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Herangereifte Widersprueche in der buergerlichen Gesellschaft (was: RE: [ox] Gedanken von den Berliner Konferenzen)



Hi Markus und Liste!

Sehr interessante Mail. Da möchte ich gerne an ein paar Kernpunkten
anknüpfen. Ich werde in zwei Mails antworten und habe auch mal die
Subjects geändert.

Last week (7 days ago) Markus Lauber wrote:
Stefan Merten wrote:
Was meinst Du denn ist die Alternative zu einer Verteidigung von
Arbeitnehmerinteressen?

Na wer verteidigt die denn überhaupt? Die Gewerkschaften? Und vorneweg
die IG Chemie oder was? Das ich nicht lache - und das weißt du ja auch
selbst.

In der Summe der letzten sagen wir 20 Jahre waren es immer noch die
Gewerkschaften, die bei allen Defiziten und Anpassungszwaengen das meiste
fuer die abhaengig Beschaeftigten rausgeholt haben.

Darüber möchte ich nicht streiten. Aber ich würde nicht von
"rausgeholt" sprechen. Was die Gewerkschaften nach meinem Eindruck
noch hinkriegen, ist weitere Dammbrüche zu verhindern oder eher nur
noch zu verzögern - was ja auch eine wichtige Aufgabe ist - nur halt
nicht in irgendeine Zukunft weisend :-( .

geht es wie den anderen Gewerkschaften nicht darum
Computer abzuschaffen,

Woher nimmst du die Sicherheit, daß die Gewerkschaften das nicht
wollen? Es gab Zeiten, da war die Skepsis jedenfalls groß.

Das mag auch sein, das war aber eher Anfang der 80er. Historisch gesehen ist
es natuerlich voelliger Unfug gegen den technischen Fortschritt und insb.
die Produktivkraftverbesserung zu stellen, es kommt halt drauf an, was man
daraus macht. Und da finde ich 35-Std. (oder auch mal 30) bei vollem
Lohnausgleich eine ebenso altmodische wie weiterhin richtige Forderung.

Also heute müßten wir ja wohl von einer 15- oder höchstens
20-Stunden-Woche reden. Alles darüber - worüber ja wohl auch keiner
mehr redet - verpufft doch erwiesenermaßen.

Wobei eine solche Forderung angesichts der galoppierenden Auflösung
des Normalarbeitsverhältnisses selbst schon wieder antiquiert wirkt...

...aber ich wollte mich da nicht streiten ;-) .

wogegen dann nur noch total neue
Ansaetze helfen sollen, die bisherige Einsichten der Arbeiterbewegung dann
als ueberholt, altmodisch, verfettet, buerokratisch usw. diskreditieren.

Nun, mir geht es nicht ums Diskreditieren - hattest du auch nicht
gesagt. Aber ich denke schon, daß wir schauen müssen, was von dem
Alten noch brauchbar oder sogar vorwärtsweisend ist. Wenn wir über die
Arbeitsgesellschaft hinausdenken wollen, dann ist es naheliegend, daß
arbeitsgesellschaftliche Institutionen vielleicht dazu genauso wenig
beizutragen hat, wie die Zehntscheune zum Kapitalismus.

Produktivitaetsfortschritt finde ich erstmal immer gut, die Frage ist, was
man nachher damit macht.

Ja genau. Gut, daß du das sagst ;-) . Heute sind die
Produktivitätsfortschritte eben immer stärker widersprüchlich.

Das Problem ist, daß du die Produktivitätsfortschritte im Web nicht
bei irgendwelchen bösen Arbeitgebern - Entschuldigung: netten
Tarifpartnern - hast, sondern jedeR KopiererIn ihrE eigeneR VerlegerIn
ist. Wenn dann jemensch wie der o.g. Herr lediglich die
Standesinteressen der AutorInnenschaft vertritt, dann mußt du mir mal
erklären, was daran der Fortschritt in der
gesellschaftlich/demokratischen Rückkopplung ist und wie die
Produktivitätsfortschritte dann mit gewerkschaftlicher Hilfe anders
verteilt werden sollten.

??? Das bezieht sich auf den eher kleinen Ausschnitt der Produktion freier
Software.

Nein, leider nicht. Dem zitierten Herrn ging es um Textwerke, die - ja
glaubt mensch es denn - im Web stehend ohne Bezahlung einfach von
anderen weiterverwendet werden oder gar per Mail repliziert o.ä. Für
Musik etc. gilt natürlich die gleiche Argumentation, die uns ja
demnächst wohl GEMA-Abgaben auf Festplatten etc. bescheren wird.

Aber das ist genau der Punkt, wo du einfach begreifen mußt, daß die
digitale Kopie diese ganzen ollen Kamellen einfach unterläuft. Da ist
es einfach überholt sich mit den Konzepten der Buchdruck-Ära zu
positionieren.

Diese Auseinandersetzung scheint mir in Zeiten wo Bertelsmann gerade Napster
kauft noch lange nicht ausgestanden.

Unbenommen. Der Beitrag dieses Projekts könnte m.E. sein, helfen, das
Bewußtsein zu vergrößern, was da auf dem Spiel steht.

Evt. ist die freie Kopierbarkeit aller
Inhalte ueber Internet auch nur eine Uebergangsphase. Ist es nicht
vorstellbar, dass die grossen Netzbetreiber, die grossen Contenthersteller
und die grossen kommerziellen Softwarefirmen isch auf eine neues
Internet-Protokoll, Hardware usw. einigen, welches eine Art Kopierschutz
'eingebaut' hat?

Ehrlich gesagt, das halte ich nicht für vorstellbar. Einfach deswegen
nicht, weil die Mehrheit der Kapitalfraktionen daran kein Interesse
hat und nicht bereit sein wird, die gewaltigen Kosten für so eine
Maßnahme zu tragen. Die schleppende Verbreitung von IPv6 mag als
stützendes Beispiel durchgehen.

Aber es geht uns hier auch nicht so sehr um das Material, was unter
Kopierschutz steht. Das "Raub"kopieren ist für mich mehr so die
Maschinenstürmerei der frühen Bewegung.

Was ich spannender finde, ist, wenn das zu kopierende Material von
vorneherein Frei ist. Da gibt es erste Entwicklungen auch und gerade
bei den MusikerInnen, die ich viel spannender finde, als das Schicksal
der "Raub"kopierszene.

OK, das mag zu paranoid klingen, aber historisch gesehen, war der
Kapitalismus bislang sehr gut in der Lage sich an neue Herausforderungen
anzupassen.

Historisch wohl. Die These ist ja aber, daß die Zeit des Kapitalismus
abgelaufen ist. Und dafür gibt es m.E. reichlich Indikatoren.

Aber anyway, ist halt die Frage, wie sich der Kapitalismus konkret
anpassen wird. Und das ist bei der Frage Freier (Informations)güter
schon deswegen diffizil, weil die Interessenlagen der KapitalistInnen
da sehr unterschiedlich sind. Warum sollte es z.B. IBM jucken, wenn M$
den Bach runtergeht? Mit ihrem AIX oder gar OS/2 haben sie nicht viel
zu verlieren und mit M$ haben sie sowieso noch eine Rechnung offen.
Das gilt erst recht für die Kapitalgruppen aus anderen Sektoren der
Wirtschaft, die nur den Nutzen von Freier Software haben.

Alles kein Grund bewaehrte Vertretungsstrukturen leichtfertig in den Wind zu
schiessen und die grosse libertaere Freiheit aller Kopierenden auszurufen.

Ja, ist ja gut. Ich habe meine Standardsignatur ja schon geändert ;-) .

Das freie Kopieren von Software ist heute in vielen Bereichen Realitaet
(egal ob mit GPL oder als 'private Sicherungskopie').

Nee, nee, nee, das lasse ich dir nicht durchgehen. Das Sozialisieren
eines M$-Windows-Pakets ist eben schon etwas fundamental anderes als
die Installation einer Linux-Distribution - oder hast du schon mal von
M$-"Raub"kopierer-Kongressen mit weit über 10000 Leuten gehört?

Und was ist der
Effekt? Trampert/Ebermann e.g. sehen eher eine Art Selbstkonditionierung der
Leute, weil diese schon in ihrem Freizeitverhalten (Games, Programmieren,
Oekonux-Listen beschreiben/betreiben) sich auf die Erfordernisse der
Produktion konditionieren.

Das ist einer der Kernpunkte, den du da ansprichst.

Was Trampert/Ebermann da (wohl - "Die Offenbarung der Propheten" steht
nach einem Krisis-Verriß ungelesen bei mir im Regal :-} ) ansprechen,
ist genau der Widerspruch, der im Kapitalismus eben schon
herangewachsen ist und der z.B. auch die Argumentgruppe in ihrem
Büchlein "Widersprüche der Automationsarbeit" in den 80ern so kirre
gemacht hat. Stefan Mz. und Annette haben dazu eine Replik
geschrieben, zu der ich den Link momentan leider nicht zur Hand habe.

Ja klar, im Kapitalismus bilden sich diese Formen schon heran - nur
daß sie dort eben in ihrer widersprüchlichen Form gefangen bleiben.
Ich denke aber, daß dieser Widerspruch analysiert werden muß. Die
Alternative kann ja wohl nur sein, daß jegliche Tätigkeit jenseits von
Strand und Glotze dann schon als Konditionierung fürs Kapital
denunziert werden muß. Hast du für dich das Gefühl, daß das eine
stimmige Analyse ist? Ich für mich jedenfalls nicht.

Meinst Du also die Alternative zu gewerkschaftlicher Vertretung sei das MP3
Streaming in Clubs oder wie darf ich das verstehen?

Da müßtest du mir schon genauer auseinanderlegen, wie du aus dem
Gesagten auf diesen Schluß kommst. Dann beantworte ich gerne deine
Frage.

Ich bezog das auf Deine unverbundene Hinternanderreihung des inkometenten
Gewerkschafters (der nur Standesinteressen vertritt) und des kompetenten MP3
DJs. Abgesehen davon, dass ich mich frage, was an der Vertretung von
Klasseninteressen schlecht sein soll, kam mir die Gegenueberstellung nicht
wirklich schluessig vor.
Ist der sich (vermeintlich) selbst entfaltende (kompetente) MP3-DJ das
Gegenbild zum Gewerkschafter? Das habe ich nicht verstanden.

Die Gegenüberstellung war schon verbunden: Die beiden repräsentierten
prototypisch jeweils eine ganz bestimmte Haltung, die mir in unserem
Kontext typisch für die alte und die neue Zeit zu sein schienen. Das
heißt natürlich in keiner Weise, daß die irgendwie austauschbar wären.

Und zu dem verstohlen in Klammern gesetzten "vermeintlich": Ich finde
es sehr schwierig, den Leuten abzusprechen was für sie
Selbstentfaltung ist. Wenn es für sie Selbstentfaltung ist, dann ist
das doch erstmal ok. Daß davon natürlich z.B. in der Software-Branche
eben auch die Kapitalseite profitiert ist natürlich weniger nett, aber
deswegen darf mensch das doch Selbstentfaltung nennen wo es die Leute
selbst so sehen - oder? Widersprüche aushalten - nicht wegdenunzieren.

Der Kapitalismus kann Freie Software und deren Erfolg nicht
integrieren - jedenfalls nicht, ohne den Erfolg zu zerstören. Es geht
nicht, weil die Selbstentfaltung, die den Kern der Freien Software
bildet, nicht mit der Fremdbestimmung kompatibel ist, die den Kern der
kapitalistischen Lohnarbeit ausmacht. Hast du sicher nur kurz

Das ist die Frage. In der Gruppenarbeit oder in der Vergabe von Jobs an
Selbstangestellt ist die Fremdbestimmung auch auf ein absolutes Mindestmass
reduziert, sprich die Kontroll- und Ueberwachungsebene (Vorarbeiter etc.)
wegrationalisiert. Trotzdem wuerde niemand ernstlich behaupten bei Volvo sei
die kapitalistische Produktion dem Untergang geweiht.

Ja, aber da siehst du genau den Widerspruch sich entwickeln, der m.E.
und mit Marx letztlich zum Ableben des Kapitalismus führen wird: Weil
der Kapitalismus mit seinen fundamentalen Strukturen eben immer
stärker zur Fessel der Produktivkraftentwicklung wird. Die
KapitalistInnen versuchen ja schon, die Keimformen in ihren Laden zu
integrieren - und scheitern dabei oft - was genau wegen des
Widerspruchs zwischen äußeren Zielen und der gewünschten
Selbstentfaltung so sein muß.

Diese Fessel ist m.E. auch der tiefere Grund, warum die sog.
realsozialistischen Länder abdanken mußten. Aber letztlich auf
erweiterter Stufenleiter wird diese Fessel auch den Kapitalismus
selbst obsolet machen.

Das was Du 'Selbstenfaltung' nennst, koennte man auch als
Selbstkonditionierung bezeichnen. Man arbeitet in seiner Freizeit noch
zusaetzlich um sich KnowHow anzueignen und meinetwegen fortgeschrittene
Software herzustellen.

Was wäre deine Alternative?

Oder irgendwann ist Arbeit und Freizeitbeschaeftigung
so komplett auf PCs orientiert, dass sich die Frage gar nicht mehr stellt,
was hier entfremdet ist. Ich mache morgens meinen Laptop auf und abends zu,
in der Kneipe hab ich Palm und Mobiltelefon, ich bastle an kommerziellen und
nichtkommerziellen Sites und fuehle mich prima dabei.

Das wir uns da verstehen: Die Ausdehnung der (fremdbestimmten) Arbeit
in die (übrigens auch fremdbestimmte) freie Zeit finde ich genauso
problematisch wie du. Darum geht's aber hier nicht. Hier geht es um
das selbstbestimmte, das Freie Tun. Das aus je eigenen Antrieben sich
entwickelnde Bedürfnis tätig zu werden. Zugegeben: Schwer zu denken
mit einem arbeitsgesellschaftlich zugerichteten Kopf, aber da geht's
lang.

Und z.B. in der Software-Entwicklung mischt sich das auch einfach - in
beide Richtungen. Ich befasse mich z.B. momentan beruflich ziemlich
massiv mit XML - und bin schon heute dabei, das dort gewonnene KnowHow
in private Tools einfließen zu lassen. Oder ein sehr intensives
privates Projekt, bei dem ich das erste Mal richtig mit den
objektorientierten Techniken von Perl umgegangen bin - das dort
gewonnene KnowHow hilft mir heute auch bei beruflichen Fragen.

Wie gesagt: Da entfalten sich die Widersprüche gerade. Und ich kann
schon verstehen, wenn Trampert/Ebermann und die ganzen
arbeitsgesellschaftlich zugerichteten Köpfe das nur so düster
analysieren können, wie du das andeutest.

Jetzt wuerde ich als begeisterter Computer- und Laptopuser vielleicht sagen:

Du spürst den Widerspruch auch ;-) .

prima das wollte ich doch immer alles einfach am Rechner machen und das Ding
12 Std. und länger am Tag laufen haben, mache ich halt 8 Std. Arbeit und 4
Std. Freizeit. Meine reale Erfahrung ist, die man auch theoretisch sehr
leicht nachvollziehen kann, dass sich die Arbeit über die Verfügbarkeit von
Kommunikationsmitteln (Mobiltelefon, IrDA, Laptop) tendenziell in den
klassischen Freizeitbereich ausweitet und sie im Zweifel Vorrang hat, nicht
immer, aber immer öfters - und dagegen schützt kein noch so ausgeklügeltes
Nummern-Profil im Telefonspeicher.

Nein, dagegen schützt nur eine bewußte Entscheidung. Meine
Empfehlung: Im Zweifelsfall lieber die Oekonux-Liste lesen ;-) .


						Mit Freien Grüßen

						Stefan


_________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de



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