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Re: [ox] Proprietarismus und Sozialismus



Hallo Stefan,

Hieraus sollte man nicht folgern, dass etwa die Freiheit vom Zwang zum
Prinzip "Lebenschance gegen Leistung" der Kultur besonders foerderlich
ist.

Es koennte auch umgekehrt so sein, dass sich manche grosse Leistung erst
dort entfaltet, wo man gegen diese Last der Zivilisation ankaempfen und
sich freischwimmen muss.

Hmm... Halb und halb - wobei mir deine Wortwahl ("Last der
Zivilisation") nicht ganz klar ist.

Spielt auf Poppers Konzept "strain of civilisation" (in "Die Offene
Gesellschaft und ihre Feinde") an.

Es gibt eine recht bedenkliche Tradition der Suche nach dem Paradies und
der Begruendung eines Rechts auf Faulheit.

Wenn allerdings die technischen und gesellschaftlichen Möglichkeiten
gegeben sind, jedem Menschen qua Existenz ein auch materielles
Existenzrecht einzuräumen - warum sollte das dann nicht geschehen?
Zumindest grundsätzlich.

Zunaechst aus dem Grund, den Paulus und Margaret Thatcher in dem einfachen
Spruch formulieren:  "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen".

Die Moeglichkeiten sind nur deshalb gegeben, weil andere Leute arbeiten.
Den Zwang zur Arbeit zu meistern, gibt auch Selbstwertgefuehl.  Das
inhumanste, was man m.E. einem Strafgefangenen antun kann, ist von ihm
*nicht* zu verlangen, dass er arbeitet.

Sowohl fuer die persoenliche als auch fuer die gesellschaftliche
Entwicklung koennte als Prinzip gelten, dass die Freiheit zunaechst durch
Disziplin erworben werden muss.

Hmm... Auch wenn ich Disziplin auch ein nützliches Konzept finde, habe
ich damit große Schwierigkeiten: Nur wenn du einE braveR SoldatIn /
einE treueR VolksgenossIn / ein braves Kind bist, dann kriegst du
einen Lutscher. Wer entscheidet das? Du? Warum nicht ich? Warum bist
du brav? Warum ich?

Eine Gesellschaft ohne Zwang ist eine unfreie Gesellschaft.  Das ist eines
von vielen Paradoxen.  Die Abschaffung jeglichen Zwanges bedeutet
naemlich, dass man den Menschen sehr viele vielleicht sehr hilfreiche
Organisationsoptionen wegnimmt.

Mit der Frage "Wer entscheidet das?" habe ich daher wenig Probleme.
Man kann schon eine legitime Form der Entscheidung aufbauen, wenn man
will.
Viel mehr Probleme habe ich mit dem Prinzipienreiten, hinter dem sich der
Unwillen zur Loesung von gesellschaftlichen Problemen verbirgt.
 
Ich würde dem das Prinzip der Verantwortung entgegenstellen. Das geht
in eine ähnliche Richtung, vertraut aber dem Individuum. Verantwortung
ist dabei ein Phänomen, das erst dann auftritt wenn du den Menschen
auch den Raum dafür läßt - ein Grund, warum Verantwortung heute keine
verbreitete Tugend ist.

Das Prinzip "Existenzmoeglichkeit gegen Leistung" laesst genug Raum fuer
den Einzelnen, sich freizuschwimmen und Verantwortung zu uebernehmen.
Gerade bei der Meisterung der unausweichlichen Grundherausforderung lernt
man einige der dazu notwendigen Tugenden.

Dein Konzept zerstört Verantwortung weil die Richtschnur für das
Handeln von außen kommt und nicht von innen.

Es kommt nur dann von aussen, wenn innnen nichts vorhanden ist.
Derjenige, der der Freiheit noch nicht gewachsen ist, wird an die Hand
genommen.
Das ist humaner als die leistungsdruckfreie Gesellschaft. 
 
Dieses Prinzip zu negieren ist riskant.  Damit kann man jede berechtigte
und zukunftstraechtige Sache diskreditieren.

Tja, da sind wir wohl unterschiedlicher Meinung.

Ich habe nichts dagegen, dass man in diese Richtung denkt.
Meine Meinungen sind auch eher als Argumentationsuebungen denn als letzte
Wahrheiten gemeint.
Aber ich weiss auch, dass ich bei einer Lobby-Sitzung in Bruessel (wie
diese Woche) die hier angedachte Mentalitaet absolut nicht gebrauchen
kann.  Das zerstoert jegliche Glaubwuerdigkeit, und das Ergebnis ist die
sofortige Einfuehrung von Softwarepatenten.

Ich sehe z.B. den Ansatz der Gruenen, ein Mindesteinkommen zu garantieren,
als durchaus zeitgemaess an.  Dazu gehoert dann aber auch eine
Mindest-Arbeitspflicht.  Wer das Einkommen in Anspruch nimmt, sollte auf
einem Markt der oeffentlich ausgeschriebenen Sozialdienste eine Aufgabe
waehlen.

Das ist dann aber kein Mindesteinkommen mehr, sondern Arbeitsdienst.
Nicht unbekannt in diesem Land und Sozialhilfeempfänger kennen das
auch schon wieder. Da gibt's eine Riesenliste von Gründen, warum das
kein emanzipatorischer Ansatz ist.

Das spricht nicht unbedingt dagegen. Politiker wie Hitler, Lenin, Mao u.a.
haben m.E. sehr viel Legitimitaet (in allgemeiner Anerkennung durch das
Volksempfinden ebenso wie spaeterer Nostalgie)  daraus bezogen, dass sie
eben diese grundsaetzlich humanen Arbeitsdienste einrichteten, vor denen
die souveraenschmeichelnden demokratischen Politiker zurueckschreckten.  
Chinas heutige Regierung ist sich dessen auch ganz bewusst und nutzt diese
Tatsache, um sich als bessere Alternative zur westlichen Demokratie
darzustellen.  Dabei hat eigentlich der Arbeitsdienst nichts mit der Frage
Demokratie vs Diktatur zu tun.  Man kann allenfalls kritisieren, dass er
sich zum Missbrauch durch die Diktatur eignet.  Dieser Missbrauch war
natuerlich bei H L M & Co Teil des Systems.
 
Immerhin. Du vergißt aber, daß in Epochenbrüchen wie wir sie m.E.
momentan erleben, du mit dem alten Denken der vergehenden Epoche nicht
mehr beurteilen kannst, was in der neuen Epoche realistisch ist.
Eigentlich klar.

In einer in weiter Ferne liegenden neuen Epoche vielleicht.
Allerdings kommen die Vorstellungen vom "Recht auf Faulheit" aus recht
alten Epochen, und ich sehe keinen aus der Zukunft begruendeten Anlass,
sie zu einem Grundpfeiler einer Zukunftsvision zu machen.
 
BTW: Deine Meinung vom Souverän ist ja nicht gerade die höchste ;-) .

Im kaiserlichen China schuf sich die Dynastie eine Schar von Zensoren (im
roemischen Sinne des Wortes:  Skandalaufdecker, Souveraenkritiker)  deren
Aufgabe es war, den Souveraen und seine Staatsdiener innerhalb einer
kleinen Hof-Oeffentlichkeit zu kritisieren.  Scharfe Kritik am Souveraen
wurde als Treue zum System gewertet.  Wenn diese Funktion verfiel, nahm
man das als ein Indiz fuer den Verfall der Dynastie.  In aehnlicher Weise
urteilte Platon ueber den Verfall der Demokratie zur Ochlokratie. In
solchen Verfallszeiten verlangen die Politiker dem Souveraen immer weniger
ab, haetscheln ihn immer mehr, reden immer besessener ueber die Rechte von
leistungsschwachen Minderheiten usw (kann man alles im "Staat" nachlesen).  
Platons Beschreibung endet mit dem Satz:  "Wenn es soweit gekommen ist,
ist die Zeit fuer die Neuerrichtung der Alleinherschaft (Monarchie) reif."

Daher sehe ich auch in der Verhaetschelung des Souveraens eine Untreue zum
System der Demokratie.  Die Weiterentwicklung der Demokratie wuerde
eigentlich eher erfordern, dass man Institutionen wie das chinesische
Zensorat einrichtet, so z.B. eine Pflicht zur politischen Bildung und
staerkere Entscheidungsrechte im Gegenzug zu entsprechender Qualifikation.
Etwa im Sinne der Meritokratie, wie wohl auch beim W3C und in
Hackergesellschaften ueblich.

Aber ich argumentiere eben nicht, daß wir die GPL-Gesellschaft
brauchen, weil sie am "natürlichsten" ist. Nein, ich will die *für
mich* - sehr konkret und sehr individuell. Darüberhinaus hoffe ich,
daß sie eine Reihe Grausamkeiten in dieser Welt überflüssig macht
(Stichwort: Abschaffung des Profitprinzips) und noch dazu sehr vielen
Menschen ein nach ihren Maßstäben angenehmeres Leben zu bringen
(Stichwort: Selbstentfaltung).

Ich kann also ganz zwanglos auf die Natur und sonstige Säulenheiligen
verzichten.

Immerhin sagst du "nach ihren Massstaeben angenehmer", um so einen
allgemeinen, aus der menschlichen Natur abzuleitenden Massstab zu
vermeiden.

Allerdings kann es durchaus sein, dass das, was nach dem kurzsichtigen
Massstab eines Befragten angenehm erscheint, eigentlich nicht zum Glueck
sondern zur Langeweile, Desorientierung und Aggressivitaet fuehrt.  So
ergeben sich wiederum einige Paradoxe daraus, dass man auf einen
allgemeinen Massstab verzichtet.
 
Was ausser dem Eigentum gibt es denn noch an
vermittelbaren Ordnungsprinzipien?

Dieses Zitat ist nicht ganz fair:  ich hatte es ironisch anderen Leuten in
den Mund gelegt.  Das "Eigentum als einziges Ordnungsprinzip der Welt"
spukt tatsaechlich in vielen Koepfen herum und dominiert vielleicht
derzeit das Denke in unserer Gesellschaft.  In den USA noch mehr als hier.
Ich nenne das Proprietarismus und bin ausdruecklich kein Anhaenger davon.
Allerdings moechte ich von Proprietarismus-Kritikern verlangen, dass sie
ernsthafte Alternativen anbieten und auch schon jetzt mal vorsichtig in
den Verkehr zu bringen versuchen, statt nur das vorhandene
Ordnungsprinzip anzuprangern.  Daran, dass das Eigentum zum einzigen
Ordnungsprinzip werden konnte, sind die Emanzipationsideologen nicht ganz
unschuld.  M.E. sogar in hohem Masse schuld, obwohl sie etwas ganz anderes
zu wollen vorgeben.
 
Eigentum ist nicht besser vermittelbar als irgendein anderes
Ordnungsprinzip. Wenn es so einfach zu vermitteln wäre, dann bedürfte
es nicht eines riesigen (staatlichen) Gewaltapparats um dieses Prinzip
zu schützen. Eigentum wie wir es kennen, ist ein
historisch-kulturelles Konstrukt, das halt in unseren Zeiten weltweit
ziemlich dominant ist - gelinde ausgedrückt ;-) .

Die meisten Leute, mit denen ich spreche, sind zunaechst einmal fuer
Softwarepatente, weil sie fuer Eigentum sind.  Die proprietaristische
Ideologie muss nicht vermittelt werden, sie ist in den Koepfen drin,
und noch so wirtschaftlich unsinnige Vorhaben koennen auf ihr aufbauen.
Viele der fuehrenden Proprietaristen halten nicht nur aus Eigennutz oder
Boshaftigkeit an ihren Positionen fest.  Sie haben einfach Angst davor,
dass die ganze Welt aus den Fugen geraet, wenn das einzige
Ordnungsprinzip, dass zu bejahen sie noch gelernt haben, auch nur
teilweise aufgegeben wird. 
 
BTW: Noch ein Beweis dafür, daß Eigentum kein Naturgesetz ist: Die
Gravitation braucht keine Polizei um sich durchzusetzen.

Niemand sagt, Eigentum sei ein Naturgesetz.  Eigentum an materiellen
Guetern laesst sich schon deshalb schwer abschaffen, weil diese konsumiert
werden und damit nicht allen in gleicher Weise zur Verfuegung stehen
koennen.  Das ist eine naturgegebene Tatsache. Wer das Eigentum an
materiellen Dingen abzuschaffen vorgibt, schafft damit moeglicherweise nur
eine mafioese Eigentums-Hackordnung.
 
-phm


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http://www.oekonux.de/



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