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Re: Dritter Pol (was: Re: [ox] Literatur zur Kritik der Arbeit)



On Son, 05 Nov 2000, Franz J. Nahrada wrote:
liste oekonux.de schreibt:
Freie Software, egal ob Computerprogramme, B¸cher, Musik oder Baupl?ne,
stellt Vorlagen f¸r die Steuerung einer Gesellschaft (d.h. ihrer
Wirtschaft,
ihrer Kultur usw.) bereit, wer diese nun aufgreifen wird, ein Staat oder
kleinere Gruppen, ist dabei noch gar nicht vorgegeben.

Die "Herstellung" dieser Software besteht haupts?chlich aus Denken.
Dieses
unter staatliche Kontrolle oder Steuerung zu stellen, ist vermutlich auch
den
meisten Pol2-Fans zuwider, so da? dieser Punkt g?nzlich aus der
Pol-Debatte
herausf?llt.

Hallo, Franz!

Ich bin mir nicht sicher, ob ich richtig verstanden wurde...
Daher hier nochmal alles ausführlich:

  Ausgangssituation: durch den Markt gesteuerte Betriebe

Im Moment werden Radios in privaten Betrieben zum Verkauf produziert.

Zur Überwindung der kapitalistischen Produktion werden derzeit zwei 
Strategien angedacht (Pol 1 und 2):

  Pol 1: kleine unabhängige Selbstversorgergruppen, bedarfsgesteuert

Nach Pol 1 sind Radios also von den Amateurfunkern und Hobbybastlern für den 
Eigenbedarf selbst zusammenzubauen. Diese können natürlich durch 
Arbeitsteilung etc. und Beschaffung oder Eigenbau moderner Werkzeuge immer 
effektiver vorgehen. Ein Bedarf ausserhalb dieser Gruppe kann also mit der 
Zeit immer leichter gedeckt werden.

  Pol 2: zentrale staatliche Organisation, bedarfsgesteuert

Nach Pol 2 werden Radios, so wie im real existierenden Sozialismus, in 
Fabriken hergestellt, über deren Tätigkeiten die Regierung entscheidet.

In diese Modelle paßt die "Herstellung" von Software nicht rein. Software 
(Programme, Texte, Musik, Konstruktionspläne), sowie wissenschaftliche 
Ergebnisse lassen sich nämlich nicht geplant "herstellen", sondern sind das 
Ergebnis von Überlegungen und Experimenten. Diese fallen bei allen drei oben 
aufgeführten Wirtschaftsformen ab. Niemand kann jemanden beauftragen, das 
o.g. Radio zu erfinden. Ob die Ergebnisse aber nun frei oder proprietär 
werden, entscheidet übrigens nicht die Wirtschaftsform!

  Pol 3: Wirtschaft mit einer geeigneten Mischung aller oben aufgeführten     
         Formen, aber ohne "geistiges Eigentum" 

Weder Pol 2 noch Pol 1 sind im Moment real umsetzbar. 

Für Pol 2 benötigt man einen Staat. Sich den derzeitigen entsprechend 
umzubauen oder einen "Parallelstaat" zu gründen, dürfte etwas schwierig 
werden. Dies wird aber noch notwendig, denn zumindest bestimmte Mängel von 
der Pol1-Lösung müßte eine Pol2-Lösung abfangen.

Pol 1 erscheint mir wie eine Trotzreaktion auf Pol 2. Weil Eigeninitiative im 
r.e.S. nicht möglich war, müsse man auf einen Staat ganz verzichten. Unsinn. 
Der Staat muß nur genügend Freiräume für eigene Projekte lassen. Diese 
Projekte können Fehler des Staates (Bedarf nicht erkannt) ausgleichen, und 
Umgekehrt (z.B. wenn die freien Projekte keinen Produktionsüberschuß über den 
Eigenbedarf hinaus erzielen). Übrigens: eine Vernetzung der Projekte wäre 
schon wieder eine staatsartige Struktur.

Pol 1 funktioniert heute noch nicht, da die Projekte auf proprietäre Lösungen 
angewiesen sind. Dadurch entsteht kein technischer Fortschritt in den 
Projekten, es gibt keine erreichbaren Etappenziele, und der Kapitalismus wird 
nicht überwunden. Das Beispiel mit den Tafeln paßt hier wunderbar. 

Um die gerade erwähnten "Lösungen" geht es aber bei Software u. dgl. Um beim 
Beispiel "Radio zusammenbauen" zu bleiben: Die Software hierbei ist der 
Konstruktionsplan. Ein proprietärer Konstruktionsplan ist für Pol 1 
unbrauchbar, für Pol 2 schon (ein Staat kann das Urheber- und Patentrecht 
abschaffen), aber diese Lösung ist momentan noch die Fernste. Eine Freie 
Lösung ist aber geeignet für alle drei Wirtschaftsformen. Ist sie 
gecopylefted, führt sie weitere Freie Lösungen herbei. Das kann proprietäres 
nicht, und wird daher verdrängt. Der Kapitalismus wird also auf alle Fälle 
aus dem Bereich des Geistigen, durch das Verschwinden des Konstrukts 
"geistiges Eigentum" verdrängt. Es wird weiterhin Möglichkeiten geben, mit 
Software Geld zu machen, aber das ist nebensächlich. Wichtig ist, daß Freie 
Lösungen zur Verfügung stehen werden, die eine Pol1-Wirtschaft ermöglichen.
An Pol2-artigen Umbauten des Staates (Stichwort: Bürgergeld usw.) muß 
nebenher gearbeitet werden.

Tschüß,
Thomas
 }:o{#

PS: Noch 30 ungelesen ox-Mails :o(

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