Message 01087 [Homepage] [Navigation]
Thread: oxdeT01071 Message: 5/13 L1 [In index]
[First in Thread] [Last in Thread] [Date Next] [Date Prev]
[Next in Thread] [Prev in Thread] [Next Thread] [Prev Thread]

Re: [ox] Wesen et al



Liebe Sabine, liebe Leute,

das wird jetzt ein bisschen länger. Aber die Debatte ist IMO sehr
zentral.

Der Witz ist: Jede/r hat _sowieso_ solch einen Blick, hat eine
solche "Brille" auf der Nase. Mein Plädoyer ist nun "nur", das
zu explizieren.

Du hast recht. Im Alltagsgebrauch rede ich auch hin und wieder 
von "der Mensch ist..."-blabla....korrigiere mich dann aber immer 
wieder. Das lässt aber dennoch darauf schließen, dass ich ebenso 
von einem "Menschen an sich"-Denken eingenommen bin. Wie ich 
das auflöse, dazu gleich. 

Das ist ganz im Sinne der Offenlegung der
paradigmatischen Grundlagen.

Yup. Ich schaue es mir auch genau an, dein Paradigma ;-)

Und nach meiner Vorstellung, ist es
notwendig, ein wissenschaftliches Verfahren zu haben, um zu 
diesen analytischen Grundbegriffen zu kommen. Das habe ich
von der Kritischen Psychologie gelernt.

Hmm. Hier setzt Du - also, in diesem einen rausgerissenen 
Gedanken hier - hier setzt du *erst* Grundkategorie und willst
dann im Nachhinein ein wissenschaftliches Verfahren dafür 
gewinnen. Ich schlage den umgekehrten Weg vor. Über ein 
wissenschaftliches Verfahren auf die Grundkategorie kommen. 

Huch, wo liesst du das bei mir raus? Anyway - ich stimme dir in
Vorgehensweise zu. Eine gesonderte Diskussion wert ist das
Problem der Ausgangsabstraktion, auf das ich hier nicht weiter
eingehen will.

Zweitens und noch viel wichtiger: Im Grunde ist die Annahme 
eines allgemeinen Menschen als Analysekategorie doch genau 
das gleiche wie die in der herrschenden Wissenschaft rauf
und runter verinnerlichten Annahmen über "das Individuum"
als solches.

Nein, genau nicht. Die herrschende Wissenschaft expliziert
das nicht.

Was meinst Du damit, "sie expliziert das nicht"? "Der Mensch 
ist nutzenmaximierend", das ist doch sehr explizit. Und diese 
Aussage ist den Wissenschaftlern nicht vom Himmel gefallen. Sie 
haben das beobachtet und erklärt (heute nicht mehr, da hast du 

Mit 'explizieren' meine ich nicht 'explizit sagen', sondern als
(wissenschaftlichen) Begriff ausweisen. Dazu gehört die Angabe
einer Methodologie, wie der Begriff gewonnen wurde. Mehr als
'beobachtet und erklärt' war da nie. Genau hast hast du doch so
wunderbar kritisiert: Es ist nicht haltbar, von der Erscheinung
auf das Wesen zu schliessen.

In der traditionellen Psychologie z.B. sind die Begriffe
immer schon "da", in der Regel werden sie "definiert" ("Ich 
verstehe unter xy: ....").

Die Begriffe sind immer schon da? Werden aber in der Regel 
definiert? Dieses "sie sind immer schon da" verstehe ich dann 
nicht. Wenn etwas immer schon da ist, wird es in der Regel gerade 
nicht mehr definiert, sondern gesetzt (wie bei den Prämissen in 
Kuhns Paradigma). Musst mir nochmal erklären.

"Immer schon da" meint, das sie im Alltag (manchmal gehobener:
Wissenschaftsalltag) einfach verwendet werden. Als solche sind sie
natürlich mehrdeutig. Deswegen müssen sie in der
wissenschaftsförmigen Verwendung 'definiert' werden, damit klar
wird, welche der - eigentlich vorausgesetzten - Bedeutungen
gemeint ist. Das meine ich mit 'nicht expliziert': die Begriffe
sind nicht ausgewiesen, sie halt einfach 'da'.

Sie liegen sozusagen ausserhalb der Wissenschaft
selbst. Faktisch werden sie durch "Anschauung" gewonnen. 
Damit haben sie den Charakter von wissenschaftsförmig
(sprachlich aufgemotzt) verdoppelten Alltagsbegriffen.

Das mit dem Verdoppeln verstehe ich auch nicht so recht. Du 
meinst, die Begriffe sind im Kopf so verankert, entstanden in der 
Wahrnehmungswelt ausserhalb des wissenschaftlichen 
Erkenntnisprozesses werden sie in die Wissenschaft hinein 
transformiert, dann dort nochmal affirmativ definiert und sind 
deshalb "doppelt" Oder wie ????

Ja, so in etwa. Wobei sie nicht 'nochmal definiert' werden, denn
im (Wissenschafts-) Alltag wird ja normalerweise nicht definiert,
sondern von einem 'rough consensus' ausgegangen - was auch ok ist.
Wenn aber dieser 'rough consensus' nur noch definitorisch
zugeschnitten wird, dann hat Wissenschaft ihre 'kritische' Potenz
verfehlt, dann bleibt nur noch 'Affirmation' und 'Verdopplung':
Es wird nichts Neues mehr hervorgebracht, sondern Alltägliches
wissenschaftlich verbrämt wiedergekäut.

Kannst Du mir das mal an einem 
Beispiel plastisch machen?

Ein Beispiel, mit dem ich mich sehr eingehend beschäftigt habe, 
ist der Konnektionismus - leidlich bekannt geworden unter der
Bezeichnung 'Neuronale Netze'. Kürzlich hatte ich das Vergnügen,
zu einem Aufsatz mit dem Titel 'Konnektionismus und Psychoanalyse'
eine Kritik schreiben zu dürfen. Dort habe ich drei Begriffe
herausgefischt:
- 'neuronales Netz': so als Redeweise ok, aber sobald man ein
wissenschaftliches Erkenntnisinteresse verfolgt, darf man IMO ein
mathematisches Verfahren nicht mehr so nennen - sonst fällt man
laufend auf seine eigene Redeweise rein;
- 'Bedeutung': hier wird vom Verständnis ausgegangen, das weltliche
Bedeutungen 'vereinbart' würden. Wenn man diese 'Vereinbarungen'
algorithmisch abbilden könne (als Syntax-Semantik-Relationen),
dann sei auch ein mathematisches Verfahren ('neuronales Netz')
in der Lage, 'Bedeutungen' aus der Umwelt zu extrahieren. Ohne es
hier vorzuführen: Das ist kompletter Unsinn.
- 'Lernen': Lernen wird als bloße Adaption, als Anpassung gesehen,
wofür es entsprechende 'Lerntheorien' in der Psychologie gibt. Das
ist nicht nur Unsinn, sondern wird hier in seiner ideologischen
Funktion deutlich: Nichts hinterfragen, sondern an die Vorgaben
anpassen.

Aus meiner Sicht MUSS Wissenschaft (will eine solche sein) sich
kritisch auf solche Vorbegriffe beziehen als sie bloss etwas
aufzumotzen und so nur zu 'verdoppeln' (Alltagsbegriff ->
wissenschaftlich aufgemotzer Alltagsbegriff). IMO macht Wissenschaft
sowieso NUR als _kritische_ Wissenschaft Sinn.

Wen das obige Beispiel näher interessiert, dem kann ich ein Buch
(als Word-Datei:-() schicken, in dem die genannten Punkte
ausführlicher erläutert werden.

Es wäre IMO ganz falsch, den "verinnerlichten Annahmen über 
'das Individuum' als solches" durch einfache Negation zu 
begegnen, wie du vorschlägst.

Ach, ja Scheisse. Da hast Du mich. Das war mir schon während 
des Schreibens meiner letzten Mail bewußt, dass ich nicht
einfach nur negieren kann, also nur sagen kann "das geht so
nicht" ohne eine positive Alternative. Hab ich halt gedacht,
merkt keiner... ;-) Es ist auch schwer, diese Alternative
darzulegen, da sie nicht denkfertig ist.

Das schüttet das Kind mit dem Bade aus. Das ist nicht
nur defensiv, sondern IMO auch unwissenschaftlich.
Aber es ist in gewisserweise Trend, postmodern.

Klingt fast, als fändest Du die Postmoderne 
unwissenschaftlich...*lächel*. Das würden sie weit von sich
weisen wollen, diese Postmodernen.

Auch hier gibt's Unterschiede. Es gibt sozusagen
einen 'wissenschaftlichen Postmodernismus', mit dem man sich
streiten kann (meistens erkenntnistheoretisch), weil die
Grundlagen im obigen Sinne 'explizit' sind. Das ist aber eine
Minderheit, die meisten frönen im schlechten Sinne der
'postmodernen Beliebigkeit'...

Die sagen halt, das Indidviduum ("der Mensch") ist
nutzenmaximierend. Auf dieser Basis wird dann alles erklärt 
und der
Kapitalismus beklatscht, als die beste aller Welten, weil nur
dort das Individuum seinen Nutzen total maximieren kann. Dass
Individuum ist nutzenmaximierend ist das durchgesetzte
Menschenbild - sowohl in der Wissenschaft, als auch im
Alltagsdenken der Leute - und der Denkfehler hat seine Wurzel 
in der Kategorisierung.

Das ist es, was ich mit "wissenschaftsförmiger
Oberflächenverdopplung" meine. 

Da ich das oben noch nicht begriffen habe, wäre es gut, wenn Du 
es mir genau daran, wie du denkst, dass ich wissenschaftlich hier 
verdoppelt habe, erklären könntest.

Du tust das nicht! Die kategorialen Grundlagen zu hinterfragen,
ist IMO genau der richtige Schritt, um solche 'Verdopplungen'
aufzubrechen. Ich habe 'nur' die 'einfache Negation' ("so kann
man das nicht machen") kritisiert und schlage eine 'doppelte
Negation' vor ("...sondern so kann man es machen.").

Wissenschaft muss demgegenüber _kritisch_, muss
_kritische Wissenschaft_ sein. IMO. Der Denkfehler
ist nicht die Kategorisierung als solche, sondern die
_Art_ und inhaltliche Qualität der Kategorien.

Du meinst, der Denkfehler liegt darin, *wie* man auf diese 
Kategorien kommt? Ich wäre sehr erleichtert, wenn du mir in 
diesem Punkt zustimmen würdest, dann würde es nämlich wieder 
passen, dass ich denke, der Weg zu dieser Kategorie muss 
wissenschaftlich sein

Ja, ich stimme dir zu!

(also, kurzer Einschub: Immer dieses blöde 
"wissenschaftlich". Das ist so befrachtet mit hochheiliger 
Erkenntnis und elitärem Kram. Nennen wir es doch "einleuchtend", 
"nachvollziehbar", "schlüssig" oder?). 

Nö, wissenschaftlich ist schon ganz ok. Das ist eine bestimmte
Qualität, die ich beanspruche. Das schliesst 'einleuchtend',
'nachvollziehbar' etc. notwendig ein, ist aber sozusagen
'widerständiger': Es liegt nicht platt auf der Hand, ist eben
nicht platt 'obenflächenverdoppelnd', sondern versucht
'kritisch' Wesen und Erscheinung, Allgemeines und Historisches
etc. voneinander zu trennen.

Sowas ist dann mitunter nicht so easy eingängig - wie z.B. unser
Mailfaden hier, über den gewiss einige hinweg blättern.

Erst die Tatsache, dass ich vom konkreten Menschen
auf einen allgemeinen abstrahiere, bahnt mir den Weg
über Aussagen, die ich diesem Individuum dann zuschreibe.

Richtig. Die Knackfrage ist aber: Wie mache ich das? Das ist
die Frage nach dem wissenschaftlichen Verfahren. Die 
konservierenden "Wissenschaften" vollziehen genau den Fehler,
den du herausgehoben hast: Sie schliessen vom vorfindlichen
konkreten Menschen unter bürgerlichen Verhältnissen auf den
allgemeinen und naturalisieren das dann. Diese Art der
"Oberflächenverdopplung", diese blosse "Affirmation" ist der
Fehler - nicht das Anliegen überhaupt.

Das Anliegen. Das Anliegen ist dann was? Einen Menschen an 
sich formulieren und denken zu wollen. Das ist das Anliegen. Nun 
kommt es also darauf an, wie ich das tue. Inwiefern? Welches sind 
die Kriterien, nach denen ich dieser Kategorie dann Eigenschaften 
zusprechen kann, wenn nicht nach blosser 
Oberflächenbetrachtung, wie es üblich ist, worin wir uns ja einig 
sind...usw. ? 

Ich verstehe, wie etwas ist, wenn ich verstehe, wie es geworden ist!
Ein Standardsatz von mir - hihi:-) Aber auch sehr zentral, denn die
logisch-historische Rekonstruktion des Gegebenen ist der Zugang zur
zur Unterscheidung von Allgemeinem und Aktuell-konkretem. Die Idee
ist die: Das Allgemeine ist das sowohl logisch, als auch historisch 
das Vorgängige. Wenn ist das rekonstruieren kann, dann habe ich es
verstanden.

Einschub:
So ging Marx vor bei der Ware. Mit 'historisch' muss man allerdings
beim Kapital z.B. vorsichtig sein: Man darf der 'entwickelnden'
Darstellung nicht konkrete historische Parallelität unterstellen:
So gab es vermutlich den 'einfachen Warentausch' konkret gar nicht,
sondern der geht logisch der entfalteten Warenzirkulation voraus.
Einschub Ende.

Es besteht die Gefahr, dass man dann auf diese
banalen oder sagen wir es freundlicher "nichts mehr 
erklärenden" Aussagen kommt: Der Mensch ist
nutzenmaximierend oder der Mensch will ein gutes Leben, 
erklärt deshalb nix mehr, weil sowohl "Nutzen maximieren"
als auch ein "gutes Leben" in unterschiedlichster Weise
unterschiedlich mit Inhalten gefüllt
werden kann, je nach gesellschaftlichem oder historischem
Kontext. Es bleiben leere Sätze, weil sie auf solchen hohen
Abstraktionsebenen getroffen werden. (Ich bin nicht 
grundsätzlich gegen Abstraktion, nur nebenbei)

Jetzt bist Du abgebogen. Du kritisierst die _Aussagekraft_ von
Seinsannahmen. Die "Nutzen-maximieren"-Sicht ist aber so nicht
kritisierbar.

Wieso nicht? Eine Aussage, die daher kommt, als wolle sie etwas 
erklären oder ein Modell der Wirklichkeit abbilden, darin aber
völlig versagt, weil sie halt so abtrakt gar nichts mehr erklärt, 
lässt sich genau deshalb kritisieren. Am eigenen Anspruch
gescheitert.

Nein, sie scheitern doch nicht. Sie können sozusagen garnicht
scheitern, da sie nur das Vorhandene affirmieren. Das ist doch
auch der Witz der 'Oberflächenverdopplung': Sie kann nicht
scheitern, sondern ist so eine Art sich selbst erfüllende
Prophezeiung. Deswegen 'funktioniert' bürgerliche Wissenschaft.

Jetzt allgemeiner _mit_ deinen Argumenten: Unterschiedliche
Paradigmen haben unterschiedliche kategoriale (begriffliche)
Systeme. Die bilden sozusagen den Hintergrund aller Argumente,
Strategien, etc. Wenn zwei solch unterschiedlich kategorial
verankerter Leute sich streiten, reden die systematisch
aneinander vorbei - das hast du uns ja so hellsichtig gezeigt.

Ich kann nun so einem 'Oberflächenverdoppler' aus meiner Sicht
überhaupt nichts sagen: Immanent kann das Modell nicht
scheitern (mal krasse Konfusion etc. weggelassen, sowas gibt's
auch immer wieder mal), und von extern kann ich auch nicht
argumentieren, weil sich dann nur verschiedene 'Meinungen'
gegenüberstehen.

Was bleibt? Einzig der Gang auf die 'nächst tiefere' Ebene. 
Wenn man mit den konkreten Argumenten aneinander vorbeiredet,
dann muss man sich die kategoriale Ebene selbst vorknöpfen.
Und wenn das auch nicht funktioniert, dann muss man auf die
erkenntnistheoretische Ebene gehen. Und wenn es dann immer noch
nicht geht, dann ist endgültig Essig. Dann hat man immerhin
die Gegensätze expliziert, transparent gemacht. Das ist manchmal
auch schon viel wert.

Darüber hinaus kann man noch Inhalte kritisieren, das könnte
aber moralisch werden (wogegen ich so strikt auch nicht bin).

Wieder eine andere Liga...

, sondern ausschliesslich über ihren (IMO pervertierten)
Inhalt: Die Naturalisierung konkurrenzförmiger Beziehungen von
Menschen unter fetischistischen Verhältnissen (im Kapitalismus 
in diesem Fall). Sonst geht das voll nach hinten los: Denn ganz
augenscheinlich sind die Menschen doch nun mal so, oder? 
Sieht man doch... (so argumentiert Hartmut).

Mein Satz "Jeder Mensch möchte einfach ein gutes Leben" ist
demgegenüber so allgemein, dass er vorfindliche soziale 
Beziehungen nicht naturalisiert. Ich könnte sogar "ein gutes"
weglassen. Das reicht mir als Ausgangspunkt. Es ist keine
"positive Seinsannahme"

Achso. Das hatte ich so verstanden. Dann bleibst du zufrieden mit 
"der Mensch will ein Leben"? Aber, du sagst doch selbst, das ist 
allgemein. Konkret wird man dich damit festnageln wollen auf "und 
woraus genau besteht das Leben, das der Mensch will?". 

Ja, ok, dann geht es eben los mit der Wissenschaft. Ich würde also
antworten: Dann lass uns das logisch-historisch rekonstruieren.
Glücklicherweise musste ich das nicht tun, das hat mir die
Kritische Psychologie abgenommen :-) Ich vollziehe das nach und
urteile: Geniale Sache. Hier und da könnte man noch dies und das
berücksichtigen, aber der kategoriale Rahmen ist schon mal
geleistet.

(Ich sage nicht: Der Mensch ist gut...) - und insofern ist es
ein wenig ungerecht, diese Annahme der
"Nutzen-maximieren"-Sicht gegenüberzustellen.

Ich weiß, das war ein wenig arg. Aber ich wollte damit nicht 
angreifen, sondern eine Analogie zwischen Denkkategorien 
illustrieren. Wenn Du das mit dem "gut" nicht so meinst, dann 
muss ich davon ab und dich weiter verstehen. Im übrigen hast Du 
es mir ja auch ein wenig heimgezahlt mit den Postmodernen ;-) 

Ich habe das nicht als 'Angriff' empfunden, sondern sozusagen das
Missverständnis vermutet. Und das mit den 'Postmodernen' war auch
nicht meine heimliche 'Rache', sondern - hm, sage ich mal: ein
freundschaftlicher Hinweis auf das Fahrwasser, in das du gerätst.
Nicht ausgeschlossen, dass du dann sagst: Genau mein Fahrwasser...

Also: Die Annahme, dass der Mensch ein Individuum ist, die
Abstraktion also vom konkreten Menschen, die ist noch nicht 
so alt, geschichtlich betrachet. Eigentlich ist dieses Denken
ein Produkt der Entstehung der bürgerlichen Welt. (...)

Das ist ja richtig beschrieben - aber doch kein Grund, heute
Wissenschaft nicht zu betreiben, nur weil diese vor 1000 Jahren 
oder wieviel Jahrne nicht betrieben wurde?

ups. Dass Du das, was die Altvorderen so dachten, 
unwissenschaftlich nennst, erstaunt mich dann doch. In deren 
historisch-kontextuellen Wahrnehmung (in ihrem Paradigma) war 
das sehr wohl wissenschaftlich.

Gemessen am modernen Wissenschaftsbegriff - denn der Begriff ist
selbst ein Produkt der Modernen genauso wie das Denken des
Menschens als Individuum - war das keine Wissenschaft. Aber das
ist unerheblich, denn natürlich gabs Erkenntnisse. Aus heutiger
Sicht relative Erkenntnisse in relativer Sichtweise. Das
Oberflächendenken gehört in diese Zeit, ein anderes Denken war
nicht möglich. Heute ist ein "Entwicklungsdenken in Widersprüchen"
(dialektisches Denken) möglich.

Wir _sind_ rückblickend
schlauer, und das ist gut so.

Sind wir? Gemessen woran "schlauer"?

Gemessen am jeweiligen (wissenschaftlichen) Gegenstand. Gelingt es
uns, in die Wesensstruktur erkennend einzudringen oder bleiben wir
an der Oberfläche kleben. Letztlich geht's dabei immer um die
Praxis: Werden wir handlungsfähiger oder nicht? Deswegen stehen
wir heute wieder in einer globalen Umbruchsituation, für die uns
die Freie Software zeigt, wie man neu mit akkumuliertem Wissen
umgehen kann (muss), um global als Menschheit wieder
handlungsfähiger zu werden.

Da wir sowieso solche Abstraktionen alltäglich im Kopf haben, 
auch Du, Sabine,  bin ich dafür, sie zu explizieren, sie
transparent zu machen, kritisierbar zu machen. 

Na, aber, das ist es doch, was ich versuche. Ich habe sie bei den 
herrschenden Wissenschaften kritisiert, diese Abstraktionen, und 
auch bei Dir, allerdings zu Unrecht, wie sich nun rausstellt. 
Wobei ich aber noch immer nicht Deinen Weg von Beobachtung zu 
Denkkategorie nachvollziehen kann. 

Der geht über die Rekonstruktion der Gewordenheit (s.o.).

Das führt
zwangsläufig zu Seins-Annahmen.

Was ist daran problematisch?

Naja. Problematisch ist halt, dass es meiner Ansicht nach keine 
Seins-Annahmen gibt. Aber darin gerade sind wir uns uneinig.

Problematisch sind unhinterfragbare
Seinsannahmen, weil man vorgeblich darauf verzichtet.

Du unterstellst mir damit also, dass ich zwar Seins-Annahmen 
habe, intuitiv oder wie auch immer, sie aber dadurch, dass ich
sie negiere, nicht transparent mache, nicht? Deine Unterstellung
kann ich nicht ganz leugnen. Auch ich neige dazu, zu sagen, dass
der Mensch halt irgendwie will, dass ihm gut geht. Mir ist noch
keiner begegnet, der leidenschaftlich Unwohlsein verfolgt hätte.

Ok, sind wir uns einig. Jetzt das 'aber':

Aber diese Seins-Annahme in meinem Kopf scheitert halt immer
wieder daran, dass ich beobachten kann, dass Unwohlsein und Gut
gehen und schlecht gehen und Leben wollen so unterschiedlich
besetzt werden kann. Nicht nur historisch. Auch aktuell.

Wieso ist das ein Scheitern? Menschen sind nun mal so
unterschiedlich, haben ihre individuellen Gründe, dieses 'Leben
wollen' in ihrer Weise zu verfolgen. Das ist doch gerade eine
Bestätigung.

Ich kenne soviel Leute, die irre gerne arbeiten. Ich kenne
Leute, die ihr Heil darin finden, nichts zu essen. Ach, ich muss
dir hier keine Beispiele liefern, du weisst, was ich meine.

Ja, das sind Beispiele. Es soll sogar Leute geben, die sich in
verrückten Mailinglisten über die megatheoretischen und
abgedrehtesten Frage wie dem 'Wesen des Menschen' Gedanken
machen. Wenn die mal keinen Schaden nehmen daran... ;-)

Kurz: Es gibt
keine Definition für Gut gehen, oder für SEIN WOLLEN oder LEBEN
WOLLEN als solches (Du hast Dich mit deinem Verzicht auf das
"gut" auch sehr zurückgezogen, was bleibt nun noch übrig, um
meine Frage zu wiederholen?).

Ob mit gut ohne ohne, ist doch nicht entscheidend. Die Menschen
haben ihre Gründe. Diese Gründe können mir von außen betrachtet
komisch vorkommen. Ich muss schon mal fragen, um die Gründe
vielleicht nachvollziehen zu können. Auch so ein Ergebnis der
Kritischen Psychologie: Wenn es um Menschen, um Subjekte geht,
muss ich wissenschaftlich einen Standpunktwechsel vornehmen:
Ich kann die Gründe des Handelns _nicht_ von außen bestimmen,
denn Gründe sind _immer_ 'meine Gründe'. Deswegen kann ich
sinnvoll Menschen nicht von außen 'beforschen', sondern nur die
Menschen selbst können sich erforschen. Gleichwohl geschieht
anderes, klar, aber das ist IMO unangemessen. Meistens wird dann
auch mit Statistik operiert (0,0001% der Bevölkerung treiben sich
gewohnheitsmäßig auf der Oekonux-Liste rum) - doch in Bezug auf
den Einzelnen sind solche Aussagen wertlos. Wieder so ein Thema...

Damit bin ich nun endlich bei meiner Alternative gelandet. Wie 
angekündigt. Ich kann im Grunde nur von mir selbst ausgehen. 

Hurra! Superklasse! Aber was heisst hier 'nur'? Und was heisst
hier 'kann'? Ich _muss_ - das ist die neue Qualität, die eine
neue Gesellschaft ausmachen wird, und die sich jetzt schon in der 
Freien Software abzeichnet. Unbeschränktes, radikales Ausgehen
von je-mir selbst : Selbstentfaltung.

Was tut mir gut? Was will ich? Wie will ich leben? Ich kann 
schauen, ob ich andere Menschen finde, die das gleiche wollen 
und ich kann dann versuchen, dass mit ihnen durchzusetzen. Ich 
kann dann noch mich dazu versteigen, zu denken, dass das, was 
ich will, auch anderen Menschen gut und besser tun würde, als 
das, was sie derzeit erleben. Das denke ich auch. Und ich kann 
versuchen, sie zu überzeugen, dass sie das auch denken. Das ist 
schlicht alles. Ich kann aber nicht sagen, "das wollen wir alle 
müssen, weil wir so sind, von Natur aus". Das kann ich nicht.
Weil das weiss ich nicht, wie wir "als solches sind". 

Hey, darum kann es überhaupt nicht gehen. Schluck, natürlich
kann ich Annahmen zur Natur des Menschen nicht benutzen, um 
irgendwas über andere Menschen hinweg zu setzen. Das ist aber
gerade _Teil_ meiner Auffassung über die Natur des Menschen. Die
schliesst eben gerade ein, dass ich nichts über individuelle
Gründe sagen kann von außen. Sie schliesst ein, dass die neue
Qualität der Produktivkraftentwicklung vom individuellen
Menschen ausgeht.

Wir sind also auf zwei verschiedenen Wegen zu einer ziemlich
ähnlichen Aussage gekommen. Nur meine Kritik bleibt: Die 'einfache
Negation' ist kraftlos und letztlich nicht auflösbar immanent
widersprüchlich (s.u.).

Es gibt unterschiedliche Paradigmen, und insofern bin ich 
postmodern, als dass ich sagen würde, alle haben für sich 
genommen in ihrer Wahrnehmungswelt ihre Richtigkeit.

Entscheidend ist aber die Annahme 'einer Welt', auf die sich
verschiedene Paradigmen beziehen. Die kann ich zwar durch
unterschiedliche 'Brillen' (Kategorien) wahrnehmen, aber es ist
die eine gleiche Welt. Wenn das so ist, dann kann ich mich aber
über 'Richtigkeit' (ich verwende lieber 'Angemessenheit')
streiten, dann hat nicht jedes Paradigma eine gleichbrechtigte
'Richtigkeit'. Vom Metastandpunkt gesehen, ist das eine richtiger
als das andere: Und genau darum ist zu streiten - und nicht
zuzudecken. Immanent gesehen sind die Paradigmen natürlich immer
'richtig', aber das ist tautologisch. Deswegen habe ich oben ja
auch gesagt, dass du sie immanent nicht kritisieren kannst.

Es gibt keine Wahrheit.

Wahrheit ist ein doofes Wort, es ist so statisch. Darin steckt
die Annahme einer möglichen 'absoluten Wahrheit'. Und die negierst
Du, ok, aber wieder nur als 'einfache Negation'. Die Welt
verändert sich sekündlich, sie wird von uns produziert. Besser ist
daher der Begriff der Erkenntnis. Erkenntnis kann wachsen, ist
aber gleichzeitig immer unabgeschlossen. Erkenntnis ist immer
'relative Erkenntnis'.

Ich finde aber halt ebenso meine richtig, richtiger 
als andere, ich lasse nur meine gelten (insofern wieder nicht 
postmodern, wobei die sich auch gerade in diesem Punkt 
widersprechen)

Du kommst aus deinem Widerspruch raus, wenn du von 'Erkenntnis'
ausgehst. Das kannst Du auch radikal subjektiv formulieren: Das
ist meine relative Erkenntnis, von der gehe ich aus. Andere haben
vielleicht andere Erkenntnisse, die auch unterschiedlich
angemessen sein können. 'Angemessen wofür', das wäre dann zu
klären. Und darüber zu streiten - nicht mehr beliebig, sondern
mit klaren Unterschieden und dem Ziel, die bestmögliche Erkenntnis
auf dem derzeitigen Stand rauszufinden.

und ich versuche genau aus diesem Grund andere zu überzeugen,

Überzeugen wovon? Das macht doch echt Stress. Warum ist der
Andere für mich nicht einfach eine Möglichkeit, selbst
weiterzukommen. "Überzeugen" klingt so nach: Ich weiss es besser.

OK, du könntest mir jetzt auch 'Besserwisserei' unterstellen.
Doch ich will dich nicht überzeugen, ich will mit dir zusammen
was rausfinden, will selber in meiner relativen Welterkenntnis
weiterkommen. Das ist aus meiner Sicht auch der Sinn des
Oekonux-Projektes. Weiterkommen für ein eigenes besseres Leben.

stütze mich dabei aber nicht auf Seins-Annahmen, 
weil ich ständig vorgelebt bekomme, dass die unterschiedlicher 
nicht waren und sein können. Seins-Annahmen sind daher 
schwache Unterstützer meiner Argumente. Es geht - wie bei Kuhn -
 um Überredung und zwischen Glauben und Nicht-Glauben gibt es 
Annäherungsmöglichkeiten, mal stärker mal schwächer. 

Ich hoffe verdeutlicht zu haben, dass es Einschätzungen zum
Wesen des Menschen gibt, die die Freiheit des Menschen
einschliessen, ja geradezu voraussetzen, die also deine Position
positiv tragen können.

So. Was sich über den Menschen sagen lässt, ist, dass er in 
gesellschaftlichen Bezügen erst *wird* - das aber heißt im 
Umkehrschluss, dass er individuell nicht sein kann, also 
nicht *ist*.

Oi, oi, oi, da stecken Wesenannahmen drin ;-)
Aber inhaltlich: Niemand *wird* aus dem *Nichts*. Dieses *etwas*,
die die Voraussetzung für alles *Werden* ist, diese genuine Potenz,
um die geht es. Aus meiner Sicht ist das die 'gesellschaftliche
Natur des Menschen' - wie schon mehrfach erwähnt. Diese 'Natur'
ist Ergebnis des oben erwähnten logisch-historischen
Rekonstruktionsprozesses des Menschen. Für diese Rekonstruktion
brauche ich nur eine Seinsannahme: "Der Mensch will (gut) leben."
(Oder negiert: "Der Mensch schadet sich bewußt nicht selbst" - 
unbewußt schon, ab da wird es interessant).

Um noch dem elenden Mißverständnis von Kollektivdogma 
entgegenzuwirken: Erst wenn ich Abstand nehme von einem 
"Menschen an sich" verhindere ich eine Übertragung von Seins-
Annahmen auf ein Kollektiv (ein Kollektiv erfordert erst
konstruierte Gemeinsamkeiten, die nur durch Abstraktion vom
Konkreten zustande kommen).

Nein, das wird dir nicht gelingen. Du kannst nur sagen 'nein',
und das ist nicht viel.

Statt dessen - nun wird es paradox - ermöglicht mir erst das
Abstand nehmen vom "Menschen an sich" das Betrachten des
endlich (!) konkreten Menschen in seiner Besonderheit, in
seinem Individualismus. Und: Jeder ist ein 
besonderer Mensch und nur in Sozialisation mit den anderen 
Besonderen entwickelt und schärft er sein individuelles SEIN. 

Nein, genau so schaffst Du das nicht. Du musst notwendig von dem
gleichen Problem stehen, wie alle Naturalisierer: Was kommt dem
Menschen allgemein zu, was macht er jetzt aus bestimmten Gründen
unter diesen Bedingungen. Da hilft scharfes Hingucken nicht!
Du kriegst den Widerspruch (vorgeblich keine Seinsannahme zu
haben - praktisch aber doch Annahmen machen zu müssen, wie du ja
auch selbst sagst) so nicht weg.

Vorsicht Paradigma! Ich besetze Individualismus also mit einer
ein wenig anderen Konnotation, als im üblichen Sprachgebrauch. 

Ich bin für verwissenschaftlichen Individualismus sozusagen.
Auch Individualismus ist nicht beliebig. Und weil das so ist, bin
ich für Explikation und Verwissenschaftlichung.

Du führst hier selbst vor, in welches Fahrwasser du gerätst,
wenn du gar nicht mehr von "dem Menschen" sprechen kannst.
Welchen Rückzug Du antreten musst. Nein, es geht nicht um
"die Menschen", sondern um den individuellen Menschen, um das
Subjekt, um "je mich".

Vielleicht sind wir gar nicht so weit auseinander.

Das denke ich auch!

Ciao,
Stefan

-- 
  Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen
  HA II, Abteilung Datenverarbeitung
  Kanzlerstr. 8, 40472 Duesseldorf
--
  stefan.meretz hbv.org
  maintaining: http://www.hbv.org
  private stuff: http://www.meretz.de
--

----------------------
http://www.oekonux.de/



[English translation]
Thread: oxdeT01071 Message: 5/13 L1 [In index]
Message 01087 [Homepage] [Navigation]