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[ox] [ox] ein paar Einwürfe



Das Papier zur GPL-Gesellschaft veranlaßt mich
nach längerem stillen Zuhören mir doch die
Zeit zu einem Beitrag zu nehmen. Mein Grundeindruck
von den Diskussionen der letzten Wochen: die
Liste drifted immer mehr ins unverbindlich
Irreale ab. Eine Auseinandersetzung
mit kritikwürdigen Positionen findet nicht
oder höchstens ansatzweise statt. Bestes
Beispiel: die rotzig-flotten Zynismen eines
Gundolf S. Freyermuth gehen anscheinend glatt
runter. Hier mal ein paar Einwürfe zu einigen
Topoi, die in letzter Zeit frequent auftraten:



1. Ende der Arbeitsgesellschaft?

Die Rede vom Ende der Arbeitsgesellschaft
ist zwar gerade sehr populär, doch steht sie
auf einem schwachen Fundament:

- empirisch: gegenwärtig ist weltweit zu
beobachten, dass der Umfang der Lohnarbeit
zunimmt. Das beste Beispiel dafür sind die
USA (siehe auch den Artikel von Gundolf S.
Freyermuth, den Stefan kürzlich hier
verteilte).

- systematisch: wenn die Produktion von Mehrwert
(und nicht etwa nur von Tauschwert) das Ziel
kapitalistischen Wirtschaftens ist und dies
wiederum Lohnarbeit voraussetzt, dann werden
die Kapitalisten uns nicht den Gefallen tun,
die Lohnarbeit abzuschaffen (siehe oben..).
Die Minimierung der eingesetzten Arbeit ist
keinesfalls ein intrinsisches Ziel kapitalistischen
Wirtschaftens. Wenn es den Profit steigert, kann
durchaus auch das Gegenteil geboten sein, wie man
am Revival der Sweat shops (in denen die
Textilbranche ganz bewußt hinter den erreichten
Stand der Rationalisierung zurückgeht) sieht.

- normativ: einmal abgesehen vom Hunger des
Kapitals nach Mehrwert gäbe es ja durchaus
viel Sinnvolles zu tun, was oft nicht profitabel
ist: gut 2/3 der Menschheit können eine
Verbesserung ihrer materiellen Lebensbedingungen
schon vertragen; praktisch überall, auch hier
im reichen Westen wären allein die Herstellung
oekologisch verträglicher Industrie-, Siedlungs- und
-infrastrukturen eine Jahrhundertaufgabe,
ganz zu schweigen von dem bisher unterversorgten
Bereich der (im weitesten Sinne) sozialen
Dienstleistungen (Bildung, Gesundheit etc.),
wo im humanen Interesse eben nicht
Rationalisierung sondern das Gegenteil
angesagt wäre.

Ganz allgemein: wenn die Produktivität (der Output
pro Arbeitsstunde)  um den Faktor f steigt, dann
eröffnet das Spielraum für unterschiedliche
Szenarien: die Arbeitszeit kann bei konstantem
Produkt im Verhältnis 1/f sinken oder das Produkt
kann bei konstanter Arbeitszeit um den Faktor f
zunehmen oder man einigt sich auf eine Mischung
von Arbeitszeitverkürzung und Mehrproduktion.
Wer wieviel wovon bekommt, ist letzten Endes
eine Frage der Interessen und deren
Durchsetzungsfähigkeit, sprich: der
Machtverhältnisse. Grundsätzlich führt
Produktivitätsfortschritt nicht automatisch
zum Abbau von Arbeit. Im übrigen war der auch
in diesem Jahrhundert nicht so groß, daß der
Arbeitsaufwand für einen Ford T und für ein
heutiges Auto sich um mehrere Größenordnungen
unterscheiden würden.

Die Rede von unerhörten Produktivitätsfortschritten
z. B. in der Automobilindustrie abstrahiert
meist von Faktoren wie Fertigungstiefe, Outsourcing
und indirekter Arbeit. Wenn heute nur noch halb
soviele Arbeiter doppelt so viele Autos pro
Stunde montieren, dann auch deshalb, weil die
Fertigungstiefe reduziert wurde (die Autos also
aus immer komplexeren Baugruppen, die fertig
von den Zulieferern kommen, montiert werden),
viele Funktionen von externen Dienstleistern
übernommen wurden und immer mehr Vorleistungen
in Form von indirekter Arbeit auftreten, die
in den Maschinen, Programmen und organisatorischen
Vorkehrungen steckt. Bildet man den Saldo all
dieser Verschiebungen, dann sieht das Ergebnis
meist weniger spektakulär aus.

Der Übergang zur "Dienstleistungsgesellschaft" ist
übrigens zum großen Teil ein mit diesen Prozessen verbundenes
statistisches Artefakt: Wenn ein Fertigungsunternehmen
seine eigene Putzkolonne, EDV- oder Buchhaltertruppe
auflöst und stattdessen Externe beauftragt, dann
verschwinden Arbeitsplätze, die zuvor unter "Industrie"
auftraten, und tauchen unter "Dienstleistung" wieder
auf. An der Sache ändert sich dabei nichts, wohl aber
an der Bezahlung und sozialen Absicherung der
Betroffenen. Zum Teil ist das auch die Realität
hinter dem sagenhaften Job-Boom durch
Kleinunternehmen. Zum anderen basieren entsprechende
Behauptungen auch schlicht auf methodischen Fehlern.

Bis in die 70er Jahre wuchs die Produktivität
der industrialisierten Volkswirtschaften wesentlich
stärker als heute -- und zwar bei wachsender
Beschäftigung. Rationalisierung bietet _keine_
Erklärung für Arbeitslosigkeit. Arbeitslosigkeit
bildet vielmehr einen integralen Bestandteil
der kapitalistischen Produktionsweise. Sie
diszipliniert die Arbeit und drückt ihren Preis.
Vollbeschäftigung ist kein Systemziel und ihr
Fehlen deshalb auch kein Indiz einer
systembedrohenden Krise. Die Jahre der
Vollbeschäftigung nach dem Krieg waren einer
speziellen mokroökonomischen und vor allem
politischen Konstellation geschuldet. Heute
sorgt schon die Politik der Zentralbanken
dafür, daß ein Aufschwung nicht in
Vollbeschäftigung ausartet...

Der Kapitalismus wird nicht zusammenbrechen
weil ihm etwa die Arbeit ausginge. Die
Analyse der Kurzianer greift hier zu kurz.
Vielleicht sollte ich hier auch auf die kritische
Auseinandersetzung mit den Thesen der Krisis-Gruppe
hinweisen, die in letztewr Zeit in Periodika wie
Konkret und Jungle World stattfand.


2. Die Digitalisierung...

Die Neigung, dem Internet und ganz allgemein
der Digitalisierung unglaubliche Wirkungen
zuzuschreiben ist ungebrochen und führt zu
einem Verlust analytischer Schärfe.

Ich nehme mal als Beispiel den schon erwähnten
Aufsatz von Gundolf S. Freyermuth, dessen Tenor
ja auch in Stephans Text Eingang gefunden hat:
Er enthält kein einziges nachprüfbares Argument
dafür, daß die aktiven Alten eine Folge der
Digitalisierung wären. Die angeführten Beispiele
betreffen alle Personen, deren Alterstätigkeit
in keiner Weise durch das Internet oder dgl.
ausgelöst worden ist.

Die Gründe für Altersarbeit liegen doch woanders:
erstens darin, daß die Leute heute im Schnitt recht
lange leben und dabei auch noch einigermaßen gesund
bleiben, zweitens darin, daß sie das berechtigte Bedürfnis
haben, sich zu betätigen und drittens darin, daß sie das
oft auch finanziell gut brauchen können. Das trifft
vor allem auch auf die USA zu, wo die (meisten) Löhne seit
den 70ern real gefallen sind und ein gewisser
Lebensstandart deshalb mehr Arbeit erfordert
(die Arbeitszeit der US-Amerikaner steigt seit
über dreißig Jahren an). Auch das kein Indiz für ein
Ende der Arbeitsgesellschaft. Dazu kommt natürlich
noch der spezifisch nordamerikanische
Puritanismusfaktor: Müßiggang oder gar noch
sein Genuß gelten in den USA eben als frivol;
was in einem der Zitate in dem Artikel auch gut
zum Ausdruck kommt.

Daß sich unter den arbeitenden Alten überproportional
viele mit höheren Qualifikationen finden, spricht nicht
gegen die Vermutung der wirtschaftlicher Motive:
Solche Leute haben meistens auch entsprechend höhere
Ansprüche und auch eher die Möglichkeit, eine angemessene
Alterstätigkeit zu finden, die sie auch ausüben können.
Zudem werden ärmere Leute früher krank und
sterben auch früher; weshalb sie als Altersarbeiter
(relativ) seltener auftreten. Daß Freyermuth darüber
hinaus mit ziemlich schiefen und von wenig Sachkenntnis
getrübten Argumenten die Rente als eine
abschaffenswerte Form von sozialstaatlicher Bevormundung
darstellt, ist nur zynisch.

Völlig verfehlt ist es, sich von der Digitalisierung
die Aufhebung der Entfremdung zu versprechen. Zunächst
ist zu bedenken, daß die Arbeitsplätze, an denen die
behauptete Bereicherung durch Digitalisierung stattfinden
mag, immer in der Minderheit bleiben werden. Das Heer
der Reinigungsleute, Klempner, Maurer, Beton- und Stahlbauer,
Köche, Kellner, Krankenpfleger, Masseure, Kindergärtner, Verkäufer,
Taxifahrer, Telefonisten und was es sonst noch für nützliche
Berufe geben mag, die auf absehbare Zeit von Rationalisierung
weitgehend verschont bleiben werden und mit Digitalisierung
sowie ihren mehr oder weniger attraktiven Segnungen
nichts am Hut haben, wird das der sog. Knowledge worker
immer weit übertreffen. Eine gesellschaftliche Perspektive,
die nichts bietet für die zahlenmäßig weit gewichtigere
Menge von Menschen, die die physischen Voraussetzungen
für das Agieren der Professionals schaffen, finde ich nicht
besonders anziehend -- um das Mindeste zu sagen.

Des weiteren ist es doch schlichter Selbstbetrug, immer
nur davon zu reden, wie kreativ, selbstbestimmt, etc.
die Jobs der Informationsindustrie wären. Ein großer Teil
davon ist doch genau das Gegenteil: Das sind z. B. ziemlich
strikt reglementierte Codieraufgaben mit engen Vorgaben.
Wie künstlerisch ist es, das x-tausendste GUI zusammenzuklicken?
Wie selbstbestimmt arbeiten Leute, die hauptsächlich
damit beschäftigt sind, auf Tausenden von PCs die neuen
Releases von Windows und Office aufzuspielen?
Wie kreativ ist es, gleichförmige HTML-Seiten
zu füllen oder Internet-Bestellungen zu bearbeiten?
Ist eine Scheißarbeit keine Scheißarbeit mehr,
weil sie für einen gehypten .com-Laden stattfindet?
Die Bezeichnung Knowledge worker halte ich ohnehin
für irreführend. Mit Wissen haben die einschlägigen
Beschäftigungen in der Informationsindustrie höchstens
am Rande zu tun.


Was quer durch die Wirtschaft stattfindet ist die Ausdehnung
des Arbeitstages und sein Vordringen in die sogenannte Freizeit
hinein. Viele Freizeitbetätigungen -- bestes Beispiel:
Arbeit an freien Softwareprojekten -- sind im Grunde
Fortsetzungen der Berufstätigkeit und haben meist auch
die Funktion diese zu befördern. Das alles sind btw keine
Indizien für das Ende der Arbeitsgesellschaft.
Sollte man tatsächlich einen interessanten Job haben, der
einem relativ viel Freiheit bzw. Entfaltungsmöglichkeiten
bietet und dadurch zur Identifikation einlädt, liegt darin
natürlich auch ein Problem, weil darunter meist die anderen
Interessen, die man noch hat und vor allem die sozialen
Beziehungen leiden (ich hab da so meine Erfahrungen...).
Die Grenze zwischen Privatsphäre und Arbeit aufzuheben
erscheint mir als ein höchst ambivalenter Vorgang, über
den ich nicht unbedingt in Jubel ausbreche. Ich vermute
eher, daß das die Entfremdung verschärft.

Der Begriff der Entfremdung ist bei Marx (anders
als z. B. bei Fromm) nicht psychologisch gefaßt.
Bei Marx bedeutet Entfremdung: Indem der Arbeiter
sich verausgabt, vergrößert er damit nur die ihm gegenüber
stehende Macht des Kapitals. Der Zusammenhang seiner Arbeit
tritt ihm als fremder Zusammenhang von Sachen entgegen
und er selbst wird zu einer Sache neben anderen Sachen.
Das findet auch statt, wenn ihm die Verausgabung
(vorläufig) Spaß macht.


3. GPL-Gesellschaft

Gerade kam der Beitrag von Pit rein und ich bin ihm
sehr dankbar für dieses klare Wort, das mir im folgenden das
Gefühl vermittelt, mich nicht allein unbeliebt zu machen.
Der Kapitalismus als These und GNU/Linux als Antithese?
Das erste, was mir dazu auf die Lippen kommt ist eine
zarte Bitte: Geht es nicht (wenigstens) eine Nummer kleiner?

Ich kann beim besten Willen nicht erkennen, wie aus der GPL
die Grundlage einer nachkapitalistischen Gesellschaft zu
basteln wäre. In der GPL ist kein einziges der Probleme
angesprochen, die sich einer solchen stellen würden. Die
GPL ist zudem auch keinesfalls systemsprengend sondern
höchstens systemirritierend. Natürlich kann der Kapitalismus
mit freier Software leben. Er lebt auch mit freien Straßen
und freier Luft. Ganz allgemein ist die Aufhebung des
Copyrights ohnehin eine zweischneidige Sache. Wenn
Information nichts mehr kostet, bemächtigen sich ihrer
diejenigen, die es sich leisten können, Kostenloses
als Vektor für ihre Botschaften zu produzieren.

In dem Begriff der GPL-Gesellschaft findet, wie Pit
zutreffend feststellt, eine methodisch völlig ungedeckte
Induktion auf einer lächerlich schmalen empirischen Basis
statt.

Mir fehlt die Zeit auf die Einzelheiten einzugehen. Doch
scheint mir ein wichtiger Hintergrund der in dem Papier
ausgebreiteten Spekulationen in einem unreflektiert
gebliebenen digitalen Platonismus zu liegen: in dem
Glauben, man könne alles, jedes Ding, jeden Effekt
herstellen, wenn man es einmal auf sein digitales Urbild,
d. h. seinen Algorithmus reduziert habe. Man brauche dann
nur noch eine "Universalmaschine" und schon seien alle
Probleme des menschlichen Stoffwechsels gelöst. Dieser
Ansatz hat sehr viel mit Kabbalistik, Alchemistenküche
und Science Fiction, doch (wie das ganze algorithmische
Technikverständnis) sehr wenig mit realer Technik zu tun.

Informationsverarbeitende/speichernde/übertragende Artefakte
verfügen über ein abgeschlossenes Spektrum von inneren Zuständen
und über ein Arsenal von mehr oder weniger automatischen
Vorrichtungen bzw. Abläufen um diese Zustände zu manipulieren.
Der menschliche Intellekt vermag diesen Zuständen und ihren
Transformationen Bedeutungen zuzuordnen. In ihrer Anwendung geht
es um die Manipulation und semantische Aufladung eines gegebenen
Artefakts.

In der Technik geht es jedoch darum, neue Artefakte
herzustellen, d. h. einer rohen, meist ganz anders und eher
widerständig strukturierten Materie ein neues Funktionsschema
(das selbst erst in der konkreten Auseinandersetzung mit den
Dingen und Bedürfnissen zu entwickeln ist)
aufzuprägen. Das ist nicht auf Blaupausen reduzierbar oder
gar auf irgendwelche Algorithmen, sondern verlangt die konkrete
stoffliche und gesellschaftliche Beherrschung von Prozessen.
Die Kompetenz z. B. eines Automobilherstellers besteht zum
geringsten Teil in irgendwelchen Konstruktionsplänen sondern
in genau dieser Prozeßbeherrschung. Das hat in der Tat sehr
viel mit Herrschaft zu tun und die Frage, welche
Emazipationsperspektiven es hier gibt und wie man jenseits
des Marktes Bedürfnisse -- die ja durchaus divergieren
können -- und Produktion koordiniert, ist durch ein paar
ungedeckte Extrapolationen nach der Devise
"wir machen das wie bei Linux"
beim besten Willen nicht zu lösen.

Dazu gäb's noch eine Menge mehr zu sagen;
wozu mir jetzt die Zeit fehlt.
Vielleicht können wir bei Gelegenheit weiter diskutieren.

Gruß, Rainer






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