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[ox] Ahnung und Bewusstsein (war: Re: Ehrenamt und Tauschwert)



Hi Sabine und Listige,

am 1.8. schrieb Sabine unter "Re: Ehrenamt und Tauschwert 
(was: Re: [ox] Zu allem etwas (-D))"
zunächst etwas zur Frage des Subjekts der Geschichte:

Die Ansätze der Selbstentfaltung über den Spaß sind
sozusagen sekundäre Effekte. Aber sie sind da, werden
gespürt, und es entsteht eine Ahnung von Power, wie
auch Stefan Mn. meinte. Keiner der Entwickler spricht
von Selbstentfaltung, sondern von Spaß, gutes Produkt,
tolle Art zu Lernen etc. Das ist meine Art der
Versprachlichung dessen, was ich meine, was da abgeht.

Gut, das habe ich verstanden. Dennoch kurz dazu: 
"..sekundäre Effekte. Aber sie sind da, werden gespürt, und
es entsteht eine Ahnung von Power..." - Dies Gefühl...das
ist doch erst mal eine Wahrnehmung, deren Konsequenzen
verschiedene Richtungen einnehmen können...
Allgemeinplatz...und um nun ins konkrete zu gehen: wie
sich diese Wahrnehmung niederschlägt, welche Richtung
sie also einnimmt, das hängt sehr von ihrer konkreten,
historischen Wirklichkeit, also von den gegenwärtigen
Produktionsbedingungen ab, weil doch das was *ist*, jenes
bestimmt, was kommt und nicht umgedreht, gell....
umgedreht müßten die Entwickler auf Basis ihrer
Wahrnehmung von "Power" und so, ein Bewußtsein
entwickeln, was sich wiederum auf die Praxis ausübt...nun
weiß ich von den Linux/OS-Entwicklern wirklich zu wenig,
aber mein Eindruck von der Konferenz war nicht dergestalt,
dass wir es hier mit Menschen zu tun haben, die sich ihrer
Sache bewußt sind/werden und solange das nicht so ist, ist
diese "Sache" auch nicht existent...sondern Projektion von
Menschen, die es gerne so hätten...na, bißchen
durcheinander, nicht? 

Ich meine drei Fragenkreise zu erkennen:
1. Ist die geahnte "Sache" *da* oder nur Zuschreibung?
2. Wie wird aus Ahnung Bewußtsein?
3. Wovon hängt die Richtung der Entwicklung ab?

Zum Beantworten brauche ich zwei Voraussetzungen:
A. Individuelles Handeln: Menschliches Handeln ist nicht
determiniert, sondern frei - klarerdings im Rahmen der
Bedingungen. Die Bedingungen sind nicht unmittelbare
Handlungsauslöser etwa analog zum Computerprogramm:
if Bedingung then Handlung, sondern sie sind die Prämissen
unseres Handelns. Kurz: Handeln ist nicht bedingt, sondern
begründet (und über Gründe läßt sich trefflich streiten, denn
sie sind subjektiv). 
B. Geschichte: Begründetes Handeln der Individuen
bedeutet gesellschaftlich nicht Beliebigkeit der historischen
Entwicklung. Gründe sind immer auch potentiell gemeinsame
Gründe oder Interessen, die kollektiv überindividuell
wirksam werden - immer in Auseinandersetzung mit den
Bedingungen, die wiederum durch das Handeln verändert
werden. Der durchschnittlich-gesellschaftliche Effekt des
Handelns bringt gesellschaftlich historisch-logische
Entwicklungsformen hervor, die rekonstruierbar und
- versuchsweise - antizipierbar sind.

Zu 1.: Ist die geahnte "Sache" *da* oder nur Zuschreibung?
Eine Frage der Erkenntnis. Mit A. sage ich nun, daß Verhalten
von Individuen *von außen* nicht ergründbar ist (auch wenn
traditionelle Psychologie genau das versucht). Anders auf
überindividueller, gesellschaftlicher Ebene: Hier kann ich
Entwicklungslogiken rekonstruieren, so ich über die
angemessenen analytische Zugriffe verfüge. Dabei kann ich
Fehler machen, aber prinzipiell ist ein Erkennen möglich
auch ohne eine bewußte Versprachlichung durch die Akteure.

Zu 2. Wie wird aus Ahnung Bewußtsein?
Will ich da auch individuell ran, dann kann nicht das nur
_mit_ den Akteuren machen, oder es _selbst_ machen (sofern
ich Akteur bin), jedenfalls nicht *von außen*. Wenn das
Erkennen über "Spaß", "Lernen" etc. hinaus gehen soll, also
Allgemeines im Besonderen erkennen will, dann geht das nur
über das gemeinsame Entwickeln der oben genannten
analytischen Begriffe. Bewußtwerden ist folglich eine Art
Selbsterkenntnis mit Hilfe angemessener Denkmittel.

Zu 3. Wovon hängt die Richtung der Entwicklung ab?
Du schreibst "...weil doch das was *ist*, jenes bestimmt,
was kommt und nicht umgedreht... ". Kommt drauf an, was
Du mit "bestimmt" meinst. Wenn Du das im Sinne von
Voraussetzungen für die weitere gesellschaftliche
Entwicklung meinst, dann ok. Wenn Du das aber im Sinne
einer Determination unabhängig vom Handeln der Menschen
siehst, dann nein. Wieso "nein", wo ich doch von historisch-
logischen Entwicklungsformen sprach? Das hängt vom
Abstraktionsgrad ab, also von der Ebene der
Verallgemeinerung, auf der jedes Besondere im Allgemeinen
aufgehoben ist. Finde ich diese Ebene, dann habe ich ein
wirkungsvolles Analyseinstrument in der Hand (letztlich
dreht sich Wissenschaft genau um ein solches Finden, auch
wenn das oft *nicht bewußt* ist). Ich selbst, das hast Du
ja nun schon zur Genüge mitbekommen, bringe den
analytischen Begriff der Produktivkraftentwicklung ein.
Mit diesem Begriff meine ich ich gesellschaftliche
Entwicklungslogik überindividuell darstellen zu können,
in die die Besonderheiten (wie Linux - puh, der Bogen ist
endlich da!) schadlos eingehen können. Und mit dem
Begriff meine ich dann auch Richtungen der Entwicklung
erkennen zu können. Jetzt habe ich die Frage nicht
inhaltlich, sondern nur erkenntnistheoretisch beantwortet,
aber dabei belasse ich es jetzt. Inhalt wäre konkret
*Toyotismus* mit seiner Entwicklungslogik, dazu ist auch
noch eine Frage von Dir, Sabine, offen. In den nächsten
Tagen, jetzt erst mal ein Punkt.

Etwas länglich geworden, aber es gibt ja noch die
freundliche <DEL>-Taste, gell ;-)

Bye,
Stefan

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  Stefan Meretz, Duesseldorf
  Web: http://www.kritische-informatik.de
  stefan.meretz kritische-informatik.de
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