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[ox] Globales Dorf als Lebensraum



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Hi Liste!

Anbei ein längerer und älterer Text von Franz, der mich über Annette
erreicht hat. Ich fand ihn für unser Thema ganz interessant weil er es
aus einer ganz anderen Perspektive beleuchtet. Ich reproduziere ihn
hier mit Erlaubnis.

Auf `http://www.telechance.at/give/Kiel' hatte er wohl selbst schon
hingewiesen.


						Mit li(e)bertären Grüßen

						Stefan

- --- 8< --- 8< --- 8< --- 8< --- 8< --- 8< --- 8< --- 8< --- 8< --- 8< ---

Globales Dorf als Lebensraum (1993)
von Franz Nahrada
ein Artikel für die Zeitschrift SUPERVISOR

Als Marshall MacLuhan den Terminus vom "Globalen Dorf" prägte, meinte
er damit primär das Durchdringen aller lokalen, kulturellen und
nationalen Grenzen durch die Omnipräsenz der elektronischen Medien.
Wenn sich die Vorstellungen der Wiener Projektgruppe GIVE realisieren
lassen, erhält der vielzitierte Begriff eine neue Dimension und neue
Bedeutung: Global Village meint auch die Wiederentdeckung des
dörflichen Lebensraums im Zeitalter der Telekommunikation. GIVE steht
für "Globally Integrated Village Environment" und für nicht weniger
als den Versuch, Elemente einer völlig neuen und Elemente
traditioneller Lebensformen zu amalgamieren und die technischen
Möglichkeiten der Telekommunikation in einer passenden sozialen und
ökologischen Umgebung zu realisieren. Elektronische Medien und
virtuelle Realisationen spielen zunächst auch die Hauptrolle bei der
Realisation von GIVE.

"Geboren" wurde die Projektidee GIVE in einem griechischen Dorf auf
der Insel Samos. Ich hatte zu jener Zeit die besten Verbindungen zu
einem Reiseveranstalter und nutzte die Gelegenheit billiger Flüge, um
bei jeder sich bietenden Möglichkeit Wetter und Kälte Wiens hinter mir
zu lassen. So ergaben sich immer erneuerte Begegnungen mit vielen
Bewohnern von Samos, zahlreiche Freundschaften, ein paar Brocken
Griechisch und natürlich der Traum vom Eigenheim in der Ägäis. Immer
auf der Suche nach noch einsameren und idyllischeren Ecken, hatte ich
bald jede Menge Adressen von freundlichen griechischen Vermietern, die
ich an meine Wiener Freunde aus der Computerszene weitervermittelte.
So saßen wir dann gemeinsam am Strand, mit einer Bottle Rotwein in der
Hand, und phantasierten vom "irgendwann bleib I dann durt". Die paar
Leute, die diesen Traum wirklich in die Tat umgesetzt hatten, trugen
freilich dazu bei, daß wir es bei der Phantasie bewenden ließen: ein
Leben als Surflehrer oder Maurer wollten wir bei bestem Willen nicht
führen, und unsere Qualifikationen schienen für Griechenland nicht
geeignet. Je öfter ich in nach Samos kam, umso mehr konnte ich auch
hinter die touristische Fassade blicken. Beim Abgrasen aller ach so
idyllischen Dörfer kam ich in so manches, in dem neben Hunden und
Katzen nur mehr drei alte Leute zu leben schienen. Die aktive
Bevölkerung vieler Dörfer schien verschwunden, dem Tourismus
nachgereist oder in die Metropole Athen verzogen. Die Gärten und
Felder waren oftmals verwuchert und verödet. Währenddessen begannen
die neu entstandenen Touristenzentren ihren Unrat und jede Menge
Plastik über die Umgebung auszubreiten, neue Straßen zerstörten die
idyllische Ruhe ganzer Landstriche und Supermärkte machten eine ganze
Menge von Leuten brotlos.

Es war an einem dieser Tage, an denen das Meer zu kalt war zum Baden,
an denen ich von einem Berg auf so ein Dorf herabschaute. Ich begann,
mir auszumalen, wie dieses Dorf ausschauen könnte, wenn es zur Heimat
von Leuten wie mir würde - Telearbeitern, die ihre Arbeit mit dem
Computer tun, und die das angesichts der heutigen technischen
Möglichkeiten überall auf der Welt tun können. Ich hatte einige
touristisch aufgemotzte griechische Dörfer gesehen,
Kykladenarchitektur mit Küppersbuschküchen, und irgendwie waren diese
architektonischen Experimente recht faszinierend. Was wäre, wenn es
gelänge, statt einiger weniger Luxusherbergen viele Dörfer als
Lebensraum neu zu erschließen? Wäre es möglich, eine neue Synthese mit
den ansässigen landwirtschaftlichen Produzenten einzugehen, die
angesichts des Agrobussiness ihre Existenz verlieren? Wäre es möglich,
daß der Traum vom Aussteigen aus dem Großstadtmief woanders endet als
im Photoalbum oder in der herben Enttäuschung? Wie müßte so ein Dorf
ausssehen, damit es wirklich zur Heimat urbaner Menschen und nicht zu
einem großen Zweitwohnsitz wird? Je mehr ich darüber nachdachte, umso
mehr faszinierte mich die Idee, so ein Dorf zum Experimentierfeld für
soziale und technologische Umwälzungen zu machen.

Den entgültigen Anstoß, aus der Idee ein Projekt zu machen, gaben
Begegnungen in und mit der amerikanischen Kultur. Als
Entwicklerbetreuer einer Computerfirma machte ich meine jährlichen
Pilgerfahrten ins Silicon Valley. Mehr aus Zufall begegnete ich in
Stanford einer jener legendären Figuren der computer culture , die es
sogar bei uns zu einer gewissen Berühmtheit gebracht haben. Ich saß
also gegenüber von Douglas Engelbart, Erfinder der Maus, erstem
Realisator von Hypertext und was seiner Meriten mehr sind. Irgendwie
kam das Gespräch auf mein griechisches Dorf, und Engelbart erzählte
mir von seinem "bootstrap"-Projekt. Ich muß zugeben, daß ich nicht auf
Anhieb alles verstand, was er mir erzählte, aber eines blieb ziemlich
haften: "Technology is dull". Er meinte, daß angesichts der ziemlich
rapiden technologischen Fortschritte die wahren Herausforderungen nun
auf sozialem Gebiet lägen, und er nun nach 40 Jahren Engineering sich
der Frage zuwenden wollte, warum die Gesellschaft so wenig mit der
Technologie anfangen könne, immer mehr hinter den technischen
Innovationszyklen zurückbliebe. "I charge managers 10000 Dollars a day
to tell them that Universities are not flexible enough to deal with
technological change. The key to successful implementation is in small
research communities." Engelbart nannte diese kleinen
Forschungseinheiten "bootstrap - communities": an einem praktischen
Problem orientiert, sollten sie instand gesetzt werden, gleichsam
reflexartig technologische Neuerungen zu implementieren und damit zu
experimentieren. Diese anwendungsbezogene Forschung solle von allen
interessierten Institutionen finanziert werden, auch von ökonomischen
Konkurrenten. Er nannte mir auch einige Beispiele, wie etwa das
Institute for Research on Learning.

Als ich Engelbarts Büro verließ, war das GIVE-Projekt geboren. Warum,
fragte ich mich, sollten Computerfirmen nicht an einem Projekt
interessiert sein, dessen erfolgreiche Durchführung nicht zuletzt mit
der Herausbildung eines riesigen Marktes zusammenfällt? Einem Labor
und Ausstellungsort zugleich, in dem die komplexen Änderungen unseres
Lebens durch Technologie erprobt, entworfen und vorgestellt werden
könnten? In dem Produkte frühzeitig in Anwendungsszenarien gebracht
werden können, die zu Modifikationen, Anpassungen und Erweiterungen
führen? Einem Testgelände für Villageware, hochentwickelte Hardware
und Software, die die Aufrechterhaltung eines urbanen Lebenssstandards
in natürlicher Umgebung möglich macht? Einem Ausgangspunkt für
industrielle Allianzen, Produktkombinationen aller Art? Und warum
sollte es nicht umgekehrt möglich sein, politische und
gesellschaftliche Institutionen davon zu überzeugen, daß so ein
technologischer melting pot die Kapazität hat, Lebensmodelle für die
Welt von morgen hervorzubringen, die die Strukturprobleme von heute
lösen - Verkehr, Umweltbelastung, Disproportionalitäten von Stadt und
Land, Überbevölkerung? Tatsächlich waren die Reaktionen auf das
GIVE-Projekt im ersten Stadium seiner Realisierung - Zeitungsartikel,
Vorträge, Reisen - sehr ermutigend. Es scheint, daß viele Menschen mit
vielen guten Ideen nur auf eine Umgebung warten, in der sich diese
Ideen realisieren lassen. GIVE ist ein solcher Vorschlag, und
hoffentlich nicht der einzige. Es ist genauso wichtig, urbane Modelle
zu finden, in denen Ökologie und Technologie zu einem guten Leben
beitragen, denn die Stadt wird keineswegs aussterben, vielmehr gehen
wir einer Epoche industrieller Megazentren entgegen. Es scheint mir
nur die Abwesenheit solcher konkreter (und das heißt nicht nur
greifbar, sondern vor allem: aus vielen guten Ideen
zusammengewachsener) Utopien zu der tiefgreifenden und
rückwärtsgewandten Verunsicherung unserer Zeit beizutragen. Wir können
mit Händen fühlen, daß die industrielle Epoche nicht mehr die
bestimmende Lebensform für die Mehrzahl der Menschen definieren kann:
vielmehr erzeugt sie eine wachsende Überbevölkerung von Menschen, die
sie nicht mehr braucht, nicht mehr ernähren, ja nicht einmal mehr
"ausbeuten" kann. Diese Entwicklung ist es, die auch diejenigen
verunsichert, die noch in Arbeit und Brot sind, die die sattsam
bekannte "das Boot ist voll" - Mentalität hervorbringt - und die im
Zeitalter der technologischen Lösbarkeit fast aller
Menschheitsprobleme einen globalen Trend zu chauvinistischer Barbarei
hervorgebracht hat. Wo die industriellen Wohlstandsversprechungen ihre
Glaubwürdigkeit verloren haben, herrschen die Dämonen der
Vergangenheit genau solange, wie die Modelle einer neuen,
informationsgesellschaftlichen Lebensform noch nicht greifbar sind.
GIVE will so ein Modell schaffen.


Bausteine einer informationsgesellschaftlichen Lebensform

Entsprechend dem Engelbart'schen Konzept der "bootstrap community" ist
GIVE kein Entwurf vom Reißbrett; vielmehr verweisen die vorhandenen
Bausteine fürdas globale Dorf auf andere, noch fehlende; und im
Kontext des sich herausbildenden Netzwerks an Beziehungen zwischen den
Elementen einer solchen Lebensform werden die einzelnen Momente
permanent modifiziert. Lediglich ein allgemeiner Problemkatalog,eine
Auflistung der grundsätzlichen Fragen wird wahrscheinlich über eine
gewisse Zeit konstant bleiben.

Auch die Art und Weise, wie diese Fragen behandelt werden, ist
keineswegs kostant. In einer frühen Phase des Projekts steht das
Expertengespräch, die Datensammlung, die Recherche im Vordergrund. Das
Projekt ist nicht nur ein inter-, sondern vor allem ein
multidisziplinäres: sämtliche Wissenschaften vom Menschen und seiner
Lebensweise sind gefragt, ihren Beitrag zu einem Modell grundlegenden
Neugestaltung des Verhältnisses des Menschen zu sich selbst, zu seinem
sozialen Umfeld und zur Natur zu leisten. Das GIVE ist eine Aufgabe,
die von Architektur, Landschaftsökologie Agronomie und technischen
Disziplinen genauso Beiträge erfahren soll wie von
Gesellschaftswissenschaften, Ökonomie, Medizin und Psychologie. Aus
all diesen Disziplinen , aus ihrer praktischen Anwendung oder auch aus
ganz "unwissenschaftlichen" Praktiken rund um den Erdball kommen die
Bausteine des globalen Dorfs, die in einer multimedialen Datenbank
gesammelt werden sollen.

Danach soll eine Phase der öffentlichen Auseinandersetzung folgen:
Ausstellungen, Kongresse, virtuelle Realisationen und Workshops sollen
die Kombination der in der ersten Phase aufgefundenen Bausteine zu
einem vernetzten sozialen Design bewirken; Feldversuche sollen das
Wissen über die Brauchbarkeit von Teillösungen vertiefen. All diese
Aktivitäten sollen letztlich in eine Sammlung von Modellszenarien
münden, die zum Teil erprobt sind, zum Teil idealtypische Annahmen.
(vielleicht auch neue Experimente inspirieren). Diese Szenarien sollen
für multidimensionale Entscheidungsmodelle und Simulationen
operationalisiert werden.

Erst auf der Grundlage einer soliden Basis an Information und
Erfahrung soll in der letzten Projektphase der Aufbau eines oder
mehrerer GIVE-Centers in Angriff genommen werden: ein GIVE-Center ist
zunächst ein Ort, an dem die oben beschriebene Dokumentationsaarbeit
weitergeführt wird, das aber an sich selbst die praktischen Probleme
der intentierten Lebensform studiert. Das heißt, daß dieses Center in
einer dörflichen Umgebung als Fokus einer Neubelebung und
Neubestimmung der dörflichen Gemeinschaft funktioniert; daß es quasi
einen Halo an lokaler materieller Produktion und Dienstleistungen
hervorbringt, der mit dem Kern an "immaterieller globaler Produktion"
gemeinsam eine konsistente Siedlungsform hervorbringt, eine
"Tele-Öko-Community".

Dadurch wird das GIVE-Center aber mehr als eine Forschungseinrichtung,
es wird quasi selbst zu einer Lebensform, die auch Beispielswirkung
haben soll. Am Beispiel des GIVE-Centers soll jedermann studieren
können, wie eine erfolgreiche Implementation einer
Informationsgesellschaftlichen Lebensform ausschaut. Open Houses,
Guided Tours und ein Besucherzentrum sollten ebenso Bestandteile einer
solchen Einrichtung sein wie ein Gästehaus fürLangzeitbesucher. Die
Einrichtungen des GIVE-Centers sollen mit einem lokalen Teleport
geteeilt werden, um einigen wenigen ansiedlungswilligen Pionieren die
Aufnahme von geschäftlichen Aktivitäten zu ermöglichen. Diese sollten
freilich stets mit einem Aspekt lokaleer Dienstleistung gekoppelt
sein. Über diese wenigen Absichtserklärungen hinaus müssen die
konkreteren Spezifikationen sich im Prozeß der virtuellen
Realisationen herausbilden.

Das GIVE beschäftigt sich also aus der Notwendigkeit der Sache heraus
mit sehr vielen Dingen zugleich; erst im Ensemble all der
angesprochenen Problemlösungssversuche erhält jeder Teilbereich auch
seine endgültige Form, denn er ist wesentlich mit anderen Aspekten der
Teleökocommunity verbunden.

Der Versuch, die Teilbereiche zu kategorisieren, hat im wesentlichen
zu acht Forschungsschwerpunkten geführt, von denen das Projekt seinen
Aussgangspunkt nimmt:

- - Telearbeit ist wohl der wichtigste und zentrale Ausgangspunkt, bei
  dem GIVE an der Vorarbeit und den Beiträgen von vielen verschiedenen
  Institutionen ansetzen kann. (siehe Kasten). Im GIVE reicht das
  Spektrum der relevanten Fragestellungen ziemlich weit; da ist
  zunächst die Frage nach den Technologien der Kooperation, die es
  möglich machen, unter Umständen besser zusammenzuarbeiten als am
  Arbeitsplatz selbst. Geistige Arbeit verändert durch "computer
  supported collaborative work" ihren Charakter: sie ist nicht mehr
  die Abfolge von individualisierten Detailvorgängen, die eine strenge
  Abfolge mit allen zeitlichen und räumlichen Limitationen sowie einen
  enormen metasprachlichen Kommunikationsüberbau notwendig machten;
  mehrere Menschen können nun am selben geistigen Arbeitsgegenstand,
  symbolisch repräsentiert durch die Benutzeroberfläche des Computers,
  zusammenarbeiten, ohne am gleichen Schreibtisch zu sitzen. Die neue
  Qualität, daß keine räumlichen Einschränkungen existieren, erlaubt
  eine Ausdehnung der Zusammenarbeit in quantitativer und qualitativer
  Hinsicht.

Das führt zwangsläufig zu der Frage nach neuen Organisationsformen der
Arbeit. Der gegenläufige Trend zur Zentralisierung und Verkleinerung
vieler Unternehmen, das spin-off von vielen Angestellten in die
Selbständigkeit, muß nicht unbedingt in Partikularisierung und
Vereinzelung von kaum lebensfähigen "one mouse shops" enden; wenn
lokale Gemeinschaften von Telearbeitern Ressourcen teilen, könnten
sich aus ihnen ein neuer Typus von leistungsfähigen und äußerst
flexiblen Klein- und Kleistfirmen entwickeln, die bedafsgerecht
Listungen jeglicher Art zur Verfügung stellen können.
Megainstitutionen und Megafirmen könnten abgelöst werden von flexiblen
Allianzen und Netzwerken solcher Klein- und Kleinstfirmen,
vorausgesetzt freilich, die kulturellen, logistischen und legistischen
Voraussetzungen dafür werden geschaffen.Wir können derzeit sicher nur
spekulieren über die neuen Berufsformen, die aus solchen Strukturen
erwachsen. Einerseits ist durch die Vergrößerung des Markts eine
extreme Spezialisierung auf gewisse Wissensgebiete und Kompetenzen
möglich, auf noch so kleine Nischen, andererseits werden gerade
deswegen integrative Funktionen notwendig, Vermittler und Information
Broker - Menschen, deren Hauptangebot der Zugang zur immer
unübersichtlicher werdenden Information ist.

Diese Berufsgruppen werden sich vielleicht in speziellen Netzwerken
auf part-time - Basis zusammenschließen und damit wiederum ganz neue,
standortunabhängige Organisationen schaffen. Die Möglichkeit, an jedem
Ort der Welt seine Arbeit tun zu können, die Bündelung der Energien,
die heute auf verschiedene Lebensbereiche verschwendet werden,
zwischen denen wir oberflächlich hin- und herpendeln, auf einen
einzigen, wird möglicherweise auch die Qualität dessen, was wir heute
als Arbeit "erleiden", verändern. Der zweite große Forschungsbereich
von GIVE ist der Aspekt der Siedlungsformen, die von der Telearbeit
favorisiert und hervorgeebracht werden. Wenn es wirklich möglich
geworden ist, Wohnen und Arbeit nicht mehr trennen und mit viel
Aufwand zwischen beiden pendeln zu müssen, stellt sich die Frage, wie
beides wieder zu einer sinnvollen Einheit gebracht werden kann. Die
Modellvorstellung der "TeleÖkoCommunity" versucht, den globalen Aspekt
der immateriellen Produktion mit dem lokalen des physischen Lebens zu
verbinden, indem beide Seiten ihr volles Recht zugestanden erhalten.
Gesundheitsvorsorge, Ernährungswesen, Erholung, Bildung, Leben,
Begegnungen,Arbeit - das alles soll sich in Gehweite abspielen und
nicht zur physischen Segregation zwingen.Gleichzeitig steigt die
Vielfalt, Qualität und Produktivität der lokal angebotenen
Dienstleistungen durch globalen Zugriff auf Information. Eine solche
Siedlungsform unterliegt einem gewissen Zwang zur Miniaturisierung,
zur optimalen Nutzung vorhandener Räume, um die vielfältigen und
komplexen Funktionen auf einem überschaubaren Gebiet unterzubringen.
Gleichzeitig steigt die Bedeutung der umliegenden Natur als
Naherholungs- und Rückzugsraum sowie als Gegenstand einer dauerhaften
Symbiose, eines stabilen Stoffwechsels. Nirgendwo ist dieses Konzept
eines dauerhaften Stadtorganismus derart eindrucksvoll demonstriert
worden wie in der Stadtbaustelle Arcosanti in der Wüste von
Arizona:eine Stadt, die nur wenige Hektar eines riesigen Grundstücks
beansprucht, die mit Glashäusern einen klimatischen Austausch
pflegt,in der Sonnenenergie zum Betreiben von Fahrstühlen eingesetzt
wird,in der sich die architektonischen Formen aus der optimalen
Ausnutzung der Jahreszeiten ergeben und so weiter. Neben diesem
technisch-ökologischen Aspekt existiert auch ein
soziologisch-ökonomischer Aspekt,der von der optimalen Struktur einer
solchen Gemeinde bis hin zu Fragen der Kommunikation und
Entscheidungsfindung reicht. Wenn auch die Produktivität von lokaler
Produktion und Dienstleistung durch den Einsatz von Technologie
steigt, wie sehen die möglichen Relationen zwischen den verschiedenen
Gruppen einer Population aus? Und wie könnnen sie einander am besten
ergänzen und fördern? Grundsätzlich kann Kommunikationstechnologie die
interne Kommunikation einer Gemeinde sowohl (zer)stören als auch auf
ein neues Niveau bringen. Kommunikation ist aber die Voraussetzung
dafür, daß sich Probleme lokal lösen lassen. Die
Kommunikationstechnologie kann dazu zwei neue und möglicherweise
entscheidende Aspekte beitragen: sie kann einerseits die Wissensbasis
schaffen, die es möglich macht, Informationen lokal zu erhalten,die
früher nur an zentralen Orten erhältlich waren.

Damit wird die Notwendigkeit der Stadt als "Knowledge Base"- der einen
beträchtlichen Teil ihrer Identität und Attraktivität ausmacht -
relativiert. Sehr viele Interaktionen können sich nun nach innen
richten - und damit jenen "urbanen Effekt" (Soleri) erzeugen, der die
Stärke und Lebensfähigkeit einer Gemeinschaft ausmacht. Hier kann der
zweite Beitrag der Kommunikationstechnologie einsetzen, einer
existierenden Gemeinschaft eine effiziente Entscheidungsbasis für ihre
gemeinsamen Anliegen zu geben. Die komplexen, vielfältig verflochtenen
Zusammenhänge des sozialen Lebens können sichtbar und handhabbar
gemacht werden, der Zusammenhang zwischen Bedürfnissen und Resourcen
ex ante durch Computersimulation hergestellt werden. Die
Kommunikationstechnologie ermöglicht es der Gemeinschaft, ihr eigenes
soziales Leben nicht mehr in fetischisierter Form, sondern als
wirklichen Lebensprozeß vorstellig zu machen.

Damit ist auch schon der dritte Bereich der Forschungsaktivitäten von
GIVE angesprochen, nämlich die Funktion der Computer-und
Kommunikationstechnologie in diesem wirklichen Lebensprozeß. Die
Verbindung von globaler immaterieller und lokaler materieller
Produktion bedingt einen völlig neuen Typus von Technologie, dessen
Entstehung wir gerade miterleben. In Ermangelung eines besseren
Begriffes wollen wir diese Tendenz als Tertiärisierung der Technologie
bezeichnen, in Anspielung sowohl auf die aus der Volkswirtschaftslehre
überkommene Einteilung der Produktion in Sektoren als auch auf
Tofflers Konzept der technologischen Menschheitsepochen. Tertiäre
Technologie dient primär dazu, materielle Dienstleistungen zu
erbringen, sei es im klassischen Sinn der persönlichen Dienstleistung
oder im Sinne des Customizing der Industrieware für den
Endverbraucher. Tertiäre Technologie ersstreckt sich über die Bereiche
des Haushalts, der Gartenarbeit, der Körperpflege, des
Gesundheitswesens und hat vor allem zwei Merkmale: sie setzt eine
relativ unspezialisierte Person instand, Funktionen zu verrichten, die
ursprünglich nur mit einem hohen Grad an Ausbildung zugänglich waren
(Toffler nennt als klassisches Beispiel den Schwangerschaftstest);
und, um dies zu erreichen, inkorporiert sie die Geschicklichkeit und
die notwendige Information in einem Produkt, das einen hohen Grad von
Anpassungsmöglichkeiten aufweist.(Man denke an die modernen
Küchenmaschinen mit ihren Myriaden von Aufsätzen). Durch die
Kombination von Software, die sowohl den Anwender informiert, als auch
die durchaus komplexen Operationen durchführt, ermöglicht sie es dem
Anwender, ohne große Mühe eine Menge von Dienstleistungen für den
Eigenbedarf zu produzieren. Toffler nennt diese Metamorphose des
Konsumenten von Industriewaren zum Produzenten von Diensten für den
Eigenbedarf den Prosumer. Der Prosumer ist die dritte Personifikation
eines allgemeinen Sozialcharakters nach dem
landwirtschaftlich-handwerklichen Produzenten und dem industriellen
Konsumenten.

Prosumer-Technologie könnte im globalen Dorf eine entscheidende Rolle
spielen: die Anwender von Prosumer-Technologie wären imstande, Dienste
nicht nur für sich, sondern auch für einen beschränkten Personenkreis
in ihrer Umgebung zu erbringen und damit auch jenen Lebensstandard zu
garantieren, der normalerweise nur in Städten oder künstlichen und
aufwendigen touristischen Einrichtungen möglich ist. Die Ära des
Personal Computers hat den Ausblick auf die Prosumer-Technologie der
Zukunft ermöglicht; noch fehlen zwei wesentliche Komponenten, um sie
wirklich in weitem Umfang zu realisieren: das eine sind - verkabelte
oder drahtlose - Local Operating Networks (LONs), die im Unterschied
von LANs die Verbindung von Computern zu Operating Devices, zu den
erwähnten Vielzweckmaschinen realisieren;und zweitens fehlen noch die
prozessorgesteuerten Operating Devices selbst. Es gibt aber seit
einigen Jahren Anzeichen für massive Investitionstätigkeit in diesem
Sektor und auch schon die erste Vaporware, so etwa das LON-Venture
Echelon des Apple-Finanziers Mike Markulla, für im Silicon Valley und
anderswo bereits in ganzseitigen Inseraten geworben wird. Die
Integration von LON-Technologie in die physikalische Infrastruktur der
TeleÖkoCommunity und das Experimentieren mit dem sozialen und
ökologischen Potential dieser anderen Seite der Computertechnologie
wirdden Schwerpunkt des Forschungsbeereiches Tertiäre Technologie
bilden; daneben stehen vor allem Fragen der Gesundheitsvorsorge,
lokaler medizinischer Dienste und "self-reliance" (wie
Biofeedback-Information-Server) im Vordergrund.Technologie mag
übrigens nicht der einzige Weg und nicht das einzige Potential sein,
unsere diesbezüglichen Probleme zu lösen - aber sie ist definitiv
imstande, uns den Zugang zu den anderen Wegen zu erleichtern.

Neben diesen drei fundamentalen Forschungsprojekten sind 5 ergänzende
Schwerpunkte vorgesehen, in denen sich GIVE engagieren soll; es ist
der Versuch, auf die Folgeprobleme einzugehen, die das Leben in der
TeleÖkocommunity mit sich bringt.

So benötigt die Teleökocommunity ein Ausbildungssystem, das zu guten
Teilen auf Fernlehre oder *Distance Education* beruht. Das Potential,
sämtliches Wissen der Welt an Ort und Stelle verfügbar zu haben - nach
seriösen Voraussagen wird im Jahr 2000 bereits der überwiegende Teil
des menschlichen Wissens in digitaler Form vergegenständlicht sein,
zwischen 80 und 90 % - bedarf der Umsetzung in ein völlig neues
Ausbildungssystem, das auf einer Kombination von lokaler Supervision,
Lernsoftware und Teletutoring beruht. Wir können nicht mit Sicherheit
voraussagen, ob die Zukunft eher dem (synchronen) "virtuellem
Klassenzimmer" oder dem (diachronen) "electronic Learning" gehört; im
ersten Modell besteht eine permanente Interaktion mit einem
menschlichen Lehrer, dessen Unterrichtstätigkeit über interaktive
Verbindungen in einen Cluster von örtlich weit verstreuten Empfängern,
entweder zu Hause oder in einem nahegelegenen Satellite Classroom
abgewickelt wird. Im zweiten Modell liegt der Schwerpunkt auf
Bildunggssoftware, die zeitunabhängig durchgearbeitet werden kann und
zum Zweck der Evaluation und Vertiefung mit einem Netzwerk von Tutoren
gekoppelt ist, die entweder nach Terminvereinbarung oder Schichtplan
kontaktiert werden können. Es läßt sich aber mit Sicherheit sagen, daß
von jedem der beiden Modelle auch positive Impulse auf die Entstehung
und Verbreitung von TeleÖkocommunities ausgehen können, daß die neuen
Berufe und Institutionen, die sich mit Distance Learning und
verwandten Gebieten beschäftigen, auch zu den raschesten Adaptoren von
Modellen wie GIVE gehören werden.

Ein weiteres Problem,das in der Folge der Teleökocommunity
auftritt,ist die Frage der *Mobilität*. Das Eindämmen der erzwungenen
Mobilität bedeutet ja nicht nur, daß allein dadurch ein gewaltiger
Gewinn an Zeit und Produktivität erzielbar ist, es werden auch mit
einem Schlag vorhandene gesellschaftliche Ressourcen für freiwillige
Mobilität verfügbar. Nichts liegt der Projektidee GIVE ferner, als
jene Gleichsetzung von Informationsgesellschaft mit immobiler
Gesellschaft aufzugreifen, die heute vielfach aufgestellt wird. Im
Gegenteil, Zur Mobilität der Güterströme zwischen den industriellen
Zentren soll sich dieser Vorstellung nach auch eine Mobilität der
Personen gesellen, befreit von Hektik und Termindruck der
industriellen Dichotomie von Arbeit und Freizeit/Urlaub. Wenn er seine
Arbeit überallhin mitnehmen kann, ist der Bürger des
Informationszeitalters genauso Nomade, wie er seßhaft ist. Ein
Telearbeitstourismus könnte dazu die Vorstufe bilden, der einen fremde
Gegenden nicht als schnellverdaulichen 14-Tage-Imbiß, sondern
vielleicht über Monate und Jahre hinweg kennenlernen läßt. Ganze
TeleÖkoCommunities könnten von diesem Telearbeitstourismus leben, der
vermutlich mit wesentlich angenehmeren Begleiterscheinungen abläuft
als der industrielle Urlauberschichtbetrieb. Das GIVE will nicht nur
in seinem eigenen Zentrum solchen Telearbeitstourismus einbauen,
sondern auch an Modellen der "Konversion" von Orten des Massen-und
Schichttourismus zu solchen des Telearbeitstourismus mitarbeiten.

So wichtig auch die jeweilige lokale Community als physisches
Bezugssystem auch des globalen Nomaden bleibt, so vielfältig sind die
Heimaten und Identitäten dieses Bürgers des Informationszeitalters.
Schon jetzt,im Zeitalter der elektronischen Post und
Nachrichtenboards, erleben die Teilnehmer an der weltweiten
elektronischen Vernetzung,daß sie zu Mitgliedern virtueller
Gemeinschaften geworden sind,ausgehend von speziellen Interessen. Die
Soziologie virtueller Gemeinschaften ist nicht zuletzt deswegen ein
Forschungsgebiet im GIVE, weil erstens die Koexistenz virtueller mit
lokalen Gemeinschaften vielfältige und bedeutsame Wechselwirkungen
hervorbringen imstande ist. (Wie schon erwähnt, kann externe
Kommunikation die interne Kommunikation lokaler Gemeinschaften sowohl
stärken als auch schwächen). Zweitens ist die Beschäftigung mit
virtuellen Gemeinschaften deswegen wichtig,weil im
Informationszeitalter permanent virtuelle Gemeinschaften in lokale
überführt werden können - und umgekehrt. Und drittens ist die
Virtualität, die Vergegenständlichung in der Sphäre der elektronischen
Kommunikation, unter Umständen auch ein probates Mittel, die
Kommunikationsprobleme physisch-manifester Gemeinschaften in den Griff
zu bekommen, Die oftmals zitierte Geschichte von den Toshiba-Managern,
die -anstatt, wie in Meetings üblich, mündlich -eine elektronische
Konferenz im Konferenzraum abhielten und dabei wesentlich fruchtbarere
Resultate erzielten als zuvor, sei hier nur als Beispiel erwähnt.

Erstrecken sich die virtuellen Gemeinschaften um den Erdball, und ist
der Einzelne in viele solcher Gemeinschaften integriert, kommt es zu
einem Phänomen, das wir als Kommunikationsstress bezeichnen können.
Bereits heute hat die allseitige und jederzeitige Erreichbarkeit durch
Kommunikationsmedien von E- mail bis Mobiltelephonie die Anforderung
an den Einzelnen, sich ständig in verschiedensten Rollen und
Bezugssystemen zu bewegen, in einem Ausmaß erhöht,das sowohl
geschichtlich einzigartig ist, als auch Qualität und Intensität der
Kommunikation aufgrund permanenter Überforderung zu kurz kommen läßt.
Die Wiedergewinnung von Zeit ist ein explizites Anliegen von GIVE,
weil hier ein zentrales Problem der Informationsgesellschaft vorliegt.
So verschwenderisch die Industriegesellschaft auch mit dem Zeitbudget
ihrer Subjekte umgegangen ist und sosehr die Tendenz zur Verwandlung
aller Lebenszeit in Arbeitszeit schon hier ihren Ausgangspunkt nimmt,
so verheerend könnte sich diese Tendenz in einer
Informationsgesellschaft auswirken, die die immanenten Probleme einer
entqualifizierten Zeit nicht erkennt.

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