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Re: [ox] Proprietarismus und Sozialismus



Lutz schrieb:

Wenn allerdings die technischen und gesellschaftlichen Möglichkeiten
gegeben sind, jedem Menschen qua Existenz ein auch materielles
Existenzrecht einzuräumen - warum sollte das dann nicht geschehen?
Zumindest grundsätzlich.

Zunaechst aus dem Grund, den Paulus und Margaret Thatcher in dem einfachen
Spruch formulieren:  "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen".

Die Moeglichkeiten sind nur deshalb gegeben, weil andere Leute arbeiten.
Den Zwang zur Arbeit zu meistern, gibt auch Selbstwertgefuehl.  Das
inhumanste, was man m.E. einem Strafgefangenen antun kann, ist von ihm
*nicht* zu verlangen, dass er arbeitet.

Meinst Du das wirklich ernst? Ich glaube, hier laufen doch einige
Begriffe durcheinander. Inhuman einem Strafgefangenen gegenüber wäre
sicherlich, ihm jede Tätigkeit, die für ihn sinnvoll ist, zu verbieten.
Inhuman wäre es, einen Strafgefangenen in Isolationshaft, ohne Zugang zu
körperlicher und geistiger, ohne soziale Kontakte zu halten. Aber mir
scheint, dass das nicht das ist, was Du meinst.

Das auch.  Ich halte es auch für inhuman, jemanden, der nachweislich
mit seiner Freiheit nicht umgehen konnte, wie einen freien Erwachsenen
zu behandeln.  Hier ist Sühne und wohlmeinende Bestrafung (eine Art
harte Pädagogik) notwendig, nicht bloßes Wegsperren und Gammelnlassen.
Aber ich weiß, dass das ziemlich schwer durchzuführen ist, ganz davon
abgesehen, dass es einen Aufschrei von allerlei vermeintlichen
Humanisten verursachen würde.

Eher interpretiere ich Deine Aussage so, dass es inhuman wäre, einem
Strafgefangenen nicht die "Möglichkeit" zu geben, sich für die
Gesellschaft "nützlich" zu machen, und sei es auch mit noch so
stumpfsinnigen und sinnlosen Tätigkeiten.

Stumpfsinnige Tätigkeiten dienen meist nur der Erniedrigung.  Das ist
keine strafende Pädagogik und führt den Straftäter auch nicht auf eine
bessere Bahn.

Selbstwertgefühl entsteht doch wohl nicht daraus, sich mit
offensichtlich sinnlosen Strukturen halbwegs erfolgreich auseinander
zu setzen und diesen eine noch so kleine persönliche Befriedigung
abzutrotzen.  Mein Selbstwertgefühl wird jedenfalls nicht dadurch
gestärkt, dass ich mich als funktionierenes Rätchen der Maschine
betrachten kann. Dabei ekle ich mich eher vor mir selbst.

Allein die Fähigkeit, als Rädchen zu funktionieren, bringt schon ein 
elementares Selbstwertgefühl.  Die Frage, wie sinnvoll die Maschine eigentlich
ist, kommt erst später.  Am besten ist es natürlich, wenn der Sinn der Maschine
für die Beteiligten irgendwie erfahrbar ist und von anderen Gruppenmitgliedern
(oder Pädagogen) geschätzt wird.

Aber das Strafgefangenenbeispiel war nur ein Extremfall, mit dem ich klar
machen wollte, dass Freiheit erst ab einer gewissen Schwelle legitim und
human ist, und dass ein Erwachsener immer auf die Stufe des Kindes
zurückfallen kann, das ja auch keine volle Freiheit genießt.  Es ging
nicht darum, eine konsequente Umsetzung dieser Gedanken im Strafvollzug
oder sonstwo zu verlangen.  Da spielen dann noch andere Überlegungen mit
eine Rolle.

Was die gesellschaftliche Notwendigkeit zur Arbeit angeht, fehlt mir bei
Dir die klare Unterscheidung zwischen zur Reproduktion der eigenen
Existenz notwendiger Tätigkeit und fremdbestimmter, dem Selbstzweck des
Fetisch geschuldeter Arbeit. Das zweite kann in einer Freien
Gesellschaft nie als irgendeine Begründung für einen wie auch immer
gearteten Zwang dienen.

Ich schlage ja lediglich vor, das Konzept des Mindesteinkommens durch ein
Konzept der staatlichen Ausschreibung für sinnvolle Arbeiten zu ersetzen,
welche die Funktion der Grundversorgung erfüllen und gleichzeitig nötige
Infrastrukturen aufbauen.
 
Eine Gesellschaft ohne Zwang ist eine unfreie Gesellschaft.  Das ist eines
von vielen Paradoxen.  Die Abschaffung jeglichen Zwanges bedeutet
naemlich, dass man den Menschen sehr viele vielleicht sehr hilfreiche
Organisationsoptionen wegnimmt.
 
Welche Optionen mögen das wohl sein? Die Option, sich selbst im Namen
der Standortsicherung auszubeuten; die Option, einzelnen oder Gruppen
Macht über ander zu geben und sie diese ausnutzen lassen? Welche auf
Zwang basierende Option ist denn Deiner Meinung nach geeignet, eine
Freie Gesellschaft sinnvoll zu organisieren?

Z.B. Pflichtbeiträge wie Steuern o.ä.
 
Mit der Frage "Wer entscheidet das?" habe ich daher wenig Probleme.
Man kann schon eine legitime Form der Entscheidung aufbauen, wenn man
will.
Viel mehr Probleme habe ich mit dem Prinzipienreiten, hinter dem sich der
Unwillen zur Loesung von gesellschaftlichen Problemen verbirgt.

Wer ist denn jetzt damit wieder gemeint? Wir oder "Sie"?

Es war die Rede davon gewesen, dass z.B. Raumfahrt in der angestrebten
Gesellschaft unmöglich werden könnte, weil sie nur auf freiwilliger Basis
von Individuen jenseits aller "Verwertungszwänge" betrieben werden könte.  
Wenn nützliche gesellschaftliche Projekte um der Freiheit willen unmöglich
werden, hat die Gesellschaft weniger Freiheit.
 
"Leistung", "sich freischwimmen": bei solchen Begriffen wird mir richtig
übel. Warum zu Teufel muss überhautp der Umstand eintreten, dass sich
der Mensch aus einer prekären Lage "freischwimmen" muss? Und bitte
welche "Tugenden" soll er dabei erlernen? Selbsterniedrigung,
Arschkricherei,...?

Ausdauer, Disziplin, Zurechenbarkeit, Verantwortung, Gründlichkeit,
Pünktlichkeit etc Ohne Sekundärtugenden kommt man m.E. gar nicht zu den
Primärtugenden.  Diese setzen vielfach darauf auf.

Sie setzen eine Geisteshaltung voraus, die bei den Sekundärtugenden auf
niedriger Ebene eingeübt wurde.

Natürlich kann es auch vorkommen, dass die Leute bei letzteren stehen
bleiben und vielleicht sogar ziemlich verbissen darin verharren.  Das ist
aber ein anderes Problem.

Wo Schlendrian herrscht, ist es meist auch mit den Primärtugenden nicht
weit her, sagt mir meine Erfahrungen.

Von der Meisterung äußerlich aufgedrängter Herausforderungen bis zur
selbstgewählten verallgemeinerbaren Richtschnur des Handelns im Sinne der
Kantschen Ethik ist die Entfernung nicht unbedingt weit.  Jedenfalls näher
als vom Herumlungern dort hin.

Auch Kindern tut ein gewisser wohlmeinender Drill ganz gut, wie ich immer
wieder an meiner Tochter beobachte, die gelegentlich in China einige Zeit
verbringt und dabei sehr gute Fortschritte macht.  Im dortigen
Kindergarten werden Kinder autoritärer (aber dennoch liebevoll) gefordert
als bei uns oder in Amerika.

Dein Konzept zerstört Verantwortung weil die Richtschnur für das
Handeln von außen kommt und nicht von innen.

Es kommt nur dann von aussen, wenn innnen nichts vorhanden ist.
Derjenige, der der Freiheit noch nicht gewachsen ist, wird an die Hand
genommen.

Du meinst wohl eher: er kriegt eine in die Fresse.

Manchmal wäre vielleicht auch das heilsam.  Nur schwer systematisch
umzusetzen.
 
Aber ich weiss auch, dass ich bei einer Lobby-Sitzung in Bruessel (wie
diese Woche) die hier angedachte Mentalitaet absolut nicht gebrauchen
kann.  Das zerstoert jegliche Glaubwuerdigkeit, und das Ergebnis ist die
sofortige Einfuehrung von Softwarepatenten.

Das kann ja wohl kein Grund sein, diese "Mentalität" nicht anzudenken.
Sich selbst das Denken in Alternativen zu verbieten, nur weil andere
sich diesen nicht öffnen können, kommt der Selbstzenzur schon erheblich
nahe.

Klar.  Meine Reden über Leistungsdruck u.dgl. würde ich da ja auch nicht
vortragen.
 
Übrigens habe ich nicht den Eindruck, dass aktuell die Politiker in der
von Dir beschriebenen Weise dem Souverän schmeicheln. Ganz im Gegenteil:
Dein Prinzip trifft dort auf offene Ohren und umsetzungsbereite Hände.

Allenfalls "klammheimlich".  Lippenbekenntnisse werden eher in Richtung
des von euch hier mehrheitlich propagierten Prinzips geleistet.

Aufgabe es war, den Souveraen und seine Staatsdiener innerhalb einer
kleinen Hof-Oeffentlichkeit zu kritisieren.  Scharfe Kritik am Souveraen
wurde als Treue zum System gewertet.  Wenn diese Funktion verfiel, nahm
man das als ein Indiz fuer den Verfall der Dynastie.  In aehnlicher Weise
urteilte Platon ueber den Verfall der Demokratie zur Ochlokratie. In
solchen Verfallszeiten verlangen die Politiker dem Souveraen immer weniger
ab, haetscheln ihn immer mehr, reden immer besessener ueber die Rechte von
leistungsschwachen Minderheiten usw (kann man alles im "Staat" nachlesen).  

Sag mal, ist das als Provokation gemeint und willst Du sehen, wie sich
die verkalkten Linken alle über Deine Postings aufregen, oder wie?

:-)

"Leistungsschwache Minderheiten" hat im Zusammenhang Deiner
Argumentation leider keinerlei emazipatorische oder soziale Bedeutung,
sondern bedeutet schlicht: Weg mit dem Pack!

Nein.  Es spielt aber darauf an, dass Diskussionen über Homo-Ehen,
Tierschutz, Geschlechter-Proporz, Zeugungsrechte geistig Behinderter uvm
ins Zentrum der Diskussion rücken und für sehr wichtig erachtet werden.  
Im Athen des späten 5. Jhd vor Christus war es ähnlich. Nicht dass das
alles unberechtigt wäre.

Platons Beschreibung endet mit dem Satz:  "Wenn es soweit gekommen ist,
ist die Zeit fuer die Neuerrichtung der Alleinherschaft (Monarchie) reif."

Eben.

Daher sehe ich auch in der Verhaetschelung des Souveraens eine Untreue zum
System der Demokratie.  Die Weiterentwicklung der Demokratie wuerde
eigentlich eher erfordern, dass man Institutionen wie das chinesische
Zensorat einrichtet, so z.B. eine Pflicht zur politischen Bildung und
staerkere Entscheidungsrechte im Gegenzug zu entsprechender Qualifikation.

Also Wahlrecht erst nach Ableistung von Pflichtqualifikationen, Entzug
desselben bei erwiesener Unmüdigkeit, oder was? :-/

So ähnlich.  Einen entgültigen Entzug sollte es nicht geben.  Eher eine
ständige Lernpflicht für alle.  Es geht nicht darum, möglichst viele Leute
auszuschließen sondern möglichst viele Leute in die Lage zu versetzen, von
ihren Rechten einen solchen Gebrauch zu machen, dass diese Rechte nicht
verfallen und zu der Nahezu-Farce verkommen, die unsere heutigen Wahlen
sind.

Etwa im Sinne der Meritokratie, wie wohl auch beim W3C und in
Hackergesellschaften ueblich.

Nur das es in der W3C oder der Hackergesellschaft nicht um die Existenz
des Einzelnen sondern um vergleichsweise unwichtige Dinge geht. In einem
solchen Zusammenhang kann man es erlauben, auf die Meinung vieler zu
verzichten. Bei der Organisation der Gesellschaft jedoch bedeutet das
Unfreiheit und das Ausüben von Macht.

Es könnte m.E. eher ein mehr an Freiheit bedeuten, wenn man es richtig
macht. Wieder so ein Paradox.

Ziemlich wild, diese Diskussionen.  Aber wir sind ja hier nicht vor der
EU-Kommission.  Meistens entwickelt sich die Gesellschaft ziemlich
unabhängig von irgendwelchen Vernunftentwürfen, und nur solche Entwürfe
kommen zum Einsatz, die sich zum Missbrauch durch aktuelle politische
Mächte gerade gut eignen.

Insofern können wir hier ganz ruhig als Lockerungsübung alle möglichen
Politfantasien diskutieren, ohne befürchten zu müssen, dass das zu einer
besseren oder schlechteren Welt führt.

Viele Grüße

-phm 



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http://www.oekonux.de/



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