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Re: [ox] Proprietarismus und Sozialismus



Lutz schrieb:

Es war die Rede davon gewesen, dass z.B. Raumfahrt in der angestrebten
Gesellschaft unmöglich werden könnte, weil sie nur auf freiwilliger Basis
von Individuen jenseits aller "Verwertungszwänge" betrieben werden könte.  
Wenn nützliche gesellschaftliche Projekte um der Freiheit willen unmöglich
werden, hat die Gesellschaft weniger Freiheit.

Ich glaube nicht, dass wir den selben Begriff von Freiheit haben.
Insbesondere würde mich interessieren, was Du eigentlich genau unter
"gesellschaftlicher" Freiheit verstehst. Meinst Du, dass jedes Projekt,
das man vielleicht auch als "nützlich" definieren kann, das aber vom
Einzelnen aus welchen Gründen auch immer nicht vollbracht werden kann,
an sich schon diese Freheit erhöht? Ich hätte also als Einzelner die
"Freiheit", auf meine persönliche Freiheit und die meiner Mitmenschen zu
verzichten, um z.B. Raumfahrt zu beteriben, auf alle Fälle aber die
"gesellschaftliche" Freiheit zu fördern? Ich sehe nicht ganz, von
welcher Art solche Projekte sein könnten, und vor allem, welchen Sinn
sie für die allgemeine je individuelle Freiheit haben könnten.

Wenn die Raumfahrt zu Erkenntnisgewinnen führt, wird damit ein freies
Gemeingut geschaffen, das den Handlungsspielraum aller Menschen erweitert.
Handlungsspielraum ist Freiheit.  Letztlich lassen sich auch die
defensiven Freiheiten als "ungehinderte Verfuegung ueber etwas, was zur
Sphaere der Gemeingueter gehoeren und von niemandem zu Machtzwecken
privatisiert werden sollte" definieren.

Eine Gesellschaftsform, die keine kollektiven Anstrengungen erlaubt,
weil jeder einzelne um Zustimmung gefragt werden muss, erzeugt zu hohe
Transaktionskosten und scheitert letztlich an der "Warum gerade
ich?"-Denke, m.a.W. an der Allmenden-Tragödie.

Ausdauer, Disziplin, Zurechenbarkeit, Verantwortung, Gründlichkeit,
Pünktlichkeit etc Ohne Sekundärtugenden kommt man m.E. gar nicht zu den
Primärtugenden.  Diese setzen vielfach darauf auf.

Komisch, ich dachte immer, die Sekudärtugenden kommen als zweites, daher
der Name?!

Sie sind von ihrem Wert her sekundär.
 
Wo Schlendrian herrscht, ist es meist auch mit den Primärtugenden nicht
weit her, sagt mir meine Erfahrungen.

Jaja, die böse "Faulheit", die "Gammler". Warum ist mir Dein Modell
eigentlich nur so unsympathisch? ;-)

Ich denke an Länder wie Italien, Rumänien oder auch China oder
Russland, wo die meisten Leute große Lebenskünstler sind.  Manchmal
führt das zu einer witzigen oder poetischen Lebenseinstellung
(vielleicht auch zu guter Musik wie bei Zigeunern), aber insgesamt
möchte man in der Gesellschaft nicht leben, und die allgemeine
Demoralisierung erfasst von unten her auch die Primärtugenden.

Von der Meisterung äußerlich aufgedrängter Herausforderungen bis zur
selbstgewählten verallgemeinerbaren Richtschnur des Handelns im Sinne der
Kantschen Ethik ist die Entfernung nicht unbedingt weit.  Jedenfalls näher
als vom Herumlungern dort hin.

Nur, dass die Kantsche Maxime eben keine durch äußeren Zwang
hervorgerufenen, sondern eine aus der Betrachtung der rein logischen
Notwendigkeiten einer Moral entstehende Formel. Nicht die Reaktion auf
welche Umstände auch immer, sondern die Selbstbetrachtung des
Individuums und seiner moralischen Disposition steht bei Kant im
Mittelpunkt.

Die ist aber anstrengend und will gelernt werden.  Der Alltag bietet
dazu ein erstes Übungsfeld.

Daher: Wer sich immer nur der Bewältigung des Zwangs hingibt, ist von
solch innerer Betrachtung weiter entfernt, als der eventuell
kontemplativ "Herumlungernder". Jener ist bereits mit der kleinsten
Befriedigung abspeisbar, dieser kann nach mehr verlangen.

Das kann ich nicht nachvollziehen.  Die Bewältigung des
Leistungsdrucks (icht immer Zwang) kann dazu dienen, Kraft aufzubauen
und später weitere Probleme zu bewältigen.  Leben entwickelt sich
gegen Widerstand.
 
Auch Kindern tut ein gewisser wohlmeinender Drill ganz gut, wie ich immer
wieder an meiner Tochter beobachte, die gelegentlich in China einige Zeit
verbringt und dabei sehr gute Fortschritte macht.  Im dortigen
Kindergarten werden Kinder autoritärer (aber dennoch liebevoll) gefordert
als bei uns oder in Amerika.

Was der Linken von der Rechten mangels Ostblock nicht mehr vorgeworfen
werden kann, kann nun umgekehrt Dir und allen anderen Autoritätsuchenden
als Rat mit gegeben werden: Geh' doch nach drüben!

Ich gehe da öfters mal längere Zeit hin, finde es da recht angenehm,
preise aber China keineswegs als Vorbild an.  Ich sehe lediglich mit
offenen Augen die Wirkung unterschiedlicher Erziehungsansätze, ihre
Vor- und Nachteile.  Ebenso wie ich in den 80er Jahren bei aller
Abneigung zum DDR-System immer einen Teil der Publikationen und
Kulturarbeit der DDR (ebenso wie des maoistischen China) und manches
andere als der liberalen Demokratie überlegen angesehen habe.  Das
wird durch grundlegendere Konstruktionsfehler aber mehr als
wettgemacht.  Wer in den 70/80er Jahren sich von seiner Abneigung zum
Kapitalismus so weit verblenden ließ, dass er die Aggressivität des
Sowjetblocks leugnete und die Solidarität mit der legitimen
militärischen Selbstverteidigung des Westens aufkündigte, erntete
damals zu Recht bittere Vorwürfe wie "Geh doch nach drüben!".

Viele Grüße

-phm


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http://www.oekonux.de/



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