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[ox] Zum Stil auf der Liste



Liebe Liste und insbesondere Neuankömmlinge!

Ich spüre, wie es mich so langsam drängt, jeden Satz den ich schreibe,
hieb- und stichfest zu machen. Damit will ich wohl den momentan
verbreiteten Kritiken der Form "So, wie du das in diesem Halbsatz
sagst, kannst du das aber nicht tun und deswegen ist alles Mist" zu
entgehen. Das kann natürlich nicht klappen, da ich nicht in jeden Satz
die ganze Gedankenwelt hineinformulieren kann, die wir hier seit
mittlerweile fast anderthalb Jahren entwickeln. Wobei ich übrigens
auch das Problem sehe, daß das nirgendwo in geschlossener Form
verfügbar ist :-( . Work in Progress eben...

Erschwerend kommt hinzu, daß momentan öfter auf etwas Bezug genommen
wird, was gar nicht gesagt wurde. Nun, mindestens mir geht es so, daß
ich mich sehr bemühe das zu sagen, was ich sagen will. Ich bemühe
mich, die richtigen Worte für die Begriffe zu verwenden, die sich in
meinem Kopf entwickeln. Und umgekehrt: Was ich nicht sage, meine ich
auch erstmal nicht. Wer daran interessiert ist, ob ich einer
bestimmten Deutung des von mir Gesagten zustimmen würde, den bitte ich
zu fragen und es nicht einfach zu unterstellen und loszuprügeln. Das
Aufbauen und Niederknüppeln von Strohmännern hat noch nie was
gebracht. Auch wenn ich das für mich formuliert habe, denke ich, das
gilt für alle auf der Liste.

Ich finde diese Entwicklung - sollte sie denn tatsächlich so sein wie
ich sie wahrnehme - bedauerlich, da sie nach meiner Überzeugung und
Erfahrung produktives Denken verhindert. Und wenn mir das schon so
geht, dann geht es vielen Schweigsameren auf der Liste sicher noch
viel stärker so.

Klar finde ich Kritik wichtig - sonst wäre ich nicht auf einer
Mailing-Liste. Aber da würde ich schon zwischen solidarischer Kritik
und destruktiver unterscheiden. Solidarische Kritik stürzt sich eben
nicht auf jeden Halbsatz oder auch mal einen ganzen Absatz, der
vielleicht nicht nach allen Regeln der Kunst (welcher?) abgesichert
ist und vielleicht sogar auch schon mal abseitig klingt. Solidarische
Kritik versucht den Gedanken zu verstehen, der hinter einer Äußerung
liegt und versucht mit diesem Gedanken produktiv zu arbeiten, ihn
kritische weiterzuentwickeln.

Weiter fände ich es wünschenswert, wenn nicht vor allem die
Unterschiede in den Positionen einiger FundamentalkritikerInnen zu
fortgeschritteneren Positionen auf der Liste ständig hervorgehoben
würden. Ich denke es ist mittlerweile hinlänglich bekannt, daß es
zwischen denen, die sich nichts anderes vorstellen können/wollen, als
einen verewigten Kapitalismus, und denen, die überlegen, wie er
vielleicht schon bald überwunden werden kann, nur wenig Brücken zu
geben scheint. Ich habe immer stärker das Gefühl, daß in den
Argumentationen zu diesem Thema ständig das Phänomen "Glas halbvoll
vs. Glas halbleer" auftaucht.

Meine inhaltliche Deutung ist: Wir leben nach meiner Überzeugung in
einer historischen Umbruchszeit, in der die m.E. zukunftsweisenden
Elemente erst schemenhaft, in Keimformen eben zu erkennen sind. In
einer solchen Situation ist es klar, daß viele solcher Keimformen
natürlich auch andersherum gesehen werden können - sonst wären es ja
keine Keimformen, sondern schon die voll ausentwickelte Form. Ich kann
allen FundamentalkritikerInnen immer wieder nur wärmstens ans Herz
legen, ihre Position einfach mal rückzutransformieren in den
ausgehenden Feudalismus. Dort wären sie die Leute gewesen, die sich
eine Welt ohne Könige, Adel und Kirche nicht hätten vorstellen können.
Keine sehr fortschrittliche Position wie ich finde.

Aber oft müssen wir gar nicht so weit gehen. Die Freie Software selbst
bietet mit ihren Phänomenen schon reiches Anschauungsmaterial, die das
Denken in alten, arbeitsgesellschaftlichen Formen oft überhaupt nicht
begreifen kann (weil sie eben keine Begriffe für dieses Neue hat). Das
verblüfft selbst mich immer wieder - auch wenn ich mir da doch schon
einige Gedanken gemacht habe. Auch hier wäre mein Wunsch, daß das
eigene, naturgemäß arbeitsgesellschaftlich geprägte Denken im Lichte
des Phänomens Freier Software nochmal überdacht wird. Vieles was heute
auf dem Sektor Software selbstverständliche Realität ist, war vor zehn
Jahren noch völlig undenkbar - weil es Freie Software noch nicht so
entwickelt gab.

Und ja, es gibt auf dieser Liste utopische Elemente. Ich für meinen
Teil finde das nicht nur gut und richtig, sondern auch ungemein
wichtig. Nur wenn wir diese utopischen Gedanken wagen erstmal zu
denken, dann können wir sie eingehend ansehen, solidarisch kritisieren
und weiterentwickeln. Und dazu gehört neben einem gerüttelt Maß an
Analyse der konkreten Phänomene eben auch hier und da ein bißchen
politische Intuition - die nicht wachsen kann, wenn jedes zarte
Pflänzchen gleich zertreten wird.

Wer das nicht mag, wer lieber - ich nenn's immer: - ihre politische
Unschuld pflegen will, der kann ich z.B. die Krisis-Liste empfehlen.
Da ging's so lange ich da war praktisch um nichts anderes als die
politische Unschuld zu pflegen. Mit dem Ergebnis, daß da m.E. das
Produktivste auf der Liste die Ergüsse der Meister waren, die dorthin
gepostet wurden und die mir als einziges ab und zu fehlen. Das
allermeiste andere konnte m.E. getrost unter übliche linke
Grabenkämpfe gebucht werden.

In diesem Sinne: Locker bleiben.


						Mit Freien Grüßen

						Stefan


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