Re: Dritter Pol (was: Re: [ox] Literatur zur Kritik der Arbeit)
- From: Thomas Uwe Gruettmueller <sloyment gmx.net>
- Date: Mon, 6 Nov 2000 09:05:26 +0100
On Son, 05 Nov 2000, Franz J. Nahrada wrote:
liste oekonux.de schreibt:
Freie Software, egal ob Computerprogramme, B¸cher, Musik oder Baupl?ne,
stellt Vorlagen f¸r die Steuerung einer Gesellschaft (d.h. ihrer
Wirtschaft,
ihrer Kultur usw.) bereit, wer diese nun aufgreifen wird, ein Staat oder
kleinere Gruppen, ist dabei noch gar nicht vorgegeben.
Die "Herstellung" dieser Software besteht haupts?chlich aus Denken.
Dieses
unter staatliche Kontrolle oder Steuerung zu stellen, ist vermutlich auch
den
meisten Pol2-Fans zuwider, so da? dieser Punkt g?nzlich aus der
Pol-Debatte
herausf?llt.
Hallo, Franz!
Ich bin mir nicht sicher, ob ich richtig verstanden wurde...
Daher hier nochmal alles ausführlich:
Ausgangssituation: durch den Markt gesteuerte Betriebe
Im Moment werden Radios in privaten Betrieben zum Verkauf produziert.
Zur Überwindung der kapitalistischen Produktion werden derzeit zwei
Strategien angedacht (Pol 1 und 2):
Pol 1: kleine unabhängige Selbstversorgergruppen, bedarfsgesteuert
Nach Pol 1 sind Radios also von den Amateurfunkern und Hobbybastlern für den
Eigenbedarf selbst zusammenzubauen. Diese können natürlich durch
Arbeitsteilung etc. und Beschaffung oder Eigenbau moderner Werkzeuge immer
effektiver vorgehen. Ein Bedarf ausserhalb dieser Gruppe kann also mit der
Zeit immer leichter gedeckt werden.
Pol 2: zentrale staatliche Organisation, bedarfsgesteuert
Nach Pol 2 werden Radios, so wie im real existierenden Sozialismus, in
Fabriken hergestellt, über deren Tätigkeiten die Regierung entscheidet.
In diese Modelle paßt die "Herstellung" von Software nicht rein. Software
(Programme, Texte, Musik, Konstruktionspläne), sowie wissenschaftliche
Ergebnisse lassen sich nämlich nicht geplant "herstellen", sondern sind das
Ergebnis von Überlegungen und Experimenten. Diese fallen bei allen drei oben
aufgeführten Wirtschaftsformen ab. Niemand kann jemanden beauftragen, das
o.g. Radio zu erfinden. Ob die Ergebnisse aber nun frei oder proprietär
werden, entscheidet übrigens nicht die Wirtschaftsform!
Pol 3: Wirtschaft mit einer geeigneten Mischung aller oben aufgeführten
Formen, aber ohne "geistiges Eigentum"
Weder Pol 2 noch Pol 1 sind im Moment real umsetzbar.
Für Pol 2 benötigt man einen Staat. Sich den derzeitigen entsprechend
umzubauen oder einen "Parallelstaat" zu gründen, dürfte etwas schwierig
werden. Dies wird aber noch notwendig, denn zumindest bestimmte Mängel von
der Pol1-Lösung müßte eine Pol2-Lösung abfangen.
Pol 1 erscheint mir wie eine Trotzreaktion auf Pol 2. Weil Eigeninitiative im
r.e.S. nicht möglich war, müsse man auf einen Staat ganz verzichten. Unsinn.
Der Staat muß nur genügend Freiräume für eigene Projekte lassen. Diese
Projekte können Fehler des Staates (Bedarf nicht erkannt) ausgleichen, und
Umgekehrt (z.B. wenn die freien Projekte keinen Produktionsüberschuß über den
Eigenbedarf hinaus erzielen). Übrigens: eine Vernetzung der Projekte wäre
schon wieder eine staatsartige Struktur.
Pol 1 funktioniert heute noch nicht, da die Projekte auf proprietäre Lösungen
angewiesen sind. Dadurch entsteht kein technischer Fortschritt in den
Projekten, es gibt keine erreichbaren Etappenziele, und der Kapitalismus wird
nicht überwunden. Das Beispiel mit den Tafeln paßt hier wunderbar.
Um die gerade erwähnten "Lösungen" geht es aber bei Software u. dgl. Um beim
Beispiel "Radio zusammenbauen" zu bleiben: Die Software hierbei ist der
Konstruktionsplan. Ein proprietärer Konstruktionsplan ist für Pol 1
unbrauchbar, für Pol 2 schon (ein Staat kann das Urheber- und Patentrecht
abschaffen), aber diese Lösung ist momentan noch die Fernste. Eine Freie
Lösung ist aber geeignet für alle drei Wirtschaftsformen. Ist sie
gecopylefted, führt sie weitere Freie Lösungen herbei. Das kann proprietäres
nicht, und wird daher verdrängt. Der Kapitalismus wird also auf alle Fälle
aus dem Bereich des Geistigen, durch das Verschwinden des Konstrukts
"geistiges Eigentum" verdrängt. Es wird weiterhin Möglichkeiten geben, mit
Software Geld zu machen, aber das ist nebensächlich. Wichtig ist, daß Freie
Lösungen zur Verfügung stehen werden, die eine Pol1-Wirtschaft ermöglichen.
An Pol2-artigen Umbauten des Staates (Stichwort: Bürgergeld usw.) muß
nebenher gearbeitet werden.
Tschüß,
Thomas
}:o{#
PS: Noch 30 ungelesen ox-Mails :o(
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