Message 01440 [Homepage] [Navigation]
Thread: oxdeT01440 Message: 1/4 L0 [In index]
[First in Thread] [Last in Thread] [Date Next] [Date Prev]
[Next in Thread] [Prev in Thread] [Next Thread] [Prev Thread]

[ox] Werttheorie und Marx-Exegese




Hallo allerseits,

Ihr merkt es schon, freitags habe ich manchmal etwas mehr Zeit.
Deshalb heute auch eine etwas längere Mail. Habe trotzdem nur mails
bis zum 21 Nov berücksichtigt. 

Stefan Meretz (20 Nov)

   Mal folgenden Gedanken gedacht, nun auf stoffliche Produkte bezogen:
   Wenn der der eigentlichen stofflichen Realisierung vorausgehende
   nichtstoffliche Anteil der Produktion "verwertlost" und
   "verunproduktiviert" wird - zum Beispiel in dem es als Freies
   GPL-Wissen hergestellt wird - dann steht dieser dann allen
   weltweiten stofflichen Realisierern zur Verfügung. Angenommen, das
   passiert effektiv und durchgreifend und erfolgreich, dann wird das
   Kostenniveau allein durch die stoffliche Realisierung bestimmt.

Reden wir mal nicht von Kosten, sondern von Ressourcen.  Die braucht
nämlich auch der erste Teil. Es geht dann
1. um den Umfang des allgemeinen Ressourcentransfers in den
   Infrastrukturbereich ("Reichtum teilen, Armut bekämpfen" - ich
   empfehle der PDS seit langem, diesen ihren Slogan auch mal so zu
   denken, bisher leider vergebens),
2. um die Verteilung dieser Ressourcen in der Infrastruktursphäre,
   ohne sie zu "vergeuden" (sorry, ich kann es nicht lassen),
   d.h. nach irgendwelchen Effizienzkriterien,
3. um diese Effizienzkriterien selbst (wenigstens heute, wo das
   Kapital aus durchsichtigen Gründen gern "Steuerverschwendung"
   schreit und meist genügend "Mitschreier" findet). 

Weiter Stefan

   Wenn nun das Verhältnis von nichtstofflichem wertlosem Wissen und
   stofflichem werthaltigem Ding sich zu Gunsten des Letzterem
   verschiebt, dann gehen tendenziell alle proprietären Produzenten
   pleite. Die Kapitalverwertung entzieht völlig immanent ihre eigene
   Substanz - den Wert.

Nicht so fix. Die Infrastruktur _allein_ liefert genauso wenig
materielle Produkte wie es die _produktive Arbeit allein_ vermag. Das
Problem ist, dass auf dem verbleibenden "dünnen Fädchen" zwischen
Infrastruktur und Produkt in diesem System _der gesamte Wert_ des
Produkts entsteht, der dann nach allen Seiten umverteilt werden muss.
Es ist für mich nicht stringent zu schlussfolgern, dass dazu diese
Wertbasis außer Kraft zu setzen ist. Einzige Forderung, die sich
logisch ergibt, ist mE die folgende: ein ausreichender Teil dieses
Werts muss _sofort_ in die "Büchse" kommen, also zur Umverteilung
vergesellschaftet werden. Stichwort: Wertschöpfungsabgabe (aber eine
wirkliche und keine Alibiveranstaltung)  

Das wäre natürlich auch schon eine andere Gesellschaft, aber eben mit
einem "domestizierten Markt", nicht einem abgeschafften. Trotzdem eine
leicht andere Perspektive als bei Ralf (21 Nov).

Graham (21 Nov)

   Any increase in productivity decreases the value of individual
   goods; becoming increasingly value-exempt is the normal tendency of
   capitalism.

Das ist für den einzelnen Kapitalisten sicher richtig. Es wäre aber
mal interessant (und in dem hier eröffneten Kontext schlicht
notwendig) zu schauen, ob die Rechnung auch "im Großen" stimmt,
d.h. wenn alle Infrastrukturkosten (insbesondere Kosten für
Wissens(re)produktion und ökologische Folgekosten) mitgerechnet
werden.  Oder anders: ob die fallenden produktiven Kosten nicht durch
wachsende externalisierte Kosten (mehr als) aufgewogen werden.

Franz (21 Nov) 

   Es würde sehr gut in meine Visison passen, wo unsere
   Siedlungsformen (bolos) sehr stark dem "Paradigma der Pflanze"
   verpflichtet sind, das heißt der Nutzung lokaler materieller
   Ressourcen - was aber durch immer intensiveren (!)
   Informationsaustausch unterstützt wird. Mein Bild ist also etwas
   anders als das von Stefan Mn. ich glaube an eine Form der Synergie
   von lokaler Gestaltung und globaler Zusammenarbeit, die
   hundertprozent nach dem Muster von open Source verläuft, dieses
   aber sozusagen in doppeltem Sinn "auf den Boden" bringt.

Andere sagen dazu "Global denken - lokal handeln". Die materiellen
Ressourcen (und Folgen!) sind lokal (oder eher regional?)
strukturiert, weil immobil. Die geistigen Güter, der "Wissenspool"
dagegen global.  Vielleicht sollten wir hier auch mal "Standort" und
"Globalisierung" unter _diesem_ Aspekt durchdeklinieren.  Ein Versuch
meinerseits ("Zur Globalisierung der Ökonomie") liegt unter
http://www.informatik.uni-leipzig.de/~graebe/projekte/infopapers/glob.html 
im Netz. 

Die emphatischen Schlussfolgerungen von Franz teile ich nicht.  Dass
eine Region der anderen in Zukunft nicht an den Kragen geht, ist
_nicht_ aus lokaler Selbstorganisation zu motivieren, sondern nur aus
einem global wirksamen moralischen Prinzip (einem Kantschen
kategorischen Imperativ für Regionen wie er im Gorbatschowschen,
inzwischen lang vergessenen oder sogar verfemten "Neuen Denken"
entwickelt wurde).  Quelle für ein solches moralisches Prinzip sehe
ich nur in der Einsicht, dass Schäden, die eine Region einer anderen
zufügt, unmittelbar auf die Reproduzierbarkeit des Wissenspools zurück
schlagen.  Nur aus einem solchen _globalen_ Argument ergibt sich der
Drang, _lokal_ Frieden zu halten.  Ohne einen solchen globalen Konsens
entwickeln sich die Dinge schnell wie derzeit in Palästina.

Ich bringe noch einmal das Marxzitat, das Graham (20 Nov) in der
englischen und Ralf (21 Nov) in der deutschen Version posteten, weil
auch ich es für zentral halte

   ... die Schöpfung des wirklichen Reichtums weniger abhängt von der
   Arbeitszeit und dem Quantum angewandter Arbeit als von der Macht
   der Agentien, die während der Arbeitszeit in Bewegung gesetzt
   werden und die selbst wieder [...] in keinem Verhältnis steht zur
   unmittelbaren Arbeitszeit, die ihre Produktion kostet, sondern
   vielmehr abhängt vom allgemeinen Stand der Wissenschaft und dem
   Fortschritt der Technologie. (MEW 42, S. 592)

Ich interpretiere das aber, gerade auch im Kontext der Quelle, wo es
steht, nur als Aussage von Marx über die _Grenzen seiner ökonomischen
Theorie_. Ob Kapitalismus in der Lage ist, (auch) diese Grenze zu
nehmen, thematisiert Marx nicht (wäre auch etwas früh gewesen).  Marx
sieht ziemlich genau, auf welchen Prämissen (Axiomen) seine
ökonomische Theorie steht.  Wenn deren Grenzen, nach Meinung des
Meisters selbst, erreicht sind, dann muss hier _über Marx hinaus_
gedacht werden (ein Greuel und Frevel für die Mehrzahl der lokalen
"Marx-Exegeten"; Kostprobe unter
http://people.freenet.de/LisaLeipzig.de/Pro.htm)

ME wird dabei aber keine Überflußgesellschaft heraus kommen (wie hier
oft argumentiert und auch bei Marx ... "Springquellen" etc.  ...
angedacht; meine Gegenargumente: 1. Ökologie, 2. Natur organisiert
sich sonst auch meist nach einem Sparsamkeitsprinzip), sondern
zunächst eine Kompetenz- oder Vorsorgegesellschaft, in der das
Bereithalten von Konzepten für verschiedene Alternativen größeres
Gewicht hat als deren Realisierung.  Nur so wird Offenheit von Zukunft
und damit die bisherige Spontanität menschlicher Vergesellschaftung
operationalisierbar.  Und so verstehe ich auch obiges Zitat von Marx
als Hinweis, in welcher Richtung seine ökonomische Theorie zu
verallgemeinern ist.  Es muss die Dynamik der "Macht der Agentien",
des "allgemeinen Stands der Wissenschaft und des Fortschritts der
Technologie" _direkt_ ins Visier genommen werden, von der das "Quantum
angewandter Arbeit" nur ein Teilaspekt ist.

Ansonsten voll Zustimmung zu Uli (21 Nov). Allerdings schreibst Du an
einer Stelle

   Automatisch zusammenbrechen tut nichts, es wird nur prekäreer,
   perverser und letztlich wohl auch barbarischer.  

Dem halte ich die Erfahrung der "Implosion" der DDR und des ganzen
Ostblocksystems (als _Möglichkeit_) entgegen. Außerdem belegen Klix,
Lanius in "Die Wege und Irrwege der Menschenartigen", dass solche
"lautlosen Zusammenbrüche" auch in der bisherigen
Menschheitsgeschichte eher die Regel und der je große Krach die
Ausnahme waren. Hier halte ich es mit dem Konzept der "Revolution im
Fünferschritt". Aber da sind wir auch wieder bei Oekonux und Ulis
Argumenten.

Mit freundlichen Grüßen, Hans-Gert Gräbe

_________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de



[English translation]
Thread: oxdeT01440 Message: 1/4 L0 [In index]
Message 01440 [Homepage] [Navigation]