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Message 02434 [Homepage] [Navigation]
Thread: choxT02434 Message: 1/5 L0 [In date index] [In thread index]
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[chox] kontrovers: Stalker des Originals




Geistiges Eigentum schützt die laufende Avantgarde der Kultur und der Technik

Sie waren die Franzosen der Antike, die Sybariten: Liebhaber des guten Lebens und der erlesenen Küche. Noch heute bezeichnet man jene, die sich voll dem Genuss hingeben, als sybaritisch - man muss viel für seine Lebensart tun, wenn einem noch 2000 Jahre später ein solch einschlägiger Ruf nachhallt. Und in der Tat, sie haben es sich nicht nur gut gehen lassen, die großgriechischen Sybariten, die seit dem achten vorchristlichen Jahrhundert in Süditalien eine blühende Kolonie aufbauten, sie wussten auch, dass nichts von selbst kommt, schon gar nicht Einfallsreichtum und Originalität. Darum ließen sie den Meistern der feinen Küche, weil diese ihnen besonders am Herzen lagen, einen eigenen Schutz angedeihen. "Wenn ein Koch", so überliefert es Athenäus, "wenn ein Koch ein köstliches Gericht erfunden hatte, dann sollte es keinem anderen vor Ablauf eines Jahres gestattet sein, von dieser Erfindung Gebrauch zu machen, nur dem Erfinder selbst. Während dieser Zeit sollte er allein den geschäftlichen Gewinn davon haben, damit die anderen sich anstrengten und wetteifernd sich in solchen Erfindungen zu übertreffen suchten".

So kommt es zu dem Kuriosum, dass nicht auf dem Gebiet des Ackerbaus und der Viehzucht, des Tempelbaus oder auch der Waffentechnik historisch zum ersten Mal geistige Leistungen geschützt wurden, sondern dort, wo es um nichts ging als die Verfeinerung der Geschmackssinne. Wer weiß, wie es um die Friedfertigkeit und Lebenskünste der menschlichen Gattung stünde, hätte sich das Wetteifern um geistiges Eigentum vornehmlich hier weiterentwickelt.

Es kam anders, vor allem aber blieb es, wie bei den Sybariten, für viele Jahrhunderte, ja bis weit in die Neuzeit der Willkür der Herrscher überlassen, ob und welchen geistigen Schöpfungen hoheitlicher Schutz zuteil wurde; stets war er die absolute Ausnahme. Wenn Kaiser Karl V. Albrecht Dürer zugestand, in die Niederlande zu reisen, um dort gegen gewerbliche Fälschungen seiner Kupferstiche vorzugehen, dann war dies eine exzeptionelle Gunstbezeugung, ein mäzenatisches Privileg, das nur dokumentiert, wie machtlos die Kulturschaffenden dem Treiben von Herrschaft, Märkten und Konkurrenten ausgesetzt waren.

Ungeschützte Höhenflüge

In allen Kulturen dieser Welt war es die Regel, technische Erfindungen beliebig nachzuahmen, künstlerische Werke zu kopieren und in jedweder abgeänderten oder verstümmelten Form zu verbreiten, ohne dass die Urheber oder Erfinder nennenswerten Einfluss darauf hatten. Eike von Repgow, dem Verfasser des "Sachsenspiegels", blieb nichts anderes, als jedem, der sein Werk verfälschte, den Aussatz auf den Hals zu wünschen. Bis das Zeitalter der Aufklärung überhaupt erst den Begriff des "geistigen Eigentums" ausformulierte und bis dann mit der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts der Schutz technischer Erfindungen nach und nach systematisiert wurde, musste das Geistesleben ohne substantielle Urheberrechte auskommen - was all die künstlerischen und intellektuellen Höhenflüge während dieser langen Vorgeschichte des geistigen Eigentums bekanntlich nicht verhindert hat.

Wer daraus aber schließt - und das tun ja inzwischen immer mehr -, dass man getrost auf das Urheberrecht, ja auf das gesamte "intellectual property" mit seinen Wissensmonopolen verzichten könne und damit alle Probleme des Raubkopierens loshätte, hat die evolutionäre Bedeutung des geistigen Eigentums für den heutigen Individualismus nicht verstanden. Vor allem aber verkennt er die Kreativitätsstruktur der Moderne.

Diese wird nicht, auch wenn dies stets so kolportiert wird, von Wissen geprägt (die "Wissensgesellschaft"), sondern von dem Verlangen nach Mehr-Wissen - nach Wissensvorsprung, Originalität, Neuerfindung und kreativer Einzigartigkeit. Je mehr Wissen zum Allgemeingut wird, desto stärker wird die Moderne und ihr Markt von der Wissensdifferenz angetrieben. Und nur diese Schöpfungsdifferenz ist es, die rechtlich geschützt wird - geschützt ist nicht die wissenschaftliche Kompetenz, nicht die Rationalität, nicht die Information, geschützt ist allein das originelle Werk, die neue Melodie, das neue Design, die neue Erfindung. Das Recht des geistigen Eigentums ist auf laufende Avantgarde eingestellt und auf sonst nichts.

Das ist die eigenwillige Konstruktion der Moderne: Wissen ist ihr wichtigstes öffentliches Gut, doch das jeweils neue Wissen wird als Privatgut entwickelt und künstlich verknappt und erst nach einer bestimmten Verwertungsfrist seinerseits zum öffentlichen Gut, und so fort. Der Kapitalismus gründet also auf einem Ideenkommunismus, der laufend aus der Quelle privatisierter Ideen gespeist wird. Ausgerechnet diese Kippschaltung, dieser zwischen öffentlicher und privater Wissenszuordnung hin und her springende Stoffwechsel scheint die größte Produktivität auszulösen.

Weltfremde Bilanz

Wenn darum jetzt die Staatschefs der G-8-Staaten sich einmal mehr den Kopf darüber zerbrechen, wie die weltweite Flut von Raubkopien und Patentverletzungen einzudämmen ist, dann gehört dies zu den elementaren Desideraten produktiver Entwicklung. Gegen den Machtmissbrauch marktbeherrschender Rechteinhaber - in der Kulturindustrie ebenso wie auf dem Pharma- oder dem Agrarmarkt - ist massive Kritik angebracht, doch nichts wäre dümmer, als das Kind mit dem Bade auszuschütten.

Selbst die meisten Raubkopierer wissen nur allzu gut, was ihnen die Existenz des Originals wert ist. Beim Patent ist es offensichtlich, beim Kauf der Kopie einer Louis-Vuitton-Tasche nicht weniger, ebenso beim illegal heruntergeladenen Musikhit aus den Charts - nichts geht ohne die Aura des Originals. Ein aberwitziges Phänomen bringt es in schönster Weise auf den Punkt: Eine Website wie Youtube, die in großem Stil illegal kopierte Filmsequenzen bietet, wird legal für anderthalb Milliarden Dollar verkauft. Wer je daran zweifelte, dass gerade das Raubkopieren die Wertschätzung privaten geistigen Eigentums bekräftigt, der sieht es hier. Der Raubkopierer ist der öffentliche Verächter und der heimliche Verehrer des Urhebers, um nicht zu sagen: Er ist der Stalker des Originals.

Allerdings ist der wirkliche Umfang des globalen Schwarzhandels mit geistigem Eigentum höchst unklar. Verbreitete Schätzungen besagen, dass den Rechteinhabern weltweit jährlich ein Schaden von mindestens 100, vermutlich sogar von 500 Milliarden Euro zugefügt werde. Doch selbst derlei seriöse Rechnungen kranken an dem Gedankenfehler, dass der Schaden danach bemessen wird, welchen Preis die Erwerber der illegalen Ware hätten zahlen müssen, hätten sie diese legal gekauft - eine weltfremde Bilanz.

Denn natürlich würden die meisten Kids die Musiktitel nicht erwerben, müssten sie den Ladenpreis zahlen, und natürlich würden die chinesischen oder afrikanischen Sweatshops die teuren Patente nicht verwenden, müssten sie Lizenzgebühren entrichten. Abgesehen davon entstehen in den Schwellenländern oft erst mit Hilfe solcher illegal genutzter Patente und Gebrauchsmuster Unternehmensgrößen und Märkte, die dann ihrerseits in die Lage kommen, am legalen Lizenzgeschäft teilzunehmen.

Trotzdem ist der Schaden ohne Zweifel riesig, und er nimmt weiter gewaltig zu. In den letzten acht Jahren hat sich die Menge der in Europa aufgedeckten Fälschungen verzehnfacht, allein im letzten Jahr hat sich der Wert der in Deutschland ermittelten Plagiate gegenüber dem Vorjahr vervierfacht. Hier stammt jedes dritte Plagiat aus dem Reich der Mitte, in den USA sind es vier Fünftel, umgekehrt kommt aber auch jedes zehnte Plagiat bei uns aus Nordamerika.

Experten behaupten, dass das Geschäft mit gefälschten Waren höhere Profite abwerfe als das Drogengeschäft - bei sehr viel geringerem Risiko, bestraft zu werden. In der Tat, immer genialere Patente und Software, neue Filme, Musik und Marken, das sind die ubiquitären Suchtmittel der kreativitäts- und fortschrittsbesessenen Gegenwart. Jeder, auch der Ärmste, will Anteil an der modischen und technischen Avantgarde haben. Besser mit den Schwarzmärkten dieser Sucht kämpfen als mit den echten Drogen. ANDREAS ZIELCKE

Quelle: Süddeutsche Zeitung
Nr.124, Freitag, den 01. Juni 2007 , Seite 13
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