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Re: [ox] Wesen et al



Hi Sabine und Stefan, Hartmut, Listige!

Sehr interessante, wichtige und auch anspruchsvolle Debatte. Da werden
auch unsere Positionen zu dieser Frage noch mal stärker differenziert
und konturiert. Super!

Ich springe mal kurz beim Stand vom letzten Donnerstag rein.

Last week (8 days ago) sabine nuss wrote:
Zweitens und noch viel wichtiger: Im Grunde ist die Annahme eines
allgemeinen Menschen als Analysekategorie doch genau das
gleiche wie die in der herrschenden Wissenschaft rauf und runter
verinnerlichten Annahmen über "das Individuum" als solches. Die
sagen halt, das Indidviduum ("der Mensch") ist
nutzenmaximierend. Auf dieser Basis wird dann alles erklärt und
der Kapitalismus beklatscht, als die beste aller Welten, weil nur
dort das Individuum seinen Nutzen total maximieren kann. Dass
Individuum ist nutzenmaximierend ist das durchgesetzte
Menschenbild - sowohl in der Wissenschaft, als auch im
Alltagsdenken der Leute - und der Denkfehler hat seine Wurzel in
der Kategorisierung. Erst die Tatsache, dass ich vom konkreten
Menschen auf einen allgemeinen abstrahiere, bahnt mir den Weg
über Aussagen, die ich diesem Individuum dann zuschreibe. Egal,
ob ich ihm zuschreibe, dass das Individuum nutzenmaximierend
ist, oder ob ich ihm zuschreibe, dass er gutes will. Es liegt die
gleiche Vorgehensweise - mit unterschiedlichen Konsequenzen -
zugrunde. Es besteht die Gefahr, dass man dann auf diese
banalen oder sagen wir es freundlicher "nichts mehr erklärenden"
Aussagen kommt: Der Mensch ist nutzenmaximierend oder der
Mensch will ein gutes Leben, erklärt deshalb nix mehr, weil sowohl
"Nutzen maximieren" als auch ein "gutes Leben" in
unterschiedlichster Weise unterschiedlich mit Inhalten gefüllt
werden kann, je nach gesellschaftlichem oder historischem
Kontext. Es bleiben leere Sätze, weil sie auf solchen hohen
Abstraktionsebenen getroffen werden. (Ich bin nicht grundsätzlich
gegen Abstraktion, nur nebenbei)

Na ja leer sind sie auf eine gewisse Weise nicht. Sowohl "Nutzen
maximieren" als auch "gutes Leben" sind ja letztendlich massivst
individuelle Kategorien. Jedes Individuum ist dazu verdammt / frei für
sich ganz persönlich zu entscheiden, was maximaler Nutzen, was gut
ist.

Die Verkürzung, die im Alltagsbewußtsein und von den kapitalistischen
IdeologInnen durchgeführt wird, ist dann genau die, daß

	maximaler Nutzen == maximaler materieller Reichtum

und das ist natürlich falsch.

Aber zu dem Thema schrieb Sabine später noch mehr. Ich komme drauf
zurück.

Last week (8 days ago) PILCH Hartmut wrote:
Dabei ist dennoch die Neigung zum Egoismus nicht ueberwunden.
Diese Neigung steht sogar im menschlichen Leben ganz am Anfang.   Ein
Saeugling ist kein gesellschaftliches Wesen.  Er kennt weder ein Ich noch
ein Du oder ein Kollektiv sondern nur den Unterschied zwischen Schmerz und
Befriedigung.

In der Tat gibt es kaum eine Phase des menschlichen Lebens, in denen
ein Mensch gesellschaftlicher ist als in der Säuglings- und
Kleinkinderphase. Einerseits sind so junge Menschen existentiell auf
andere Menschen so stark angewiesen, wie später nur noch bei schweren
Krankheiten, andererseits verstehen es Babys und kleine Kinder auch
hervorragend, sich Gesellschaftlichkeit zu organisieren - was jedeR
weiß, der schon mal ein schreiendes Baby gehört hat...

Daß sie in diesem Alter noch keinen Begriff von Gesellschaftlichkeit
haben so wie wir heute darüber reden, tut dem keinen Abbruch.

Das Ich bildet sich allmaehlich durch den Umgang mit dem Du heraus.
Dieses Ich ist aber noch ziemlich egoistisch.

Egoistisch finde ich die falsche Kategorie. Das setzt ja eigentlich
das voraus, von dem du sagst, daß es noch gar nicht da ist. Ein Ich
bildet sich natürlich im Umgang mit dem Du heraus - und das heißt vor
allem eine Erfahrung eigener Grenzen.

6 days ago sabine nuss wrote:
Stefan Meretz wrote:
Also: Die Annahme, dass der Mensch ein Individuum ist, die
Abstraktion also vom konkreten Menschen, die ist noch nicht so
alt, geschichtlich betrachet. Eigentlich ist dieses Denken ein
Produkt der Entstehung der bürgerlichen Welt. Der Mensch ist
gleich, frei und so weiter. Erst mit dem Auslösen der Leute aus
ihren gesellschaftlichen-sozial-ökonomischen Beziehungen
(Leibeigenschaft, Stände, usw.) hinein ins bürgerliche Leben der
gleich doppelt freien Arbeiter, die dann nichts weiter mehr als ihre
Arbeitskraft zu verkaufen hatten, begann der ganze Kladderadatsch
mit dem Individuum. Die Kategorie des Individuums, die ich mit der
Kategorie des Menschen als solches gleichsetzen möchte, gab es
vorzumals nicht in dieser Form. Da gab es Kategorien wie "die
Sklaven" oder der "obere Stand", die Leute wurden also in ihren
gesellschaftlichen Rollen/Ständen/Schichten begriffen und nicht als
Individuum. (Bitte das alles nun analytisch und nicht wertend
begreifen).

Das ist ja richtig beschrieben - aber doch kein Grund, heute
Wissenschaft nicht zu betreiben, nur weil diese vor 1000 Jahren oder
wieviel Jahrne nicht betrieben wurde?

ups. Dass Du das, was die Altvorderen so dachten,
unwissenschaftlich nennst, erstaunt mich dann doch. In deren
historisch-kontextuellen Wahrnehmung (in ihrem Paradigma) war
das sehr wohl wissenschaftlich.

Das will ich meinen! Ich lehne ein überhistorisches, akulturelles
Verständnis von Wissenschaft ab wie so ziemlich jedes andere
überhistorische, akulturelle Verständnis.

Wir _sind_ rückblickend
schlauer, und das ist gut so.

Sind wir? Gemessen woran "schlauer"?

Eben!

Ich plädiere für einen *radikalen* Rekurs auf unsere eigene ganz
konkrete und historische Kulturalität und Individualität. Ähnlich wie
Sabine würde ich die einzig mögliche Richtschnur für unser Handeln aus
unserem ganz konkreten und historischen Sein, letztlich aus unseren
konkret gewordenen Bedürfnissen ableiten. Wir können vielleicht
hoffen, daß wir Leute dafür begeistern können, die einen ähnlichen
Hintergrund haben wie wir - und wenn das erfolglos bleibt haben wir
deswegen nicht weniger Recht mit unseren Bedürfnissen.

Und eigentlich kann es uns ja auch völlig egal sein, ob die damals
Recht hatten oder nicht: Spannend ist das nur, wenn es uns heute was
sagt.

Problematisch sind unhinterfragbare
Seinsannahmen, weil man vorgeblich darauf verzichtet.

Du unterstellst mir damit also, dass ich zwar Seins-Annahmen
habe, intuitiv oder wie auch immer, sie aber dadurch, dass ich sie
negiere, nicht transparent mache, nicht? Deine Unterstellung kann
ich nicht ganz leugnen.

Hmm... Vielleicht so: Aus unserer tagtäglichen Erfahrung mit unserer
Umwelt haben wir natürlich ein gerüttelt Maß an Erlebnissen mit
unseren Mitmenschen. Daraus verallgemeinern wir natürlich - müssen
wir, sonst könnten wir keinen Schritt vor die Tür setzen.

Daß diese Verallgemeinerung allerdings eben *nicht* zu Seinsannahmen
schlechthin führen darf, ist in kritischer Denktradition wohl
unbestritten. Also: Vielleicht müssen wir einfach transparent machen,
was für uns je eine Verallgemeinerung ist.

Auch ich neige dazu, zu sagen, dass der
Mensch halt irgendwie will, dass ihm gut geht. Mir ist noch keiner
begegnet, der leidenschaftlich Unwohlsein verfolgt hätte. Aber
diese Seins-Annahme in meinem Kopf scheitert halt immer wieder
daran, dass ich beobachten kann, dass Unwohlsein und Gut gehen
und schlecht gehen und Leben wollen so unterschiedlich besetzt
werden kann. Nicht nur historisch. Auch aktuell. Ich kenne soviel
Leute, die irre gerne arbeiten. Ich kenne Leute, die ihr Heil darin
finden, nichts zu essen. Ach, ich muss dir hier keine Beispiele
liefern, du weisst, was ich meine. Kurz: Es gibt keine Definition für
Gut gehen, oder für SEIN WOLLEN oder LEBEN WOLLEN als
solches (Du hast Dich mit deinem Verzicht auf das "gut" auch sehr
zurückgezogen, was bleibt nun noch übrig, um meine Frage zu
wiederholen?).

Damit bin ich nun endlich bei meiner Alternative gelandet. Wie
angekündigt. Ich kann im Grunde nur von mir selbst ausgehen.
Was tut mir gut? Was will ich? Wie will ich leben?

Ganz genau. Ich kann hier und heute zumindest einigermaßen Aussagen
darüber machen, was für mich ein gutes Leben wäre - auch was für mich
maximaler Nutzen wäre. Das finde ich durchaus eine tragfähige Basis.

Bevor Christoph jetzt wieder die AutonärrInnen anführt: Ein Bedürfnis
kann und muß natürlich reflektiert werden - vor allem aber muß die Art
und Weise der Bedürfnisbefriedigung reflektiert werden, denn die
Bedürfnisbefriedigung ist nicht das Bedürfnis selbst.

Ich kann
schauen, ob ich andere Menschen finde, die das gleiche wollen
und ich kann dann versuchen, dass mit ihnen durchzusetzen. Ich
kann dann noch mich dazu versteigen, zu denken, dass das, was
ich will, auch anderen Menschen gut und besser tun würde, als
das, was sie derzeit erleben. Das denke ich auch. Und ich kann
versuchen, sie zu überzeugen, dass sie das auch denken. Das ist
schlicht alles. Ich kann aber nicht sagen, "das wollen wir alle
müssen, weil wir so sind, von Natur aus". Das kann ich nicht. Weil
das weiss ich nicht, wie wir "als solches sind".

006


						Mit li(e)bertären Grüßen

						Stefan

PS: 006 ist der oktale Code für ASCII-ACK ;-) .


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http://www.oekonux.de/



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