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Re: [ox] das Wesen des Menschen



Hallo,

Hier kommt nämlich noch mal der Unterschied zum Tier rein: Tiere können
maximal "Sozialstrukturen" haben (Menschen ja auch). Bei Menschen kommt
aber immer dazu, daß sie ihr Leben IN DER GESELLSCHAFT reproduzieren.
Das ist was andres als die soziale Kooperation bei Tieren, denn
Gesellschaft bildet sich durch die arbeitsteilige Reproduktion, bei der
NICHT MEHR JEDE/r EINZELNE ZU JEDEM ZEITPUNKT AN DER REPRODUKTIONSARBEIT
BETEILIGT SEIN MUSS (Bei Tieren muß jedes Tier seinen Leistungsanteil im
Rudel oder sonstwo bringen).

Was meint ihr damit? Die Möglichkeit für einzelne, Wissenschaft zu
treiben (oder eben OpenSource Code zu schreiben) ? Dann wäre für mich
der Begriff der Reproduktionsarbeit aber ziemlich eng ausgelegt, denn
damit wird ja auch etwas (erweitert) reproduziert, nämlich die
Gesellschaftlichkeit selbst.

Ja, es geht hier nicht um die gesamte Gesellschaft, sondern es wird mal
ganz deutlich gefragt: Was passiert mit dem Einzelnen? Das ist ja der
(angebliche?) weiße Fleck im Marxismus, der sich als Gesamttheorie
(soweit man das so kompakt überhaupt sehen kann) bewußt auf die
umfassendere, die gesellschaftliche Ebene (Kritik der politischen
Ökonomie) bezieht. Das negiert nichts von dem, was Marx zum Individuum
in seinen Frühschriften mal geschrieben hatte (insofern gibts keinen
Widerspruch zwischen dem "jungen" und dem "alten" Marx, der ja gern
herkonstruiert wird). Aber es ist eine andere Ebene. Genauso wie ich in
der Quantentheorie keine Planetenbahn ausrechne und mich bei der
Berechnung einer Planetenbahn die Quantenzustände in der Planetenmaterie
nicht interessieren. 
Tatsächlich hat Marx sich um die Ausarbeitung der Vermittlung zwischen
Individuellem und Gesellschaftlichem auf wissenschaftlichem Niveau nicht
mehr kümmern können (wer kann schon alles alleine machen). Später ist
dann oft einfach ein Stück Psychoanalyse rangeklebt worden oder Erich
Fromm zitiert. Wissenschaftlich ist das aber nicht ausreichend. 
Diesen Bereich deckt m.E. nun die Kritische Psychologie gut ab - leider
ist der Name oft verwirrend, ich dachte früher auch, das sei nur eine
der vielen Psychologieschulen und nicht DIE marxistische
Subjektwissenschaft...

Dies erzeugt für Menschen einerseits eine neue Systemebene (eben
"Gesellschaft" statt nur soziale "Gemeinschaft") - die für den Einzelnen
aber mehr Freiraum (sich nicht - zumindest nicht immer und unmittelbar -
an der Reproduktion zu beteiligen) mit sich bringt. D.h.:
gesellschaftlich durchschnittlich muß zwar die notwendige
Arbeitsleistung erbracht werden - aber das Verhalten des Einzelnen wird
dadurch nicht mehr unmittelbar bestimmt, determiniert (wie noch bei den
Tieren).

Zustimmung, obwohl das mE nichts mit Ausstieg aus der Reproduktion zu
tun hat.

Nein, noch nicht umbedingt. Aber es kennzeichnet ein Stückchen Freiheit,
das wir oft übersehen. Eben: "Nein" zu den Verhältnissen zu sagen. Zu
allen, den persönlichen ... aber auch der gesellschaftlichen
Reproduktion. Automatisch kommt das natürlich nicht. Aber die
Möglichkeit ist da und wenn ich sie nicht nutze, ist das MEINE
Entscheidung. 

Wie weit die Determiniertheit bei Tieren geht, entzieht sich
meiner Kenntnis. Dass die Determiniertheit in der menschlichen
Gemeinschaft oder Gesellschaft (ich will mich da mal nicht festlegen)
immer mittelbarer geworden ist, ist aber keine neue Sache.

Das war historisch ein Qualitätssprung (und nicht eine quantitative
Verschiebung wie das bei dir klingt), der überhaupt erstmals das
Denken und die Möglichkeitsbeziehung zur Realität auf die Welt
gebracht hat. Tiere haben das nicht.

Das ist der Punkt - um das auch mal einzufügen - über den ich Stefan
Meretz kennengelernt habe: Er kritisierte in meinem (zweiten) Buch, daß
ich schon im Bereich der Biologie von "Möglichkeiten" geschrieben habe
(in dem dort aufgeführten  Konzept zu allgemeinen Entwicklungsprinzipien
kam es mir nämlich gerade darauf an, auf allen Ebenen der Materie den
strikten eindimensionalen Determinismus aufzuheben). 
Nun ja, ganz ausdiskutiert haben wir das noch nicht.
Die Kategorie "Möglichkeit" wird i.a. schon allgemeiner verwendet, als
es Stefan macht. Es gibt "Möglichkeitsfelder" auch schon in biotischen
Evolutions"stammbäumen". Das bezieht sich dann aber nicht auf den
einzelnen Organismus, sondern z.B. die Evolution von  Populationen. Es
gibt Momente in der Evolution der Arten, wo die Umwelt der
Organismenpopulationen diese nicht eindeutig "prägt", sondern es
entweder recht zufällig ist, welche der Polulationen sich weiter
entwickeln und welche untergehen - und manchmal hängt das auch vom
gewählten (ja, ich verwende sogar dieses Wort) Verhalten der Tiergruppen
ab, z.B. vom Ernährungsverhalten - in welche Richtung sie sich weiter
entwickeln. Auch in den Zellen bei der Embryonalentwicklung gibts solche
Effekte, daß die ersten Zellen in ihrer Rolle noch nicht festgelegt
sind. Für jede einzelne der ersten Zellen gibts noch ein
"Möglichkeitsfeld", ein Stück Haut, ein Stück eines Organs usw. zu
werden. 
Gerade die modernere Biologie betont neuerdings die aktive Rolle der
Organismen bei ihrer Evolution immer wieder. Tierarten und Organismen
sind nicht nur passive Objekte, denen die Umwelt alles aufprägt... Die
Gentechniker (und leider wir mit) werden da noch ihr blaues Wunder
erleben, auch auf dieser Schiene ist nicht alles so determiniert, wie es
die Lego-Genetiker sich wünschen...

Diese Form  der Möglichkeit ist aber eine andere als die, die Stefan
berechtigt betont: die individuelle Möglichkeit, so oder anders zu
denken, zu handeln, zu entscheiden. Diese Möglichkeitsbeziehung kommt
nur den Menschen zu. Ich spreche deshalb nicht von "DER
Möglichkeitsbeziehung der Menschen", sondern von der "spezifischen
Möglichkeitsbeziehung der Menschen" (es mag ja mitunter spitzfindig
erscheinen, aber vielleicht merkt Ihr, was inhaltlich unterschiedlich
ist bei den beiden Formulierungen). 
Ich bin jetzt kein Verhaltensforscher (auch keine -in), was ich davon
weiß ist aber tatsächlich so, daß das Tier in seinem indivduellen
Verhalten eindeutig determiniert wird von seinem aktuellen
Bedarfszustand (Hunger) und dem vorhandenen Umweltangebot (nix da ->
bedeutet auf Suche gehen). Ich hab mal das Verhalten unserer Katze
daraufhin beobachtet. Es sieht zwar manchmal so aus, als überlege sie,
ob sie sich endlich von meinem Schreibtisch runterbequemt, oder es sich
noch mal gemütlich macht... aber letztlich ist das nur ein
determinierter Widerstreit zwischen Bedarfs- und Umweltzuständen. Im
Moment ruht der aber, sie schlummert selig auf dem Fenster neben mir...

Ahoi Annette


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*   Annette Schlemm			*
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