei
es durch die in Aussichtstellung des Suchtpräparats, sei es durch
Repression - immer wieder gehaupten kann.

Nun hat also Schröder selbst der Offensive der Lafargue-Jünger den Kampf
angesagt. Den Arbeitsunwilligen drohen schärfere Sanktionen. Wer künftig, um
aus der Arbeitssucht herausfzufinden, nicht mehr arbeiten wolle, der könne
nicht mehr mit der »Solidarität der Gesellschaft« rechnen. Künftig sollen
Sozialagenturen - ein Hybridprodukt aus Arbeitsamt, Sozialhilfebürokratie,
Polizei- und Spitzeldienst - allen Arbeitsunwilligen konkrete Vorschläge für
die Befriedigung ihrer Sucht unterbreiten: Umschulung, Jobs im
Niedriglohnsektor, befristete oder geringfügige Beschäftigung, und
schließlich - für diejenigen, die die Sucht wieder voll gepackt hat - einen
unbefristeten Arbeitsplatz mit jede Menge Überstunden am Wochenende oder zu
nachtschlafender Zeit.

Wer hätte dies gedacht: eine linke, sozialdemokratisch-grünökologische
Regierungskoalition fördert nicht nur mit allen ihr zur Verfügung stehenden
Machthebeln die Umverteilung zugunsten der Unternehmer und Couponschneider,
pflegt rassistische Vorurteile auch in Zeiten lebensbedrohender
fremdenfeindlicher Attacken (»das Boot ist voll«) - sie eröffnet in ihrem
Zentralorgan »Bild« den Angriff auf die einzig wahre Systemopposition: Ende
mit dem jahrzehntelang im »Rheinischen Kapitalismus« tolerierten und
staatlich unterstützten »Recht auf Faulheit«.

Zugleich ist damit auch die umstrittene Frage eines modernen Revisionismus
in der europäischen Sozialdemokratie entschieden. Hatte doch selbst
Bernstein noch das Recht auf Faulheit verteidigt, als die Kapitalisten und
ihre Wasserträger den Lohnarbeitern die Lehre von der Enthaltsamkeit
predigten. Über ein Jahrhundert später ist klargestellt: die
Sozialdemokratie ist und bleibt die Partei der Arbeitssucht und mit der
massenwirksamen Aussage im Zentralorgan der Springer-Presse hat ihr Chef
unterstrichen: Die SPD steht gradlinig und unverdrossen zur kapitalistischen
Gesellschaft und der ihr eigentümlichen Verteilungsverhältnissen.

Schröders Überraschungscoup hat die Lafargue-Anhänger getroffen. Wie sollen
sie zurückschlagen? Wie können sie die Ausstiegswilligen, die nun angesichts
der Bedrohung mit gekürztem Arbeitslosengeld und gestrichener Sozialhilfe
verunsicht sind, bei der Fahne halten? Eine Hoffnung bleibt ihnen: dass die
kapitalistische Ökonomie garnicht in der Lage ist, für alle Süchtigen
genügend Arbeitsplätze - welcher Qualität auch immer - anbieten.

Allen, die sich der vermeintlichen Alternative zwischen Arbeitssucht und
Recht auf Faulheit nicht unterwerfen wollen, bleibt ein Ausweg: Änderung der
Bedingungen der Reichtumsproduktion, der Verteilungsverhältnisse und der
politischen Repräsentanz.





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Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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